Unter Vorbehalt – Ein Gespräch über Literaturveranstaltungen in der Corona-Krise

Emily Grunert, Ludwig Lohmann und Alexander Graeff organisieren Literaturveranstaltungen in verschiedenen Einrichtungen. Wie die meisten Veranstalter*innen in ganz Deutschland mussten auch sie Anfang März lange geplante Lesungen, Festivals und Gesprächsreihen absagen, verschieben oder ins Internet verlagern. Wie geht man mit dieser Situation um? Ist der virtuelle Raum für alles die Lösung und was heißt eigentlich „Literatur als soziale Praxis“? Darüber haben wir von 54books mit den drei gesprochen.

 

54books: Emily, Alexander, Ludwig, ihr seid Literaturveranstalter*innen in unterschiedlichen Häusern. Vor welche Schwierigkeiten stellt euch die aktuelle (Corona-)Situation, erst der verordneten Kontaktbeschränkung und nun ihrer schrittweisen Lockerung?

Alexander: Die größte Schwierigkeit ist die Planungsunsicherheit und die allgemeine Ungewissheit. Das betrifft das Programm in der Brotfabrik, das laut einer aktuellen Verlautbarung des Berliner Senats wahrscheinlich erst nach dem 31. Juli wieder einsetzen darf. Es betrifft mich aber auch als freier Kurator. Am schmerzlichsten war jüngst die Absage einer lange vorbereiteten und für Mai geplanten Ausgabe der Lesereihe Schreiben gegen die Norm(en)?, die ich kuratiert habe und die in der Buchhandlung ocelot hätte stattfinden sollen.

Ludwig: Als Veranstalter dort in der Buchhandlung ocelot plane ich normalerweise mit einem halben Jahr Vorlauf. Das heißt, als die Pandemie Deutschland erreichte, stand unser Programm bereits bis zur Sommerpause im Juli/August fest. Dass die Reihe Schreiben gegen die Norm(en)? im ocelot im Frühjahr 2020 stattfinden soll, haben Alexander und ich bereits im Herbst 2019 besprochen. Die aktuellen Entwicklungen erforderten nun, diese und andere Veranstaltungen schrittweise abzusagen, immer in engem Kontakt zu Verlagen, Autor*innen und anderen Kompliz*innen. Inzwischen herrscht aber für die nächsten zwei Monate Klarheit: Aktuell dürfen in Berlin bis Ende Juli keine Veranstaltungen stattfinden (laut der Verordnung des Berliner Senats vom 21. April 2020). Das ist natürlich extrem schade, aber das gesundheitliche Wohl aller Beteiligten geht beim Veranstalten immer vor. Besonders in dieser Situation. Interessant wäre nun die Frage, was man mit den abgesagten Veranstaltungen macht: Verlegt man sie ins Internet oder sucht man nach neuen Terminen im Herbst? Wie geht ihr damit um?

Emily: Ich würde mich anschließen, das größte Problem ist sicherlich die Planungsunsicherheit. In den ersten Wochen war ich beinahe ausschließlich damit beschäftigt, Termine in den Herbst zu verlegen. Aber niemand weiß, ob diese Nachholtermine umgesetzt werden können. Noch nie habe ich in Mails so häufig den Zusatz “unter Vorbehalt” gelesen. Wir versuchen uns im Literaturhaus Rostock an einzelnen digitalen Veranstaltungen, aber unsere regulären 4-6 Veranstaltungen im Monat kann das natürlich nicht ersetzen. Es ist eher ein Versuch, sichtbar zu bleiben. Für die meisten Veranstaltungen entwickeln wir zeitgleich auch digitale Alternativen. Im Netzwerk der Literaturhäuser – zu dem auch das Literaturhaus Rostock gehört – wurde die Aktion #zweiterfruehling ins Leben gerufen, die ich persönlich sehr sinnvoll finde. Vertreter*innen des Literaturbetriebs und des Feuilletons, der Literaturhäuser und der Buchhandlungen erklären damit, dass sie die Frühjahrstitel, die größtenteils kaum Resonanz erfahren haben, bis zum Frühjahr 2021 in ihren Programmen präsent halten.

Alexander: Literatur als Begegnung im sozialen, analogen Raum lässt sich durch digitale Formate weder ersetzen noch virtuell simulieren. Live-Streaming-Formate, die ja momentan voll im Trend liegen, funktionieren vielleicht bei Einzellesungen noch, bei Veranstaltungen, die einen soziokulturellen Anspruch haben, bei denen mehrere Personen lesen usw., geht das nicht. Hier braucht es nach wie vor das Erlebnis, die Begegnung und den Austausch. Literatur als soziale Praxis! – dafür haben wir in den letzten 15 Jahren gekämpft, und es wäre doch schade, wenn das durch die coronabedingte Digitalisierung wieder verschwinden würde. Bei Schreiben gegen die Norm(en)? haben wir uns zwar auch für eine Social-Media-Kampagne entschieden mit kurzen Videos, in denen die Autor*innen ihre Texte lesen, aber das dient als Beiwerk, um die Absage der Lesung transparent zu machen und beizeiten auf den Nachholtermin im Winter hinzuweisen. In der Brotfabrik haben wir uns nahezu komplett gegen ein digitales Ersatzprogramm entschieden. Auch hier sind die paar digitalen Formate, die wir machen, nur werbemäßige Ergänzung, kein Ersatz der Real-Life-Veranstaltungen.

54books: Was leisten digitale Formate wie Live-Streaming-Lesungen und was neue Online Festival-Formate? Ist die Wasserglas-Einzellesung nach Corona nun endgültig Geschichte, weil das ja theoretisch jede*r von zuhause per Stream machen kann?

Alexander: Die Ironie der Geschichte ist ja, dass sich jetzt schon eine Art Übersättigung seitens Zuschauer*innen von Online-Formaten einstellt, jetzt, wo alle endlich digitalisiert sind. Der Hype der ersten Wochen, der vor allem vom VIRAL-Festival gut genutzt wurde, schwächt sich ab, habe ich den Eindruck. Klare Voraussagen kann man aber auch nicht machen, vieles ändert sich ständig, auch die Nachfrage nach Online-Formaten. Große Festivals wie das Poesiefestival in Berlin, die Anfang April schon ihre Veranstaltungen abgesagt haben, könnten das Problem bekommen, dass Menschen jetzt wieder draußen sind und weniger im Netz Lesungen schauen. Und doch könnte eine Online-Einzellesung, die die Autor*innen in ihrem privaten Habitat zeigt, durchaus eine gewisse Konkurrenz zur Real-Life-Einzellesung werden; ungezwungener und persönlicher sind sie allemal (und das fehlt oft im Real Life).

Ludwig: Ich würde digitale Veranstaltungsformate gar nicht gegen analoge ausspielen. Eine Lesung – digital und analog – erzeugt Aufmerksamkeit für Autor*innen und einen Text, also für eine künstlerische Verarbeitung einer bestimmten Idee. Sie ist ein Ereignis, bei dem zum einen eine bestimmte Inszenierungspraxis sichtbar wird und zum anderen ein Gespräch über das Dargebotene entsteht. Bei physischen Veranstaltungen kommt man bei Weißwein ins Gespräch, unter den VIRAL-Videos entstehen hochinteressante Kommentarverläufe. Veranstaltungen vor Ort erreichen das Publikum einer Stadt, digitale Formate sind potenziell global rezipierbar. Und wir als Veranstalter*innen müssen für beide Formate kreative Marketingideen nutzen, um die Zielgruppe bzw. die Community zu aktivieren. Eine physische Wasserglaslesung kann genauso floppen und genauso schlecht sein, wie eine digitale. Ich glaube daher nicht, dass eine Inszenierungsform qua Technik zukunftsfähiger ist, sondern dass digitale Formate analoge in Zukunft ergänzen und den Literaturbetrieb damit bereichern werden.

Alexander: Ich würde zustimmen, analoge und digitale Formate sind nicht vergleichbar. Vor allem nicht, wenn man Literatur auch als soziale Praxis begreift, dann entsteht sie in der Kommunikation und in der direkten Begegnung. Und die koppelt  sich immer zurück an Körper im Raum. Auch wenn die direkte Begegnung auch digital stattfinden kann, ist der daraus entstehende Effekt auf Produktion und Rezeption von Literatur ein anderer als wenn man sich gemeinsam physisch an einem Ort befindet. Der Bezug allein auf ein Objekt, die Simulation von Körpern im virtuellen Raum, erzeugt meines Erachtens etwas, das sich mit Literatur als sozialer Praxis nicht vergleichen lässt.

Ludwig: Alexander, wenn du sagst, Literatur sei nur dann eine soziale Praxis, wenn sie im direkten Austausch mit körperlicher Präsenz stattfindet, sprichst du der digitalen Kommunikation per se die Möglichkeit ab, Kunst zu sein oder die Wirkung von Kunst erzeugen zu können. Kommunikative Begegnungs- und Austauschprozesse sind doch im Internet genauso möglich.

Alexander: Ich sage nicht, Literatur sei ausschließlich soziale Praxis, ich sage, Literatur als soziale Praxis ist was anderes, erzielt andere Effekte, als digitale Kunst. Bei digitaler Kunst geht es eben nicht um Körper im Raum, sondern um was anderes, was ich aber keinesfalls schmälern möchte. Begegnungs- und Austauschprozesse sind natürlich auch im Internet möglich. Ich wehre mich bloß gegen die Vorstellung, dass Literaturveranstaltungen im digitalen Raum dasselbe entfalten könnten wie die im Real Life, denn das würde das Engagement der letzten 15 Jahre, die vielen grandiosen Lesereihen und performativen Literaturformate möglicherweise gefährden; insbesondere in Bezug auf ihre kulturpolitische Bedeutung, die hart erkämpft wurde.

Emily: Ich persönliche sehe in den digitalen Formaten erstmal eine große Chance zur Formaterweiterung und zur Produktion für die Nische bzw. den Special Interest Bereich. Für uns geht es in erster Linie darum, langfristig partizipative, digitale Formate zu entwickeln, die im analogen Raum so nicht denkbar wären (zumindest nicht abseits der großen Städte). Eine Verdrängung der klassischen Wasserglaslesung sehe ich hingegen nicht. Jetzt gerade konsumieren Kulturinteressierte diese im Netz (u.a. auch aus einem Mangel an Alternativen, vor allem im Literaturbereich). Sobald wir wieder veranstalten dürfen, wird es hingegen darum gehen, zu entscheiden, welche Formate im Internet grundsätzlich vielleicht besser aufgehoben sind als im analogen Raum. Gerade jetzt stecken wir ja noch in einer Experimentierphase.

54books: Wer wird in und nach der Krise sichtbar? Nur Personen der Mehrheitsgesellschaft? Erblüht das Patriarchat? Wie reagiert der Literaturbetrieb auf marginalisierte Gruppen? Oder anders gefragt: Mit welchen Impulsen und Veränderungen wollt ihr als Veranstalter*innen weitermachen, jetzt, in den nächsten Monaten und nach der Krise. Was wollt ihr verändern, was ihr immer schon mal ändern wolltet?

Ludwig: Ich denke, dass in der aktuellen Situation besonders jene sichtbar sind, die schon vorher verstanden haben, dass Internet zu bespielen. Die, die jetzt erst anfangen, sich digital zu inszenieren, haben das Nachsehen. Wer bereits über eine Community verfügt, über Follower-Zahlen und Abonnent*innen, kann jetzt mit digitalen Veranstaltungsformaten viel leichter erfolgreich sein. Interessant dabei ist, dass die Sichtbarkeit von digitalen Inhalten/ Veranstaltungen zurzeit nicht direkt an die Größe und den Einfluss etablierter Institutionen gekoppelt ist. Es gibt große Verlage, Literaturhäuser etc., denen es sehr schwer fällt, agil und wirkungsvoll mit eigenen Ressourcen digitale Formate an den Start zu bringen. Und dann werden eben Digital Natives für Kooperationen angefragt: Suhrkamp arbeitet mit dem sehr erfolgreichen Blogger Florian Valerius zusammen, das Literaturhaus Berlin nutzt die Community von Kabeljau und Dorsch, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die Frage, ob nun das Patriarchat erblüht, würde ich vor diesem Hintergrund allerdings klar verneinen. Schon allein aus dem Grund, weil der internetaffine (sprich, der jüngere) Teil des Literaturbetriebs weiblicher und diverser ist, als es der analoge je war.

Alexander: Mit Blick auf die Gesamtgesellschaft wird aufgrund der Krise nochmal deutlicher, wie stark alle gesellschaftlichen Bereiche patriarchal geprägt sind. Medial und sozial interessant und relevant sind doch gerade allein die Macher, die Wissenschaftler und Krisenmanager. Die Anderen, zu denen viele Minderheiten gehören, müssen zuhause bleiben, Kinder betreuen oder Förderanträge stellen. Alles was man z. B. in Sachen Kontakt- und Beziehungseinschränkungen von offizieller Seite findet, ist an der klassischen heteronormativen Kleinfamilie orientiert. Bezogen auf die Literatur kann ich aber schon auch mehr Empowerment wahrnehmen, durch digitale Formate, weil die eben in Kontexten geübt wurden, die bedeutend diverser sind als die etablierten Machtgefüge des Literaturbetriebs. Auch die Solidarität etwa mit Autor*innen, die jetzt im Frühjahr völlig untergegangen sind, scheint mir höher zu sein als sonst. Man könnte jetzt überlegen, woran es liegt, dass es sich dabei durchaus um ein Phänomen handelt, das sich auch ohne Corona einstellt. Diese kritische Hinwendung zu den Verwertungs- und Bewertungsstrukturen, die bei allem weiblichen, jungen, internetaffinen und diversen Einfluss auf den Betrieb ja nach wie vor patriarchal verfugt sind – und die nicht immer nur durch männlich gelesene Personen reproduziert werden –, wäre doch mal eine generelle Chance, wie man dem Gebilde “Literatur” kritischer begegnen könnte.

Emily: In erster Linie ist das Internet ein Raum mit relativ wenigen Zugangsbeschränkungen, somit haben grundsätzlich auch mehr Menschen die Chance, an den dort präsentierten Literaturangeboten teilzunehmen. Zumal beinahe alle in der Coronakrise entstandenen Kulturangebote, die ich wahrgenommen habe, (noch) ohne eine Bezahlschranke funktionierten. Ich glaube, dass sich in der jetzigen Situation die tatsächliche Diversität des Betriebs sehr deutlich zeigt. Nachdem das Internet von großen Institutionen lange nur zu Werbezwecken oder für die Zweitverwertung genutzt wurde, ist es in der jetzigen Situation eine Spielwiese für Formatideen. Diese kann die Generation der digital natives natürlich sehr viel leichtfüßiger und innovativer bespielen, da sie die Möglichkeitsräume des Digitalen bereits kennengelernt hat. Allerdings fürchte ich auch, dass der Anspruch an die technische Qualität von digitalen Produktionen in der Zukunft auch im Bereich Literatur weiter steigen wird. Und diese Qualitätssicherung ist dann wieder an die finanziellen Ressourcen der Institutionen oder Künstler*innen gekoppelt.

 

Emily Grunert, geboren 1992 in Mainz, arbeitet als Programmleiterin am Literaturhaus Rostock. 

Alexander Graeff, geboren 1976, freier Schriftsteller und Kurator. Leiter des Programmbereichs Literatur in der Brotfabrik Berlin sowie Initiator der Lesereihe »Schreiben gegen die Norm(en)?«.

Ludwig Lohmann, geboren 1985, ist Buchhändler und Veranstalter im »ocelot, not just another bookstore« und Gründer der Agentur für Literaturvermittlung »blauschwarzberlin«, lebt in Berlin.

 
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