Zwischen Würdigung, Banalisierung und Identifikation – NS-Opfer auf Instagram

von Antonia Kruse

Viele kleine Sterne, drei Herzen und ein Zitat: „Wie wunderbar ist es, dass niemand auch nur einen Moment zu warten braucht, bevor er beginnt, die Welt zu verbessern.“ Der Account ergänzt die Zitatkachel mit einer kurzen Kontemplation über ein glückliches Leben und heile Herzen. Mit 19 Hashtags findet der Beitrag seinen Weg in Instagrams dichte Bilderwelt, darunter: #erfülltesleben, #liebeliebeliebe, #heilwerden – und #annefrank. Das Zitat stammt aus dem berühmten Tagebuch jenes Mäd­chens, dessen Leben zu einem der bekanntesten Symbole für die Millionen Opfer des Holocaust wurde.

Auf der Weltbühne des Aktivismus

Von Anne Frank ist viel auf Instagram zu lesen. Folgt man dem Hashtag #annefrank, findet man, Stand 9.05.2023, insgesamt 353,035 Beiträge. Eine ver­gleichbare Präsenz, insbesondere auf deutschsprachigen Accounts der Social-Media-Plattform, hat der Name der NS-Widerstandskämpferin Sophie Scholl mit 15,489 Beiträgen. Mehr als 300 Beiträge mit dem Hashtag #sophiescholl wurden allein an­lässlich des 80. Jahrestags der Hinrichtung der Geschwister Scholl und Christoph Probst am 22. Februar 2023 auf Instagram veröffentlicht. Geschichtsvergessenheit scheint demnach eigentlich kein Thema mehr zu sein.

Angesichts solcher Zahlen feiern Medienwissenschaftler*innen wie Diana Popescu oder Mark Deuze, dass in den sozialen Medien eine neue Form der Teilhabe kultiviert werde, von der auch die Erinnerungskultur profitieren könne: um vernachlässigte Perspektiven sichtbar zu machen und ein vielstimmiges Korrektiv zu den klassischen memory agents wie Journalist*innen, Filmemacher*innen oder Gedenk­stätten zu bilden. Das Anne Frank Haus in Amsterdam findet die Fülle an Reaktionen, die von Anne Frank inspiriert werden, „lehrreich“. Und die Macher*innen des aufsehenerregenden Instagram-Projekts @ichbinSophieScholl sehen in der Plattform gar die neue „Weltbühne des Aktivismus“. Rettet Instagram also unsere Erinnerungskultur?

Zweifel erscheinen angemessen: Es gibt sie zwar – die gut recherchierten und gemäß wissenschaftlicher Standards aufbereiteten Informationen im Kachel-Format Instagrams – Accounts, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, das Wissen über historische Persönlichkeiten, Prozesse und Zusammenhänge in die sozialen Netzwerke zu übersetzen und dort zu diskutieren. Doch wenn man sich mithilfe der Hashtags #sophiescholl oder #annefrank auf die Suche begibt, fällt auf: Der Großteil der Inhalte gibt lediglich Zitate der beiden Frauen wieder. @mit_petra_neuewegegehen ist nur ein Account von vielen, der Anne Franks und Sophie Scholls Worte nutzt, um sie im Rahmen der Feel-Good-Ästhetik Instagrams zu teilen. Blumen, liebliche Naturbilder, Weichzeichner und Pastellfarben sind das visuelle Umfeld, in dem diese Zitate stehen.

Carpe Diem mit Anne Frank

In den sozialen Medien zählt der Moment, ein Like ist in erster Linie intuitiv und erfordert im besten Fall kein großes Engagement der Nutzer*innen. Wer auf die Beiträge reagieren soll, hat nur begrenzte Aufmerksamkeit – und bekannte Namen helfen. Sophie Scholl und Anne Frank sind fest im deutschen kollektiven Gedächtnis verankert, allein ihre Namen garantieren Assoziationen wie ‚Holocaust-Opfer‘ oder ‚Widerstandskämpferin im Nationalsozialismus‘. Das erklärt ihren praktischen Nutzen für die sozialen Medien. Die Namen strecken Deutungsschwere und ein Ansehen vor, das die Nutzer*innen nur noch für ihre Anliegen verwerten müssen.

Eine ausführliche Darstellung der konkreten Lebensgeschichte oder gar der Bedingungen der nationalsozialistischen Verbrechen wird durch Entkontextualisierung obsolet gemacht, die Feel-Good-Ästhetik der Beiträge ist ungebrochen. Anne Frank und Sophie Scholl werden der Geschichte enthoben und ihre Selbstzeugnisse in ein Archiv zeitloser Weisheiten in willkürlicher Nachbarschaft zu Zitaten von Winston Churchill, Mahatma Gandhi oder Muhammad Ali überführt. Eine naheliegende Antwort auf die Frage, warum gerade die Worte dieser beiden historischen Frauen so häufig auf Instagram auftauchen, lautet also: der hohe Bekanntheitsgrad Anne Franks und Sophie Scholls und ihre Verankerung im kollektiven Gedächtnis.

Es sind nur eine Handvoll Zitate der beiden Frauen, die in den Beiträgen immer wieder auftauchen. Neben Instagram findet man sie auch auf Sprüche-Seiten wie BrainyQuotes.com oder auf der Online-Pinnwand Pinterest. Die Zitate mögen sich wiederholen, doch die Kontexte, in die sie gesetzt werden, könnten vielfältiger kaum sein. So iso­liert ein Zitat vermittelt wird, so universell und möglichst widerstandsarm kann es vereinnahmt werden. Abstrakte und allgemeine Aussagen von Anne Frank und Sophie Scholl erfreuen sich daher besonders großer Beliebtheit. Fühlen sich viele Nutzer*innen angesprochen, steigt die Chance auf Likes. Erinnerung über Instagram wirkt zwar interaktiv, eine profunde Auseinandersetzung garantiert sie aber noch lange nicht.

Gerne tauchen Zitate von Frank und Scholl in gänzlich entpolitisierten Beiträgen auf, in denen es um ‚Lifestyle-Improvement‘ geht: Ihre Worte werden zur Selbsthilfe, zur Inspiration oder zum „Mutmachen“ bemüht. „Einfach mal zum Nachdenken“ entlässt der Account @highersoulmate ein Zitat Anne Franks in die digi­tale Welt und lädt dazu ein, „deine Selbstheilungskräfte✨“ zu entfalten und „deinen spirituellen Weg“ zu finden. Dieser Feel-Good-Charakter der Beiträge erscheint auf erschütternde Art unangemessen.

Die Beiträge wirken, als wäre ihr makabres Motto: ‚Diese Frauen konnten ihrem ‚Schicksal‘ nicht entrinnen, doch du kannst so viel aus deinem Leben machen – nimm es in die Hand und genieße es!‘ Und optional: ‚Kaufe dafür unser Produkt!‘ Denn natürlich lässt sich auf Instagram mittlerweile fast jeder Inhalt auch zu Geld machen. Kein Anlass scheint zu ernst, um zu einer Werbeanzeige zu werden. So fordert uns Sophie Scholls Ausruf „Schluss. Jetzt werde ich etwas tun!“ zu Weinkonsum und Frauenpower auf. Mit Anne Franks Satz „Papier hat mehr Geduld als Menschen“ wird uns die Verwendung von nachhaltigem Papier nahegelegt. Und dank ihrer Worte „Niemand ist je durch Geben arm geworden“ haben wir die Chance auf ein kostenloses Coaching zur „Förderung meiner Existenzgründungs­beratung“. Sophie Scholl und Anne Frank werden zu kontextoffenen Zitatspenderinnen, die Spuren ihrer Vergangenheit von Selbstdarstellung und Werbung aus dem Bild gedrängt.

Ikonen der Erinnerung

Um zu verstehen, wie Anne Frank und Sophie Scholl zu ihrem Platz im kollektiven Gedächtnis gekommen sind, lohnt sich noch ein kurzer Blick zurück. Der Holocaust-Forscher Oren Baruch Stier geht davon aus, dass das kulturelle Gedächtnis an den Holocaust von mehreren verdichteten symbolischen „Icons“ getragen wird. Als kon­krete Anknüpfungspunkte ermöglichen sie eine erleichterte Annäherung an die Komplexität der Vergangenheit, insbesondere an die Unvorstellbarkeit des Holocausts.

Fotografien, Statistiken, Relikte und eben auch Personen können diese Funktion einnehmen – sie sind prägnant, zugänglich und nicht überwältigend. Gleichzeitig stehen sie sinnbildlich für eine komplexere Konstellation von Ereignissen und Erzählungen. Wie etwa die Aussage der Widerstandskämpferin: „Steh zu den Dingen, an die du glaubst. Auch wenn du alleine dort stehst“, oder die Worte der im Versteck lebenden Jüdin: „Rad fahren, tanzen, in die Welt schauen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin, danach sehne ich mich.“ Für Baruch Stier bietet sich gerade Anne Frank als eine solche Ikone an: Ihre Erfahrung in der Zeit des Holocausts ist persönlich in ihrem Tagebuch vermittelt, der Einblick in ihr alltägliches Leben besonders nahbar für die Lesenden. Eine Möglichkeit, „das Fremde näher zu rücken“, wie der Historiker Wolfgang Hardtwig die Personalisierung von Geschichtsdarstellung nennt.

Das Fremde kann aber auch umso leichter zum Eigenen gemacht werden. Die geteilten Zitate von Anne Frank und Sophie Scholl nehmen höchstens Bezug auf einzelne Aspekte ihrer facettenreichen Persönlichkeiten. Sophie Scholl gilt als Antikriegsaktivistin und Verfechterin von Meinungsfreiheit, Anne Frank inspiriert als frühreifer Geist, als Tagebuchschreiberin oder als Optimistin. Wahlweise werden beide als Feministinnen bezeichnet. Das Problem dabei: Wo solcherlei Details hervorgehoben werden, werden andere Aspekte zwangsweise vernachlässigt. Diese hohe Selektivität ist für sich genommen schon ein Element der Fiktionalisierung, weiter verzerrt durch Perspektiven der Gegenwart.

Jana kommt nicht nur aus Kassel

Gerade aktuelle politische Zuschreibungen stecken den Deutungsrahmens der Zitate neu ab. Besonders deutlich lässt sich das an Jahrestagen beobachten: Anlässlich der Hinrichtung Sophie Scholls vor 80 Jahren wird ihr Widerstand von verschiedenen politischen Parteien und Gruppierungen unterschiedlich ausgedeutet: Die SPD München betont Scholls „Kampf gegen den Faschismus“, während die Allgemeine Deutsche Burschenschaft das „bürgerlich-studentische[] Umfeld“ des Widerstands hervorhebt und Scholls „christlichen Glauben“ und „ihre Aufopferungsbereitschaft“ in Erinnerung hält. Die AfD Hochsauerlandkreis nimmt ein – Sophie Scholl fälschlicherweise zugeschriebenes – Zitat zum Anlass, um klarzustellen: „Der wichtigste Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur kam nicht von der politischen Linken, wie man uns heute glauben machen will. […] [D]ie ‚Weiße Rose‘ um die Geschwister Scholl war vor allem konservativ-patriotisch geprägt.“

Die Feel-Good-Beiträge auf Instagram mochten noch für eine Banalisierung stehen, die man je nach Kontext als geschichtsvergessen oder harmlos abtun könnte, um dann zum nächsten Beitrag zu scrollen. Die politische Vereinnahmung hingegen benutzt die Zitate Anne Franks und Sophie Scholls nicht nur wegen des Prestiges. Sie dienen einer moralischen Legitimation, wie Hildegard Kronawitter, Vorsitzende der Weiße-Rose-Stiftung, sagt. Die Nutzer*innen stärken die Aussagekraft ihrer Beiträge einmal mehr durch die erinnerungspolitischen Ikonen Frank und Scholl.

Ihren traurigen Höhepunkt erreichte diese Instrumentalisierung in der Hochphase der Corona-Leugnung. Besonders das Andenken an Sophie Scholl wurde dem Zweck geopfert, auf der richtigen Seite im beschworenen politischen Gefecht zu stehen. Jana aus Kassel und ihr berühmter Sophie-Scholl-Vergleich bei einer Demonstration gegen die Corona-Politik der Bundesregierung ist nur ein Beispiel von vielen.

Accounts, die sich dem rechtskonservativen und rechtsradikalen Lager zuordnen lassen, bestehen auf einer Gleichsetzung der NS-Diktatur mit aktuellen politischen Verhältnissen in Deutschland, mit den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie oder dem Umgang der Bundesrepublik mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Hashtags lenken die Ausdeutung der Zitate grundlegend wie etwa #damalswieheute, #wirlassenunsnichterpressen, #ichmachdanichtmit, #denktdrandenktselbst, #ihrseitdasproblem (sic), #selbstdenkend oder #mitdenkenstattmitlaufen. Diese Geschichtsklitterung zeigt eine Kehrseite der neuen Niederschwelligkeit im Erinnerungsdiskurs: Vielstimmigkeit oder hohe Reichweite sind kein Garant für Expertise oder Redlichkeit.

Opfernarration und Überidentifikation

Aber warum sind es immer wieder Sophie Scholl und Anne Frank, die zitiert werden? Was bedeutet es, dass gerade diese spezifischen Stimmen aus dem Widerstand und dem jüdischen Opferkreis, verglichen mit anderen historischen Personen aus der NS-Zeit, so präsent sind? Und auf wessen Kosten geht die große Sichtbarkeit dieser Inhalte?

Zum einen sind ihre Geschichten anschlussfähig: Der Widerstand der Weißen Rose ist nicht an eine religiöse oder politische Gruppierung gebunden. Genauso wenig wie Anne Frank einer konkreten politischen Ideologie anhing. Das erleichtert die Vereinnahmung ohne große Gesinnungshürden. Und die Gleichsetzung von Vergangenheit und Gegenwart geht umso nahtloser mit einer Entwicklung einher, die maßgeblich die neuen Akteur*innen des Erinnerungsdiskurses selbst betrifft: die Identifikation. Nach der Art: ‚Wie Sophie Scholl oder Anne Frank in der Vergangenheit Opfer des Systems wurden, bin ich heute Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse.‘ Welche auch immer das sein mögen.

Doch es ist nicht nur der Opferstatus, den sich die Nutzer*innen damit selbst zuschreiben, es ist die Rolle der Heldin, der mutigen Widerstandskämpferin, der Trägerin des guten Gewissens im Kampf gegen das Böse, die sie in grotesker Selbstverherrlichung einnehmen. Hier ist bereits der Punkt überschritten, an dem die sozialen Medien als alltagsnahe Plattform eine Brücke schlagen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, an dem die historischen Personen als Anknüpfungspunkte der Anteilnahme dienen. Wenn Menschen sich als Sophie Scholl inszenieren oder die Perspektive Anne Franks vereinnahmen, ist Empathie zur Selbstidentifikation geworden.

Diesen Eindruck bestätigen auch die Zahlen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, das seit 2018 die MEMO-Studie, den Multidimensionalen Erinnerungsmonitor, veröffentlicht: Im Jahr 2020 waren insgesamt 68 Prozent der befragten Deutschen der Meinung, dass ihre Vorfahren im Nationalsozialismus potenziellen Opfern geholfen haben oder selbst Opfer waren. Nur etwa jede fünfte befragte Person wusste hingegen von Täter*innen in der eigenen Familie zu berichten. Die Selbstwahrnehmung als Täter*innenvolk ist lange nicht so attraktiv wie das Narrativ eines eigenen Opferseins – eine Sprechposition, die der Großteil deutscher Biografien nicht hergibt. Für den aber Instagram die geeignete Plattform bietet: Mühelos lässt das Ideal authentischer Subjektivität das Bewusstsein für die Differenz zwischen dem Ich und dem Anderen verschwimmen.

Die Präsenz der beiden Frauen in den sozialen Medien garantiert keineswegs eine Sensibilisierung für historische Prozesse oder die Übernahme von Verantwortung. In ihrer Verflachung und Verzerrung dienen die kontextbefreiten Zitate vor allem der Entlastung der Täter*innen und ihrer Nachfahren. Sie kommen symbolischen Gesten gleich, die von der eigentlichen Auseinandersetzung befreien: der Beschäftigung mit den Täterstrukturen und der eigenen Gewaltgeschichte. Damit nehmen sie eine Rolle im „Versöhnungstheater“ ein, das Max Czollek in seinem gleichnamigen Essayband darlegt: „[E]s erzeugt das Bild einer mit den Juden und damit sich selbst versöhnten Gesellschaft, die nun […] eintreten kann in einen Prozess der Normalisierung.“ So besiegelt das Liken und Teilen die Wiedergutwerdung der Deutschen auch im digitalen Raum.

Foto von Alexander Shatov auf Unsplash

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