Wettlesen bei Susi’s Backhendlstation – Der Bachmannpreis 2023

von Eva-Sophie Lohmeier

Die Unterkunft lag in einem Dreieck aus Polizei, Laufhaus und Friedhof, und hinter dem Friedhof war Susi’s Backhendlstation, mehr braucht man im Leben und im Sterben nicht. Vielleicht noch die Konditorei unten im Haus. Vielleicht noch den See bei der Hitze im Sommer, aber dann ist wirklich Schluss. Hier könnte man in Ruhe existieren und jeden Tag diese unfassbaren Berge an Backhendl essen, die aufgetischt werden. Danach wahlweise einen monströsen Eisbecher oder einen Zirbenschnaps. So könnte es gehen in Klagenfurt, der kleinen Stadt in Kärnten, die von einem regiert wird, der einmal Jörg Haiders Tennislehrer war. Auch das könnte man herrlich ignorieren, kämen nicht ab und zu Stadtschreiber:innen, die einen in aller Öffentlichkeit daran erinnerten.

Die Stadtschreiber:innen sind ein Kollateralschaden des jährlich ausgetragenen Bachmann-Wettlesens, das offiziell „Tage der deutschsprachigen Literatur“ heißt beziehungsweise „Ingeborg-Bachmann-Preis“ nach dem höchstdotierten der Preise, die stets Ende Juni, Anfang Juli vergeben werden. Daneben gibt es ein ganzes Rahmenprogramm, das etwas despektierlich „Häschenkurs“ genannte Förderstipendium, Lesungen, Konzerte, ein Quiz und einen Empfang beim ehemaligen Tennislehrer, der nun als Bürgermeister arbeitet und sich auch dieses Jahr sehr große Mühe gab, wie jemand zu wirken, dem die schöne Literatur am Herzen liegt. Außerdem kann man in der Stadt kaum einen Schritt tun, ohne versehentlich in einen Autor oder zumindest Verlagsmenschen zu rumpeln. Und dann geht es sofort los: Wie fand man die Rede, wie war der Lesetag, wer war gut, wer weniger, was hat die Jury wieder abgelassen und wer hat es verdient, zu gewinnen? Nicht einmal auf der Buchmesse wird so viel über Literatur und Texte gesprochen, und dort betreibt man einen erheblich höheren Personalaufwand als das kleine ORF-Landesstudio Kärnten mit seiner dauerüberforderten Kantine, der ständig die Semmeln für die Leberkässemmeln ausgehen. 

Alles beginnt also am Mittwoch Abend mit vielen Reden. Diese Reden, wie sie unter anderem in Klagenfurt gehalten werden, beschwören regelmäßig Gründe, die Literatur gegen irgendeinen Feind von außen zu verteidigen. Gern lauert dieser Feind im Internet, er besteht in Schnelllebigkeit, in Geschwätzigkeit, in Seichtheit und Dauerverfügbarkeit. Im Internet ist alles billig und doof, und die Literatur wird diesen Zeitgeisterscheinungen entgegengehalten. Denn man kann, in den unvergessen kryptischen Worten des einstigen Juryvorsitzenden Hubert Winkels, das „Numinose“ nicht einfach so unters Volk schleudern. Und jetzt sollen auch noch KI und ChatGPT Texte produzieren? Da ist es gut, schon einmal prophylaktisch zu dem Schluss zu kommen, dass richtige Literatur natürlich auch dazu wieder ein Gegenentwurf ist und künstliche Intelligenz die menschliche Kreativität nicht ersetzen kann. 

Hätten wir das also schon einmal geklärt. Und sogar schon in der ersten Rede bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur – gehalten von der ORF-Landesdirektorin Karin Bernhard, unterstützt von einem animierten Avatar ihrer selbst. 

Wodurch Literatur aber wirklich gefährdet wird, das erfuhr man erst später. Zum Beispiel von Tanja Maljartschuk, der ukrainischstämmigen Bachmannpreis-Gewinnerin des Jahres 2018, die in ihrer Rede zur Literatur zugab, eine ehemalige Schriftstellerin zu sein, denn ihr versagten die Worte angesichts des Angriffskrieges, unter dem ihr Land und, ganz konkret, ihre Familie leidet. Ein angefangenes Buch über das Schtetl, das sich einst im Dorf ihrer Eltern befand, wird wohl niemals zu Ende geschrieben werden. Gefährdungen anderer Art sprach Jacinta Nandi an, die in diesem Jahr unter den lesenden Autor:innen im Wettbewerb war. Kinderbetreuung für die Beteiligten gebe es keine, und am Ende war die Reise, so berichtet sie auf Instagram, finanziell ein Minusgeschäft. Auch das ist Literaturverhinderung, aber eine, die sich nicht für Eröffnungsreden eignet. Die hat mit diesem Ding namens Alltag zu tun, was sich da draußen abspielt, weit außerhalb des ORF-Gartens, zwischen Laufhaus, Polizei, Friedhof und Susi’s Backhendlstation.

Umso dankbarer war man Insa Wilke, der Jurypräsidentin, der nach der Lesung von Laura Leupi dann doch kurz der Kragen platzte. Leupi las, nein, sie trug vor, und zwar „Das Alphabet der sexualisierten Gewalt“. Der Text handelt von Gewalt, einem Ich wurde Gewalt angetan, und es setzt sich nun neu zusammen. Wer jedoch dachte, man könne über diesen Vortrag sprechen, der eine Performance war, über die Textstruktur, über Listen als Stilmittel, über Schlagworte und wie sie auf die zarteren, subtileren Teile des Textes wirken, über die Ansprache an das Publikum, dem etwas zu pauschal unterstellt wurde, all das nicht zu kennen, und über die Sprache, die einem bleibt, wenn einem nach einer Vergewaltigung eigentlich eher nach Schreien oder Schweigen zumute ist, der wurde durch die Jurydiskussion eines besseren belehrt. Juror Philipp Tingler war es, der sagte, der Text sei nicht feministisch, der Text betreibe, was er kritisiere, er leide an einem Moralisierungsüberschuss und verwende Sprache totalitär. 

Drunter macht er’s wohl nicht, diese Suada einer gebrochenen Frau verwendet also totalitäre Sprache, und sofort bleiben einem angesichts dieser Geschütze sämtliche Einwände stecken und man seufzt und sieht ein, dass es anscheinend noch immer nicht möglich ist, bestimmte, weiblich besetzte Themen halbwegs sachlich zu verhandeln. Noch immer, so schließlich Insa Wilke, sei die Literaturkritik patriarchal geprägt und es sei schwer, da Durchlässigkeit zu schaffen. Umso dankbarer muss man sein, dass die Jurypräsidentin das sieht und ausspricht, und auch dem Jury-Neuzugang Thomas Strässle, dass er die Qualitäten in diesem Text gesehen und Laura Leupi eingeladen hate. Dennoch, man fühlte sich ungut an die frühen Jahre des Literarischen Quartetts erinnert und an die genervten bis abwehrenden Reaktionen der männlichen Kritiker, sobald ein weiblicher Alltag verhandelt wurde wie etwa in Marlene Streeruwitz’ Roman „Verführungen“, oder gottbewahre, weibliche Körperfunktionen, die nicht dem männlichen Amüsement dienen.

Nicht jeder Text ging in diesen Tagen in Klagenfurt so sehr ans Eingemachte wie der von Leupi, aber vielen merkte man an, dass sie sich an persönlichen Erfahrungen und Biographien entlanghangeln. Jayrôme C. Robinet, eingeladen von Mithu Sanyal, erzählt die Geschichte eines französisch-sizilianischen Mädchens, das zu einem deutschen Mann wurde, eingebettet in eine traumatische und anrührende Familiengeschichte. Er bekam viel Applaus und Zustimmung, am Ende aber keinen Preis. Jacinta Nandi erzählt mit bösem Humor von einer Mutter, die sich einredet, die Beziehung zu ihrem Mann sei keine Gewaltbeziehung. Deniz Utlu und Yevgeniy Breyger hadern mit Vätern mit Schlaganfall, allerdings in sehr unterschiedlichen Stilregistern.

Martin Piekar hadert sehr laut mit seiner polnischen Mutter, und überlässt ihr den zweiten Teil des Textes, in dem sie in ihrem eigentümlichen Deutsch zu Wort kommt. Ein Deutsch, so wird Piekar später in der Pause erklären, das in Millionen Haushalten gesprochen wird und es verdient, endlich Eingang in die Literatur zu finden. Seine Mutter fand es selbst nicht literaturwürdig, obwohl sie immer schrieb. All diese Geschichten handeln von Einwanderung, von Anpassung und Selbstfindung und zeigen, dass dieses Thema noch sehr, sehr lange nicht auserzählt sein wird. Oder, wie Sanyal in der Diskussion zu Robinets Text bemerkte: „Es gibt doch mehr als eine von uns.“ 

Zwei der Siegertexte, der von Valeria Gordeev (Bachmannpreis) und Anna Felnhofer (Deutschlandfunkpreis) berichten in sehr subtiler Weise von Gewalt. Felnhofer, die als Psychologin arbeitet, erzählt von einem Opfer von Schulhof-Mobbing, das sich in seine Rolle zu fügen beginnt, und darüber hinaus noch sehr viel mehr. Auch Gordeevs Protagonist, der die Zumutungen des Alltags nur im Putzwahn übersteht, weist über seine kleine enge Bakterienwelt hinaus. Bei beiden Lesungen verstummte das Publikum, nur das gelegentliche Geraschel des Seitenblätterns war im Garten unter den Pavillons zu hören und ab und zu das Heulen einer Sirene, weil die Freiwillige Feuerwehr gleich nebenan ist. 

Aber ist ein Text dann ein guter Text, wenn er einen aufwühlt? Mithu Sanyal sprach sich energisch dafür aus. Mara Delius und Philipp Tingler waren die Vertreter der objektiven Kriterien, die sie an einen Text anlegen wollten wie ein Maßband. Insa Wilke wiederum beharrte darauf, dass jeder Text nur aus sich selbst heraus zu beurteilen sei. Leider sprach gegen Tingler und Delius, dass sie die konsequent langweiligsten Autoren eingeladen hatten. Ist Langeweile ein objektiv messbares Kriterium? Sicher nicht, aber irgendetwas in einem anstoßen darf ein Text dann doch, und sei es ein ganz unaufwühlender Denkprozess. Mara Delius lud zum einen Andreas Stichmann ein, der das Publikum mit einem Mann in Midlife-Crisis konfrontierte, der an Nesselsucht leidet und Menschen miteinander verwechselt. Ein „mittelalter Mann mit Männerkrise“, so formulierte es Insa Wilke, die an dieser Stelle noch ein wenig Restmitleid mit dem Patriarchat aufbringen konnte. Mittelprächtig genervt war die Jury bei Delius zweiter Autorin, Anna Gien, und ihrem somnambulen Traumtagebuch einer Erzählerin mit Thomas-Bernhard-Fetisch. Ja, das ist exakt so unangenehm wie es klingt. 

Philipp Tingler hat eine Vorliebe für Gesellschaftsromane, er hat selbst welche geschrieben, und nun lud er zwei Autoren ein, die ungefähr das lieferten. Sophie Klieeisen mit einem Hauptstadtevent im Humboldtforum, in dem neben Polit- und Kulturschickeria auch der leibhaftige Teufel auftritt, wenn man ihn germanistisch zu enträtseln vermochte. Zudem Mario Wurmitzer mit dem jährlichen, obligatorischen Beitrag zur Kritik modernen Dienstleistungswesens, in dem ein Mann in einem Tiny-House-Musterhaus lebt und sich dabei zuschauen lässt, das Modell muss schließlich verkauft werden Das klingt recht witzig, bleibt aber letztlich brav und harmlos. Oder, um ein Reizwort der diesjährigen Debatte einzubringen: konventionell. Darunter allerdings verstand jeder etwas anderes. Geklärt wurde dieser Komplex in diesem Jahr nicht, das wurde vertagt und lieber in der Schlussrunde noch ein wenig ausgekeilt. Weil die Jurysitzungen zur Ermittlung einer Shortlist abgeschafft wurden, finden letzte brachiale Überzeugungsarbeiten nun anscheinend vor den Kameras statt. 

Am Sonntag wurden die Preise vergeben und in allen Nachrichtensendungen vermeldet. Valeria Gordeev und Anna Felnhofer bekamen Preise, dazu Laura Leupi einen und Martin Piekar gleich zwei. Sie packen die Preise ein und verlassen noch am selben Tag die Stadt. Nur der Stadtschreiber darf im Sommer mehrere Monate in der Künstlerwohnung verbringen und daran erinnern, dass die Stadt von Jörg Haiders ehemaligem Tennislehrer regiert wird. Diese Aufgabe fällt im nächsten Jahr Martin Piekar zu. Er ist Lehrer von Beruf, er wird es den Einwohnern sicherlich pädagogisch behutsam beibringen. 

Foto von Eva-Sophie Lohmeier

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