Viren, Klima, Hai-Attacken – Der Vaughnismus kämpft für den Status quo

von Jan Kutter

Für die ekligste Szene in Steven Spielbergs Film »Jaws« (»Der weiße Hai«, 1975) braucht es keinen Hai, sondern nur ein paar Menschen. Es ist der 4. Juli, der amerikanische Nationalfeiertag. Wie in jedem Jahr liegen die angereisten Badegäste bei prächtigem Sonnenschein dicht an dicht am Strand von Amity, einem kleinen Küstenstädtchen vor den Toren New Yorks. 

Doch eines ist in diesem Jahr anders als sonst: Niemand geht ins Wasser, Berichte über Hai-Attacken haben die Leute verunsichert. Amitys Bürgermeister Larry Vaughn (gespielt von Murray Hamilton) schreitet über den Strand und bedrängt ein ihm bekanntes Paar, mit gutem Beispiel voran ins Meer zu gehen: »Why aren’t you in the water? Nobody’s going in. Please, get in the water.« Nach Ausflüchten und mit sichtbaren Unbehagen nehmen die beiden ihre drei Kinder an der Hand und stapfen ins Wasser, und kurz darauf, schließlich ist heute der Tag, an dem man seine Unabhängigkeit feiert, füllt sich das Wasser mit planschenden Touristen.

Zwei Menschen sind in den Tagen zuvor vor Amity durch einen Hai ums Leben gekommen. Deshalb war der Strand zunächst von Polizeichef Martin Brody (Roy Scheider) gesperrt worden. Ein Hai würde von menschlichem Schwimmverhalten angelockt, hatte ein Experte vom Ozeanographischen Institut den Bürgermeister gewarnt (»A shark is attracted to the exact kind of splashing and activity that occurs whenever human beings swim. You can’t avoid it.«) Doch pünktlich zum Nationalfeiertag, dem Hauptumsatztag für die Fremdenverkehrswirtschaft der Stadt, schlägt Vaughn alle Warnungen in den Wind und setzt die Öffnung des Strandes durch. Man schaltet Anzeigen in den New Yorker Zeitungen. Und natürlich, so wollen es die Gesetze des Genres, nimmt das Desaster damit erst recht seinen Lauf.

Nach gut eineinhalb Jahren, in denen unser Leben weitreichend von Pandemie-Wellen bestimmt wurde, kommt uns das Wechselspiel aus erzwungenem Lockdown und gegenläufigen Öffnungsbestrebungen aus »Jaws« arg vertraut vor. Spielbergs Film basiert auf einem Bestseller von Peter Benchley, der gemeinsam mit Carl Gottlieb auch das Drehbuch verfasst hat. Die Figur des Bürgermeisters Vaughn ist ursprünglich als Karikatur eines jovialen Geschäftsmanns angelegt, der seine Geschäftsinteressen nicht immer von den Anforderungen seines politischen Ehrenamts trennen kann. In Benchleys Romanvorlage (wo er »Vaughan« geschrieben wird) ist er im Hauptberuf ein etwas windiger Immobilienmakler, der sich mit den falschen Leuten eingelassen hat. Heute erscheint uns der Bürgermeister als Prototyp all jener Politiker*innen, für die der Schutz von Menschenleben vor allem Gegenstand kurzfristiger Kosten-Nutzen-Erwägungen ist und die in einer Krise wie selbstverständlich immer darauf achten, dass die Ökonomie nicht zu kurz kommt.

Ein Sommer, der gerettet werden soll

Es geht in »Jaws« um einen heißen Sommer auf Long Island in den 70er Jahren, doch wenn man den Film heute wieder schaut, ist es schwierig, dabei nicht an die anderthalb Jahre Pandemie zu denken, in denen Umsatz, Urlaub, Feiertage im Zweifel wichtiger waren als der Schutz von Menschenleben, sofern dieser Verzicht verlangte oder Veränderungen alter Gewohnheiten erforderte. Deshalb wurde die Figur des Bürgermeisters Vaughn in den Sozialen Medien mittlerweile für allerlei Memes verarbeitet.

Die Parallelen sind augenfällig: Es geht in »Jaws« um einen Sommer, der noch gerettet werden soll (»We can still have a summer«, fleht Vaughn im Roman; »we might be able to save August!«, versucht im Film Chief Brody dem Bürgermeister eine Verlängerung der Strandschließung im Juli schmackhaft zu machen). Es geht um die Feiertage, die man den Leuten nicht verderben möchte (»Tomorrow is the Fourth of July! We will be open for business! It’ll be one of the best summers we’ve ever had!«). Es geht um den Umsatz, den man machen will und der die heimische Wirtschaft hart trifft, wenn er ausbleibt, weil die Geschäfte nicht öffnen (»For God’s sake, man, this town is dying. People are out of work. Stores that were going to open aren’t«, heißt es im Roman, »we’d be cutting our own throats«, und: »Every day we keep the beaches closed, we drive another nail into our own coffin«). Und es geht nicht zuletzt um Geld, dass die Gemeinde sparen möchte, denn der alte Seebär, der anbietet, den Hai zu töten und die Stadt so zu erlösen, verlangt für den Geschmack der Stadträte zu viel.

In dieser Gemengelage lassen auch Wissenschaftsfeindlichkeit und die Verleugnung von Fakten nicht lange auf sich warten. Als der Meereskundler Matt Hooper und Polizeichef Brody den Bürgermeister mit einer Flut an Fakten konfrontieren und sich auf einen Konsens der Experten berufen (»There is a kind of shark called a Great White Shark that every expert in the world agrees is a men-eater!«), gibt sich Vaughn davon unbeeindruckt: Er werde wegen einer derart fadenscheiniger Beweislage doch keinen ökonomischen Selbstmord begehen. Die Stadt sei auf Badegäste angewiesen; wenn die Strände geschlossen blieben, sei man erledigt (»Well, I’m not going to commit economic suicide on that flimsy evidence! We depend on the summer people for our very lives, and if our beaches are closed, then we’re all finished«, zitiert nach Benchleys und Gottliebs Drehbuch; in der finalen Filmfassung fehlt der erste Satz). 

Schöner und patziger hätte es auch Armin Laschet, der öffnungsfreudige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, vor der zweiten Covid-Welle nicht ausdrücken können, aber immerhin fast: »Mit Verlaub, mir sagen nicht Virologen, was [für Entscheidungen] ich zu treffen habe, sondern ich treffe [sie] in Verantwortung für die Leute, für die ich verantwortlich bin.« Und während Laschet später meinte, man sei klug beraten, stets zu hinterfragen, was jene gerade wirklich im Schilde führten, die sich auf die Wissenschaft berufen, lag es für Larry Vaughn längst auf der Hand, was Wissenschaftler*innen treibt: »Get your name into the National Geographic!«

Die Hoffnung auf steigende Temperaturen

Dennoch können Experten durchaus nützlich sein, zumindest, wenn sie wissen, was sie zu sagen haben. So findet Vaughn zu Beginn der Kalamitäten einen Mediziner, der bereit ist zu bescheinigen, die offenkundigen Bissspuren am ersten Opfer könnten auch von einer Schiffsschraube herrühren. Und während der Hai vor dem Strand von Amity seine Runden dreht, hofft man an Land auf die Rettung durch Wetter: Mit jedem Tag werde es wärmer, weiße Haie bevorzugten aber kühleres Wasser, erklärt in Benchley Roman ein Verbündeter des Bürgermeisters  (»It’s getting warmer every day. (…) Great whites prefer cooler water.«) Womöglich sei der Hai also längst weitergezogen. Das klang neulich im nordrhein-westfälischen Landtag kaum anders, als Armin Laschet zur Covid-Pandemie erklärte: »Wir alle hatten die Hoffnung, aus der Erfahrung des letzten Jahres, dass wenn der Frühling kommt, es wärmer wird, die Virus-Ansteckung zurückgeht und die Zahlen sinken.«

Also setzt Vaughn die Öffnung durch. Jedoch: Keine Öffnung ohne vorherigen Lockdown. Nach den ersten beiden Toten — die Bedrohung ist noch neu, der Schreck noch frisch, die Angst groß — hatte Brody zunächst die Schließung des Strandes durchsetzen können. Die Vorsicht überwog. Im Roman ist unklar, wie lange dieser Lockdown dauern mag (»I don’t know. As long as it takes. A few days. Maybe more«, so Brody). Im Film lässt es Vaughn gar nicht erst so weit kommen. Nur scheinbar gibt er klein bei, um dann seinen Polizeichef in einer öffentlichen Stadtversammlung mit beschwichtigender Geste und einem willkürlichen Grenzwert auszubremsen: Nur für 24 Stunden! 

Vaughn kann dabei auf den Unmut der Bevölkerung setzen. »24 hours is like three weeks!«, ruft ein erregter Einwohner, dem auch dieser sinnlose Kompromiss noch zu weit geht, und eine Querdenkerin zweifelt trotz zweier Toter am Grundsätzlichen: Man wisse ja noch nicht mal, ob es den Hai überhaupt gebe! (»We don’t even know if there’s a shark around here!«) Auch der Diktatur-Vorwurf steht nach der Strand-Schließung schnell im Raum. Im Roman hört Brody, wie jemand hinter seinem Rücken über ihn herzieht: »… like a goddam dictator, if you ask me.« Die Merkel-Diktatur lässt grüßen.

Verbissenes Beharren auf dem Status quo

Es gibt ein paar Unterschiede zwischen dem Larry Vaughan im Roman, der stärker von dubiosen Eigeninteressen getrieben ist, und dem Larry Vaughn im Film, der als Lokalpolitiker und typischer Exponent des Handelskammer-Republikanismus der Siebziger Jahre stets die Interessen der lokalen Geschäftsleute mit dem Gemeinwohl gleichsetzt. In beiden Fällen ist er ein jovialer, privilegierter Ignorant, der das verbissene Beharren auf dem Status quo für Besonnenheit hält. Je lauter Mahnungen und Warnungen werden, desto mehr versteht er es als seine Aufgabe, Alarmismus zu beklagen und durch geschmeidige Beschwichtigung ein ausgleichendes Gegengewicht zu setzen (»Look, fellas, let’s be reasonable!« oder, im Roman, »but be subtle« und »Maybe we’re overreacting to this whole thing«). 

Als Vaughn abwägen muss zwischen dem Schutz von Menschenleben und Profit, ist seine Position glasklar: Jetzt mal nicht überreagieren! Wir müssen Geld verdienen! Schaut man Spielbergs Film heute, kommt es einem vor, als hätten die Entscheider von Ischgl, dem ersten Hotspot, den das Corona-Virus in Europa fand (offizieller Fremdenverkehrs-Slogan: »Relax. If You Can«), ihr Handwerk am Larry Vaughn Institute of Crisis Management gelernt.

Wer würde ernsthaft daran zweifeln, dass Larry Vaughn heute auch sein Herz für die Küchenbauer und Möbelhäuser entdeckt und einen verkaufsoffenen Sonntag mitten in einer Pandemie angesetzt hätte statt »immer neue Grenzwerte (zu) erfinden, um zu verhindern, dass Leben wieder stattfindet«, wie es Armin Laschet beklagte? Viele Eltern, die ihre Kinder immer wieder in Schulen zurückschicken mussten, ohne dass dort überzeugende Schutzmaßnahmen umgesetzt waren, dürften sich in dieser Lage ähnlich gefühlt haben wie die Einwohner von Amity, die von ihrem Bürgermeister ins Wasser geschickt wurden.

Als Donald Trump darauf beharrte, das Corona-Virus sei einerseits nur ein Hoax, aber andererseits komplett unter Kontrolle, argumentierte er wie Larry Vaughn in einem Fernsehinterview am Strand, in dem er die Hai-Attacken verharmloste und zugleich erklärte, der Übeltäter sei längst zur Strecke gebracht. In Florida blieben während des ersten Lockdowns die Strände noch lange geöffnet und auch sonst tritt der Gouverneur Ron DeSantis häufig auf, als wolle er einen Larry-Vaughn-Lookalike-Contest gewinnen. 

Die häufig erhobene Forderung, man müsse lernen, mit dem Virus zu leben, das Leben sei nun mal nicht ohne Risiko, ist sortenreiner Vaughnismus: Den Strand zu öffnen sei ein Risiko, erklärt der Bürgermeister im Roman, aber ein beherrschbares und lohnendes (»It’s a calculated risk, but I think—we think—it’s worth taking.«). Immerhin, die Chuzpe, öffentlich zu erklären, man müsse lernen, mit Haien zu leben, fehlte ihm noch. Aber wenn Wissenschaftler*innen heute in der Pandemie den von vielen ersehnten »Öffnungsorgien« (Angela Merkel) eine No-Covid-Strategie entgegenstellen, klingen die Erwiderungen erstaunlich nach dem großen Beschwichtiger Vaughn.

Ein Ordensbruder von Opus Larry

Relativierungen wie diese kennen wir natürlich auch aus anderen Zusammenhängen. So sehr das Lockdown-Öffnungs-Dilemma in »Jaws« mit all seinen gesellschaftlichen Verwerfungen uns heute, fast fünfzig Jahre, nachdem der Film in die Kinos kam, mit der wundgetesteten Nase auf die Covid-Pandemie stößt, so sehr haben sich die hier beschriebenen Mechanismen der Verantwortungsabwehr auch in anderen Politikfeldern festgesetzt. Je lauter etwa die Rufe nach wirkungsvollen Maßnahmen gegen die Erderwärmung und zur Eindämmung der Klimakatastrophe werden, desto schneller kommen von den Vertreter*innen des Status quo die beschwichtigenden Appelle nach Mäßigung, Vernunft und dem Primat der Wirtschaft. 

»Klimaschutz wird nur dann funktionieren, wenn unser Wohlstand dadurch nicht gefährdet wird«, glaubt (oder zumindest sagt) etwa der Bundesminister für Wirtschaft und Low Energy, Peter Altmaier, weil er begriffen hat, dass der Schutz von Badegästen nur dann funktionieren kann, wenn die Einnahmen aus dem Tagestourismus dadurch nicht gefährdet werden. 

Deshalb haben die Vaughnianer schließlich doch noch eine Rolle für die lästige Wissenschaft gefunden: Sie solle, so stellt es sich beispielsweise FDP-Chef Christian Lindner vor, an technischen Lösungen tüfteln, die uns so weiterleben lassen wie bisher, aber die Forscher*innen sollen uns gefälligst nicht mit Aktivismus und Alarmismus auf die Nerven gehen. (In Benchleys Roman fragt Larry Vaughn, ob man die Küste denn nicht mit riesigen stählernen Netzen vor Haien schützen könne, doch nach dem Einwand, eine Million Dollar würde die Lösung wohl mindestens kosten, wird die Idee nie wieder auch nur erwähnt.)

Jetzt bloß nicht überreagieren, proklamieren also die Erben Larry Vaughns, lasst uns statt dessen lieber auf intelligente Lösungen setzen, um den Hai mit dem Badegast zu versöhnen. »Entschuldigung, weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik«, antwortete kürzlich Armin Laschet, mittlerweile zum CDU-Kanzlerkandidaten aufgerückt, auf die Frage, ob die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz, die zu diesem Zeitpunkt mehr als Hundert Todesopfer gefordert hatte, nicht ein Wendepunkt in der Klimapolitik sein müsse und offenbart sich damit als Ordensbruder von Opus Larry.

Die Vaughnianer sind unter uns

Viren, Klima, Hai-Attacken: Für den Vaughnismus ist es letztlich gleich, wogegen die herrschenden Verhältnisse und der vertraute Trott verteidigt werden müssen. Das Beharren auf dem Status quo, das vor allem ein Beharren auf bewährte Einnahmequellen ist, ist sein verlässlichstes Erkennungszeichen. Wenn es um die Frage »Geld oder Leben?« geht, können Maßnahmen für Klimaschutz oder Pandemiebekämpfung für die Vaughianer von heute immer nur zu weit gehen: Auch sie würden den Strand nie für länger als 24 Stunden sperren. 

Larry Vaughn würde hervorragend in unsere Zeit passen, aber seine Nachfolger*innen sind längst überall, und einer von ihnen bekennt sich sogar ganz offen zu dessen Erbe: »Der wahre Held in ›Jaws‹ war der Bürgermeister, ein wunderbarer Politiker«, erklärte der heutige britische Premierminister Boris Johnson in einer Rede vor Geschäftsleuten, bevor er in London selbst zum Bürgermeister gewählt wurde. »Ein gewaltiger Fisch frisst die Bürger in deinem Wahlkreis und er entscheidet, die Strände geöffnet zu lassen.  Okay, in diesem Falle lag er letztlich falsch. Aber grundsätzlich brauchen wir mehr Politiker wie diesen Bürgermeister.« In einem Artikel hatte er zudem geschrieben: »Es gibt eine gute Sache an ihm, und das ist seine Weigerung, sich der Hysterie zu ergeben. Ich liebe seine Rationalität. Natürlich stellte sich heraus, dass er sich geirrt hatte. Aber das ändert nichts daran, dass er im Grundsatz auf heldenhaften Weise richtig lag.«

Auch als Premierminister scheint sich Johnson noch immer auf sein großes Vorbild zu berufen. Nach dem ersten Corona-Lockdown in Großbritannien habe er bereut, sich diesem nicht stärker widersetzt zu haben, berichtet sein damaliger Berater Dominic Cummings: »Sein Argument war hinterher: Ich hätte der Bürgermeister aus ›Jaws‹ sein und die Strände geöffnet lassen sollen.« Cummings ist allerdings selbst ein ausgewiesener Vaughnianer mit zweifelhafter Glaubwürdigkeit.

Wer darauf hofft, dass eine solche Politik im Schadensfall zu Rücktritten führt oder bei Wahlen abgestraft wird, erhält leider keinen Trost aus der Filmgeschichte: Die leidige Angelegenheit mit den Toten am Strand hat Larry Vaughn nicht viel anhaben können. Im Sequel »Jaws 2« (»Der weiße Hai 2«, 1978) ist Larry Vaughn jedenfalls immer noch im Amt. Schon im ersten Teil stammelt er sich, als ihm endlich klar wird, was er angerichtet hat, seine künftige Verteidigungslinie zurecht: »I was acting in the town’s best interest!« Und nicht zuletzt: Seine Kinder seien schließlich auch am Strand gewesen.

Photo by shailendra Pratap Singh on Unsplash

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