Knause-Pause – Was man statt Knausgård lesen kann

von Matthias Friedrich

 

Dieser Tage erscheint in Deutschland ein neuer Roman von Karl Ove Knausgård. Nein, es handelt sich nicht um den in diesem Herbst im Original veröffentlichten Morgenstjernen, sondern um Ute av verden (Aus der Welt), Knausgårds Debüt, das in Norwegen bereits 1998 erschien und 2006 einen Platz auf der Dagbladet-Liste der besten Bücher aus den vorigen 25 Jahren belegte. Dieses Buch trägt bereits alle Ingredienzen des autofiktionalen Zyklus in sich, der zwischen 2009 und 2011 auf den Markt kam und den Autor dank Paul Berfs und Ulrich Sonnenbergs Übersetzungen auch in Deutschland zum bekanntesten Exponaten norwegischer Literatur machte.

Der Ich-Erzähler in Aus der Welt, ein 26-jähriger Mann namens Henrik Vankel, zieht in ein nordnorwegisches Dorf, um als Aushilfslehrer zu arbeiten – genauso wie Karl Ove in Band vier seines Monumentalprojekts mit dem deutschen Titel Leben. In seiner Einsamkeit erinnert er sich immer wieder an das gestörte Verhältnis zu seinem gewalttätigen Vater und gleitet wiederholt in surreale Traumsequenzen ab. Schließlich verliebt er sich in seine dreizehnjährige Schülerin Miriam und tut ihr sexualisierte Gewalt an.

Die Konflikte, die Knausgård in seinem Debüt beschreibt, sind auch aus seinen anderen Büchern hinreichend bekannt. Die Vater-Sohn-Geschichte, die in Sterben Thema ist, findet sich in Aus der Welt ebenso wieder wie die exzessive Bezugnahme auf hypermaskuline Erotiker wie Agnar Mykle, der in den fünfziger und sechziger Jahren das protestantische Norwegen mit zügellosen Coming-of-Age-Romanen schockierte, oder auf Dante Alighieri, dessen Höllenreise die Vorlage für Henrik Vankels Privatinferno ist, daneben aber auch Klatschgeschichten, die die Boulevardzeitung VG einmal so zusammenfasste: „In seinem neuen Buch schreibt Knausgård über heißen Sex mit jungen Mädchen.“[1] Grundsätzlich beeinflusst der männliche Blick das Schreiben dieses Autors ganz entscheidend. Das ist auch der Grund, weshalb sein Debüt 22 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung so altbacken wirkt, ja, sich geradezu liest wie eine Pädo-Schmonzette. Henrik nimmt das junge Mädchen, auf das er seine sexuellen Gelüste projiziert, nicht als Subjekt wahr, sondern als Objekt. Diese Vorstellung resultiert aus einem fatalistischen Bild von Männlichkeit und führt zu einer Literatur-Ideologie, die ethische Belange aus der Kunst heraussubtrahiert und trotz ihrer Selbstdarstellung als apolitisches Zeichensystem tief verstrickt ist in patriarchale Zusammenhänge

Einen konkreten Hinweis auf ebenjene Ideologie bietet das Coverbild der norwegischen Originalausgabe. Darauf war lange Zeit ein von hinten abgebildetes, nacktes, etwa zwölfjähriges Mädchen zu sehen, das auf einen See hinausschaut – eine Fotografie des Künstlers Jock Sturges, der schon öfters beschuldigt wurde, mit seinen Fotografien Kinder zu sexualisieren. Als Knausgårds Roman 2015 in schwedischer Übersetzung erschien und dieses Umschlagbild in dem Land, das bei seinen skandinavischen Nachbarn oft für seine angebliche politische Korrektheit ausgelacht wird, in den Fokus geriet, löste die Literaturprofessorin Ebba Witt-Brattström eine Debatte aus. Sie bezeichnete Aus der Welt als „literarische Pädophilie“ und kritisierte bei dieser Gelegenheit auch noch gleich Stig Larsson (nicht den Krimiautor, sondern den Popliteraten), in dessen Roman Höllenfahrt eine ebenso detaillierte Beschreibung eines Übergriffs zu finden ist wie im Debüt des Norwegers. (Es ist sicherlich kein Zufall, dass Larsson ein weiterer von Knausgårds Referenzautoren ist. In Kämpfen bezeichnet er ihn als „wild, begabt und furchtlos“ – eine Reverenz, die in homosozialen Männerbünden als Ritterschlag gelten kann.) Die Kunstautonomie scheint dem Autor von Min kamp über alles zu gehen. In Kein Heimspiel etwa kritisiert er den angeblichen Neopuritanismus seiner Wahlheimat Schweden. Er erzählt eine Anekdote über den norwegischen Dichter Georg Johannessen, der während eines Tanzes zu einer etwa Fünfundzwanzigjährigen sagte, er würde sie gerne auf eine einsame Insel mitnehmen. Knausgård berichtet von seiner Enttäuschung: Wie kann so ein großer Autor „etwas so Dummes“ sagen! Jahre später stellt er lakonisch fest: „Jetzt finde ich es einfach gut.“ Hiermit bringt Knausgård zum Ausdruck, dass man bestimmte Dinge in Schweden nicht mehr sagen darf, „ohne dass man sich verdächtig macht“ – nämlich so etwas wie: „romantisierend, das männliche Genie, bla bla bla“.

Erstaunliche Worte von einem, über den Teile des deutschsprachigen Feuilletons in ihrer schläfrigen Bräsigkeit gerne behaupten, er schildere Maskulinität wie noch niemand zuvor und der sich doch nur um seine Männlichkeit betrogen fühlt, weil er sich Sorgen machen muss, was andere über ihn sagen.[2] Überhaupt steht die Frage noch aus, weshalb ausgerechnet ein Schriftsteller, der seine künstlerischen und familiären Nöte sowie seine narzisstische Selbstüberhöhung als Künstler durch die Referenz auf Mein Kampf mit Hitler in Verbindung bringt, so vehement als moderner Mann gelesen wird. Letztlich tut er nämlich nichts anderes, als seine ständigen Grenzüberschreitungen mit einer fragwürdigen Wahlverwandtschaft und einem Verweis auf die Autonomie der Kunst zu rechtfertigen. Er schreibt sich selbst in eine Tradition ein, die den männlichen Künstler als Genie sieht – kurz, er ist ein zoon apoliticon (oder einfach nur ein con).

Bei all der puerilen Leidenschaft, mit der sich Knausgård in den Fallstricken der Kunstautonomie verheddert, wird also klar, dass er die Themen, die von so vielen als die seinen angesehen werden – der männliche Blick, teenage angst, Elternschaft, Transgression – oft nur unzureichend behandelt. Dass ausgerechnet er, dessen kritisches Urteil oft von Klischees, schlichter Unkenntnis oder fatalistischen Männlichkeitsgefühlen beeinträchtigt ist, so häufig als Repräsentant norwegischer Literatur herangezogen wird, liegt einerseits daran, dass alleine sein Name und ein paar provokant hingeschleuderte Thesen die Kassen klingeln lassen, andererseits aber auch an mangelnden Übersetzungen aus anderen Sprachen, die seine Sujets aus einem interessanteren Blickwinkel behandeln. Natürlich gibt es diese Bücher, und ich möchte vier von ihnen vorstellen, um dadurch Aus der Welt vielleicht an den Ort verweisen, den sein Titel andeutet. Im Idealfall entstehen dadurch einige neue Übersetzungen, die uns eine – wie man im Norwegischen so schön sagt – knause-pause gönnen.

Der männliche Blick

Inger Bråtveits Roman Siss og Unn (2008) verweist bereits im Titel auf die Protagonistinnen eines der berühmtesten Texte der norwegischen Literatur: Tarjei Vesaas‘ Das Eisschloss (1963). In diesem Klassiker geht es um die Freundinnen Siss und Unn. Nachdem Unn in einem gefrorenen Wasserfall, dem sogenannten Eisschloss zu Tode kommt, verfällt Siss in tiefe Trauer, und so handelt Vesaas‘ Roman in großen Teilen davon, wie sie lernt, mit ihrem Verlust umzugehen.

Trauer ist auch bei Bråtveit das zentrale Thema. Sie versetzt die Figuren Siss und Unn in die Gegenwart. Unn wohnt mit ihrer Mutter, nur „Mummy Big“ genannt, auf einem Bauernhof. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht – „was genau ihn von seinem eigenen, über Generationen weitervererbten Bauerngut vertrieb, darauf kann niemand, der seine fünf Sinne beisammenhat, eine stichhaltige Antwort geben“. Unn bekommt mit, dass ihre Mutter ihre „Essenz“ verliert und kann sich kaum noch um ihre Tochter kümmern.

Anders sieht es zunächst für Siss aus, die mit ihrer Familie jüngst aus Schweden hergezogen ist. Ihr Vater ist Betriebsingenieur in einem Kraftwerk und ein Entscheidungsträger, wie er im Buche steht. Präsent ist er aber nicht. Siss muss so mit den Konflikten ihrer Eltern zurechtkommen. Unn hingegen muss lernen, mit dem Tod umzugehen, denn Mummy Big erkrankt nicht nur an Depressionen, sondern auch an Krebs. Auch wenn Siss Unn für eine Zeit helfen kann, vermag auch sie nicht zu verhindern, dass Unn irgendwann ihr privates Eisschloss aufsuchen und sich in der siebten Kammer ihrem Schmerz stellen muss. Wer Vesaas gelesen hat, wird ahnen, wie diese Konfrontation enden wird.

Besonders an Bråtveits Roman ist insbesonere der Stil. Unn spricht Nynorsk, die Sprache Vesaas‘, Siss hingegen Schwedisch. Nynorsk ist aus älteren Dialekten hervorgegangen und ist eine Schriftsprache, der leider oft noch Provinzialität vorgehalten wird. Das Schwedische hingegen hat etwas Bürgerliches, nahezu Mondänes, und so treffen hier eine ländliche und eine weltgewandte Sichtweise aufeinander, um sich gegenseitig zu ergänzen. Zwischen englischen Einsprengseln, frommen Liedern und literarischen Anspielungen entsteht so ganz überraschend ein Raum für die Auseinandersetzung mit der eigenen familiären Herkunft. Bråtveit erweitert das Sujet der Trauer um die Perspektive der Mütter. Beide scheinen nicht allzu viel von der allseits gelobten skandinavischen Geschlechtergleichheit profitiert zu haben. Sie reiben sich in der Sorgearbeit auf, Mummy Big ist sogar noch eine Zeitlang als Pflegerin beschäftigt. „Gesund zu sein heißt, noch überschüssige Kräfte für die alltäglichen Anforderungen zu haben. Den Lohn dafür erhalte ich wohl im Himmel.“ kommentierte sie ihre Tätigkeit. Siss‘ Mutter hingegen versucht längst nicht mehr, das zurückzuhalten, was ihr „unter dem Ventildeckel“ brodelt. Beide Frauen haben den Eindruck, in ihrem Zuhause gefangen zu sein, suchen den Fehler allerdings bei sich selbst und nicht im System.

Insbesondere die Mütter in Siss og Unn scheinen einen männlichen Blick internalisiert zu haben, durch den sie sich beständig abwerten, sich auf ihre Sorgearbeit reduzieren und es ihnen als persönliche Schuld anrechnen, wenn sie daran scheitern oder einmal ausbrechen wollen – wohingegen die Männer für ihre Grenzüberschreitungen nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Ganz anders als beim Eisschloss lassen sich an Siss und Unn damit auch die Schattenseiten des skandinavischen Wohlfahrtsstaats beschreiben. Knausgård ist hier anders: Zwar lassen sich bei ihm Ansätze kritischen Denkens erkennen, die er allerdings oft zugunsten einer homosozialen Kumpanei mit männlichen Autoren verwischt. Bråtveit nutzt hingegen genau jene Mittel, die von Verfechtern eines vulgären Postmodernebegriffs so gerne herangezogen werden. Durch die Aneignung einer literarischen Stimme, subversive Verfremdung, intertextuelle Referenzen und die Differenz zwischen Sprechen und Schreiben ergründet sie, wie sich ihre weiblichen Figuren selbst (v)erkennen. Damit ist Bråtveits Poetologie untrennbar mit jenen Methoden produktiver Lektüre verbunden, die Knausgård noch als Puritanismus von sich weist.

Teenage angst

Oft hört man in Schreibseminaren den Ratschlag, die Figurensprache müsse dem Alter des jeweiligen Charakters entsprechen. Das gelte auch und insbesondere für Texte, deren Hauptfigur sehr jung ist. Diesen Tipp scheint Ingvild Schade glücklicherweise ignoriert zu haben, denn der vierzehnjährige Ich-Erzähler Karsten aus Bergverket (Das Bergwerk, 2019) eignet sich keineswegs als Diskursbeispiel für Jugendslang. Dieser knapp 120 Seiten lange Roman ist ein wilder Gattungsmix aus Young Adult Fiction, Coming of Age, Kriminalroman und Pikareske, dessen manisch plappernder, neunmalkluger Protagonist Opfer und Täter, Professor und Forschungsobjekt sowie Arzt und Patient in einer Person ist. „Norwegian Psycho“, stand in der Presse zu lesen, ganz so, als habe Ingvild Schade eine eigene Gattung erfunden – eine Prosa, die dem Abweichler mehr Raum zuspricht als dem Mitläufer und eher zum Widerspruch als zu logischen Schlussfolgerungen neigt. Das ist erstaunlich, denn eigentlich ist Karsten als Naturwissenschaftler angetreten, um seine Welt mit einem Metalldetektor zu erforschen.

Er hat den Eindruck, in einem unübersichtlichen Bergwerk zu leben. Unterirdische Gänge führen überallhin, nur nicht an irgendein Ziel. Und ebenso unübersichtlich wie dieses Labyrinth sind auch Karstens Leben und seine literarische Darstellung. Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit einer großangelegten Spekulation: Karsten bildet sich ein, im Garten die Leiche eines Models zu finden, das einen Gravensteiner Apfel in der Hand hält. Bei seinen Ermittlungen verzettelt er sich und dringt niemals auf den Grund des Rätsels vor, dessen Antwort er alleine ist, in seiner Einsamkeit auf sich selbst und seine Spekulationskünste zurückgeworfen. Nicht äußere Ereignisse sind es, die die ewige Assoziationskette in Gang bringen, sondern oft bestimmen bloß einzelne Worte über den Fortlauf des Gedankenstroms:

Gravensteiner, Gravensteiner, murmelte ich, nur, um zu entdecken, dass das Wort die Speichelproduktion anregt, genau wie Vergrößerungsglas, klecksige Federtinte, Darmzotten, Waschwasserfass und trianguläre Toreinfahrten. Genau das. Hierin fand ich meine Berufung, ja, so stark will ich das formulieren, und die Jungs aus der Nachbarschaft konnten mich ruhig verhohnepiepeln, rief ich aus dem Fenster nach draußen – wohl bekomm’s! Dann zog ich die Gardinen zu, schaltete die Schreibtischlampe an, hielt die Kamera wieder vors Auge und zoomte an ein Passfoto heran, das Mama als Jugendliche zeigte, vollkommen unkenntlich. Ich prüfte das Gesicht auf die Nähte, die Linien der Haut. Verdächtig, meinte ich und seufzte leicht entnervt auf, während ich mir, so ich mich denn selber richtig kenne, mit der freien Hand die Kante meines Schlüppers aus der Kimme zupfte. Hier ist dicke Luft, sagte Papa in der Tür. Raus mit dir, erwiderte ich brüsk, doch bereute schnell, denn jetzt konnte ich ihn nicht danach fragen, Rote-Beete-Saft auf den Kies zu kippen, damit ich Blutspuren nachgehen konnte. Sakra. Ich nahm einen Notizblock aus der Schreibtischschublade, klatschte einen Haufen Vokabeln hin, die Mama mir verboten hat. Unter anderem Zauche. Z-a-u-c-h-e. Hurenbock auch. Tralala, das verbotene Ratzefummellied. Wünsche mir ein Du-weißt-schon-was, das still und leise alles wegwischt, was ich gesagt und gemeint und gedacht und überlegt und getan habe.

„Wohl bekomm’s“, „Kimme“, „Zauche“, „Sakra“ oder „Ratzefummel“ Auch wenn Karsten ein Arztsohn ist, sein Sprachduktus ist für einen Vierzehnjährigen alles andere als „authentisch“. Er ist ein (Pseudo-)Wissenschaftler, aber auch eine Schnodderschnauze und Ingvild Schade lässt ihn mit seinen Tiraden mehr über seinen seelischen Zustand zu vermitteln als Knausgård in seiner Weltschmerzprosa über seine eigenen Gefühlswelten. Zwar gibt es kaum ein Fachgebiet, dem Karsten sich nicht annähern will, nur eins mag er partout nicht ansprechen: seine Einsamkeit, die er alleine nicht überwinden kann und die ihn dazu zwingt, sich mit den wildesten Erfindungen über Wasser zu halten – ganz so, als versuchte er, sich durch sein rasendes Erzählen und Spintisieren vor dem endgültigen Untergang zu retten.

Elternschaft

In ihrer Heimat Dänemark gilt die Lyrikerin Olga Ravn als Shootingstar einer neuen, jungen, dezidiert politischen Literatur, deren bekannteste Gesichter hierzulande Yahya Hassan und Jonas Eika sind. Seit ihrem Lyrikdebüt 2009 hat sie weitere Gedichtbände, Romane und Übersetzungen veröffentlicht. In Mit arbejde (Meine Arbeit, 2020) beschreitet sie nun neue Wege. Nach Celestine, einer Art Gothic-Roman, und De ansatte (Die Angestellten), einer Science-Fiction-Erzählung über die Arbeitswelt des 22. Jahrhunderts, behandelt sie nun mit der Kindsgeburt ein Thema, das in der skandinavischen Literatur seit zwei Jahren große Aufmerksamkeit erfreut, auch wenn der Kritiker Endre Ruset diesen Trend des norwegischen Bücherherbstes 2018 als „Muttermilchtsunami“ verunglimpfte.[3] Olga Ravns Roman hingegen ist ein geglücktes literarisches Experiment über den Blick der Gesellschaft auf die werdende und sorgende Mutter.

Die Ich-Erzählerin behauptet zunächst „selbstverständlich“ sei sie es, die dieses Buch verfasst habe, um kurz darauf anzufügen: „Für den Moment einigen wir uns jetzt einmal darauf, dass es jemand anders geschrieben hat.“ Diese andere Person ist eine gewisse Anna, ebenfalls eine Ich-Erzählerin, die der fiktiven Herausgeberin einen Wust an Notizen, E-Mails und anderen Dateien überlassen haben will. Ihr obliegt es nun, dieses Material zu sortieren. Sie wird zur Herausgeberin eines unmöglichen Buches. Bald schon stellt sich nämlich heraus, dass Anna, eine Schriftstellerin, einen Konflikt mit sich selbst ausficht, den sie folgendermaßen beschreibt:

Mein Problem besteht wohl darin, dass ich der Literatur zu stark zugewandt bin, für mich ist alles Fiktion, alles ist schreibbar. Aber nicht für eine Mutter. Von einer Mutter verlangen wir, dass sie so über ihre Kinder, über ihre Mutterschaft nicht schreiben darf. Für eine Mutter kann nicht alles Fiktion sein. Man könnte sagen: Eine Mutter hat kein Recht auf Fiktion. Oder: Mutter zu werden, heißt, das Recht auf Fiktion zu verlieren.

Was heißt, dass eine Mutter „so“ nicht schreiben darf? Anna zitiert die japanische Lyrikerin Hiromi Itō, die in ihrem Gedicht Killing Kanoko den Monolog einer Kindsmörderin verfasst. Diese hat ihr sechs Monate altes Kind getötet, das genauso heißt wie die Tochter der japanischen Dichterin. Auf die Frage der schwedischen Autorin Tone Schunesson, was Mutterschaft für ihr eigenes Schreiben bedeute, antwortet Itō, sie versorge ihre Kinder mit dem, was sie zum Leben bräuchten, im Gegensatz dazu böten sie ihr das Material für ihre Gedichte. Das sei genauso wie in einer Bauersfamilie, in der der Nachwuchs auf dem Feld mithilft. Radikal zugespitzt liefert Itō eine Antwort auf Annas Problem: Selbstverständlich hat eine Mutter ein Recht auf Fiktion.

Anna indes kommt zu einer Erkenntnis, die Olga Ravn in einem Debattenartikel so zusammengefasst hat: „Die Zeit, in der wir unsere Körper und unsere Psyche opfern, um neue Kinder in die Welt zu setzen, ist vorbei“.[4] Diese Einschätzung teilen womöglich auch die rund 600 Frauen, die Ravn nach der Veröffentlichung des Textes in der Zeitung Politiken kontaktiert haben, um die Öffentlichkeit wissen zu lassen, wie der dänische Wohlfahrtsstaat Schwangere aus Zeitmangel und Unachtsamkeit mit ihren Sorgen alleine lässt.[5] Anna muss ebenfalls einsehen, dass Ideal und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen. Am deutlichsten wird dies in der Anordnung der Romankapitel: Der „Vorbereitungs-“Kurs, in dem die werdende Mutter nicht auf den Schmerz vorbereit wird, den sie bei der Geburt empfinden wird. Und so folgt der Arztbericht einer dramatischen Entbindung unvermittelt auf die Schilderung ebenjenes Seminars. Und wenn Anna auf ihren Schmerz hört, wird sie dafür verantwortlich gemacht, nicht so stoisch zu sein, wie man das von ihr erwartet. Ihr Schreiben wird von mehreren Faktoren beeinflusst, die ein kontinuierliches Schreiben unmöglich machen. (Die Kapitel tragen Überschriften wie „Erster Beginn“ oder „Zweite Fortsetzung“.) Anna kritzelt in Notizhefte, tippt Gedanken ins Handy und verfasst Mails. Hierarchien zwischen Medien haben für sie keinerlei Bedeutung. So entsteht ein gattungsüberschreitender Text, der kurze Erzählungen, mehrere kurze Gedichtbände und essayähnliche Interventionen miteinander verbindet. Immer wieder eingeschoben sind Briefe der Herausgeberin, die Anna ihre Gedanken über das Projekt, aber auch über die eigene Schwangerschaft mitteilt. Auch wenn Anna möglicherweise Fiktion ist, zumindest im Geiste knüpfen die beiden schwesterliche Bande.

Stellenweise wirkt Mit arbejde wie eine äußerst zeitgemäße Aktualisierung romantischer Motive. Die anonyme Herausgeberin schafft sich mit Anna eine Doppelgängerin, um das Leid, das ihr während der Geburt ihres Kindes widerfahren ist, auf Distanz zu halten. Anna ist ein Gegenüber, in das sich die Herausgeberin einfühlen kann, um ihre eigenen widersprüchlichen Gefühle zu verstehen. Die Bandbreite der Gattungen wiederum erinnert an die formale Wandelfähigkeit des romantischen Romans, der Briefkonvolute mit längeren erzählerischen Passagen und anderen künstlerischen Mitteln zu kombinieren weiß.

Die literarische Versatilität in Ravns Buch ist vor allem aber auch eine Folge mangelnder Arbeitszeit. Sie hat ein Buch verfasst, das im Sinne Mallarmés unmöglich ist und sterilen Debatten über Kunstautonomie einen zeitgenössischen Anstrich verpasst. Denn an Mit arbejde lässt sich ein weiteres Mal erarbeiten, wieso ästhetische und politische Fragestellungen nicht voneinander zu trennen sind.

Transgression

Nach drei Beispielen aus Nordeuropa kommen wir nun mit Katalonien zu einem ganz anderen Punkt auf der literarischen Landkarte, und mit Bonaventura Claveguera Claveguera zu einem Autor, der Transgression als politisch-subversive Kraft und nicht im Dienste einer reaktionären Genieästhetik à la Knausgård nutzt. Er interessierte sich sowohl für die Kunst als auch für die Naturwissenschaften, arbeitete als Tierarzt, malte und musizierte, schrieb Gedichte und philosophische Traktate, und verfasste einen antifaschistischen, surrealen Roman über den Spanischen Bürgerkrieg aus Sicht eines kleinen Kindes: die Summa kaòtica (1986), oder, wie es der Schriftsteller Rafael Vallbona formulierte: „Dalí, übersetzt in Worte.“[6] Dabei trug er nicht immer diesen langen, komplizierten Namen, sondern verkürzte ihn auf Anraten seines Freundes Salvador Espriu zu Ventura Ametller – ein Pseudonym, das ihm, so behauptete es zumindest Espriu, eine Chance im Literaturbetrieb geben sollte. Nun könnte diese Prognose falscher nicht sein, denn Ametller ist alles andere als bekannt; vermutlich hat er in der falschen Sprache, im falschen Land und zur falschen Zeit geschrieben. So sieht es auch der Schriftsteller Miquel de Palol in einer Kritik der Summa: „Mit seinen Eigenheiten ist dieser Autor im Großpanorama der europäischen Literatur keine Sondererscheinung. Damit ein Romanautor dieses Formats und hohen, in erster Linie stilistischen Ansprüchen eine angemessene Sichtbarkeit erhält, braucht es jedoch eine kulturelle Öffentlichkeit, in der klar abgesteckt ist, wie eng definiert und wie mächtig die offizielle Meinung ist, um daraufhin abweichenden Ansichten medialen und akademischen Raum zu verschaffen.“[7] Katalonien fehlte also schlicht das Publikum für ein solches Buch, und außer der posthum veröffentlichten Resta kaòtica, einer Art Appendix zur Summa, hat es keine von Ametllers anscheinend zahlreichen literarischen Arbeiten auf den Markt geschafft. Senyor Espriu hat die gnadenlosen Mühlen des Literaturbetriebs wohl unterschätzt.

Ironischerweise ist die Mühle ein zentrales Symbol für das Verständnis des vorliegenden Romans. Wie einer der vielen Charaktere es beiläufig formuliert, ist sie „das ganze Universum, das wir zum Fortschritt hin weiterdrehen. Deshalb achten wir mit großer Sorge darauf, dass sie sich nicht in die umgekehrte Richtung bewegt. Wenn wir das tun, dann gewinnen die rückwärtsgerichteten, kapitalistischen Kräfte … Und die Völker und das Proletariat dieser Welt begeben sich erneut auf den Weg der Sklaverei und des Elends.“ Nun handelt der ganze Roman davon, die Mühle wieder in Richtung des Fortschritts zu wenden – und dieser Kampf wird aus der Sicht eines Kindes geschildert, das in den Phasen der Handlung unter verschiedenen Namen auftaucht: Proto-, Ana- und Metamorphus. Den Protragonisten lernen die Leser*innen zunächst als Spermium auf dem Weg in die Eizelle kennen und folgen ihm nach seiner Geburt über den Bürgerkrieg bis zur Diktatur und der darauffolgenden Übergangszeit in die Demokratie. Doch es geht hier nicht um den Helden und dessen persönliche Entwicklung bis er als Metamorphus die Handlung verlässt, sondern um eine dem Publikum aufgezwungene, verzerrte Perspektive.

Bei einer Anamorphose lässt sich ein Bild nur aus einem bestimmten Blickwinkel erkennen. So ist es auch bei Ventura Ametller, der gleich im Vorwort zu seinem Roman schreibt: „Die Namen werden ausgetauscht, die Breiten- und Längengrade verschoben, Landschaften und Entfernungen ausgedehnt oder verkürzt … Alles wird sein, wie es ist, und zur selben Zeit ganz anders.“

Anamorphus‘ Heimatstadt Pals wird zu Poel, Katalonien zur „República Dissident“, das Katalanische zum „Bacanard“ – was nicht nur “begriffsstutzig” bedeutet, sondern auch “Einwohner der Stadt Begur”. Wir müssen wir diese Wortspielereien und die seltsame Welt aus den Augen eines Kindes sehen und es ganz beim Wort nehmen. Poel ist bevölkert von Riesen, in Waldhöhlen verstecken sich Zauberer, und es ziehen merkwürdige Zeiten herauf, denn was Anamorphus von seiner kommunistischen Lehrerin, der „Roten Lia“, erfährt, deckt sich nicht mit dem, was er auf der Straße hört:

So eignete [er] sich sein Wissen über diese seltsame Materie an, neue Worte wie: Massen, Ökonomie, Mehrwert, Revolution, Proletariat (Industrie-, Bauern-), Kapital, sozial, Arbeit, Arbeiterstaat, Klassen, Kampf etc. Die Rote Lia hoffte, wenn [Anamorphus] sie bloß aussprach, würden sie sich schon irgendwo erfüllen. Auf der Straße hingegen lernte er andere: Krieg, Schlacht, Gewehr, Pistole, Panzer, Flugzeug, Liquidation, Tscheka, Mobilisation, Hinterhalt, Gefängnis, Deserteure, etc., etc.

Bald schon ist es mit der Chance auf Utopie allerdings vorbei. Der Krieg kommt, ohne, dass groß gesagt wird, wieso eigentlich. Die fehlende Erklärung intensiviert den Schrecken nur noch: Flugzeuge werfen Bomben ab, Attentate werden begangen, die Gesellschaft versinkt im Schlamm. Eine Hungersnot bricht aus, Anamorphus und seine Familie müssen fliehen und ständig fürchten, dass sie festgenommen und umgebracht werden. Ein gewisser Nemesius, Ametllers Version von Franco, betritt die Bildfläche und dreht die Zeit rückwärts. Er sieht sich als ausgleichende, strafende Gerechtigkeit (daher auch der Name) und will alle revolutionären Bestrebungen zunichtemachen. Nemesius ist die personifizierte faschistische Dreifaltigkeit aus Kirche, Staat und Vaterland. Selbst die kleinsten Abweichungen bestraft er mit Folter und Mord. Aber es ist klar, dass diese Gewaltherrschaft nicht ewig halten wird. Und auch wenn die subversiven Aktionen von Anamorphus & Co. irgendwann zu einem Ende der Diktatur führen, stellt sich die Frage, wie lange der Frieden anhält – und wie man ihn dauerhaft sichern kann.

Ametller erzählt seine Geschichte nicht als realistischen Kriegsroman, sondern als surreale Farce. Oft erinnert der Text an spätmittelalterliche Höllen-und Paradiesdarstellungen. Er ist ein gigantisches Wimmelbild, auf dem Anamorphus selbst nur ein Tüpfelchen ist. Doch selbst die willkürlichsten Entwicklungen haben einen gemeinsamen Nenner: Sie überschreiten die Realität, um sie in etwas Neues zu verwandeln. Anders als bei Knausgård ist die Transgression bei Ametller kein Selbstzweck, mit dem er seinen Status als genialer Künstler bekräftigen will, sondern eine politisch-transformative Kraft, mit der er die bestehenden, reaktionären Verhältnisse wieder in Richtung Fortschritt umkehrt.

Übersetzungen der Romanzitate von Matthias Friedrich. Zu drei der besprochenen Bücher liegen Exposés und Textproben vor.

Matthias Friedrich, geboren 1992, ist Übersetzer. Zuletzt: Thure Erik Lund, Das Grabenereignismysterium (Droschl 2019). In Vorbereitung: Svein Jarvoll, Die Melbourne-Vorlesungen (Urs Engeler, voraussichtlich 2020), Leif Høghaug, Der Kälberich (die brotsuppe, voraussichtlich 2021).

[1] https://www.vg.no/rampelys/bok/i/RkazA/knausgaard-skildrer-sin-dragning-mot-ung-elev

[2] https://www.freitag.de/autoren/mikael-krogerus/brutal-ehrlich

[3] https://www.dagbladet.no/kultur/barselbok-debatten—dette-er-billig-og-nedlatende-retorikk/70084829

[4] https://politiken.dk/debat/debatindlaeg/art7943049/Den-tid-er-forbi-hvor-vores-kroppe-og-psyker-skal-ofres-for-at-bringe-nye-b%C3%B8rn-til-verden

[5] https://www.femina.dk/dit-liv/flere-end-600-kvinder-har-skrevet-til-olga-ravn-om-moderskabet-glansbilledet-er-meget

[6] http://casavbn.blogspot.com.es/2008/06/dal-en-paraules.html

[7] http://proallibrespremia-ed.blogspot.com/2008/06/lescriptor-miquel-de-palol-parla-sobre.html

Photo by Brandi Redd on Unsplash

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