Virale Welterklärer – Die Rhetorik von Richard David Precht und Serdar Somuncu

von Simon Sahner

Kürze ist ein zentrales Paradigma der Gegenwart. Die knapp und bündig vermittelte Nachricht und der leicht konsumierbare Block an Wissen, den man zwischendurch mitnehmen kann, sind entscheidend für eine Mediengesellschaft, die vorrangig nebenbei Nachrichten und Informationen aufnimmt. Damit arbeiten Apps wie Blinkist oder Infotainment-Accounts auf TikTok teilweise sehr erfolgreich. Niklas Kolorz beispielsweise hat diese Form der elegant unterhaltsamen Wissensvermittlung in seiner #MindBlownUniversity auf TikTok perfektioniert. Sein Account ist ein Paradebeispiel dafür, wie man in wenigen Minuten viel Wissen auf ansprechende Art vermitteln und dadurch Interesse anstoßen kann.

Je nach Umsetzung ist diese Kürze aber für viele Themen auch ein Problem, weil komplexe Inhalte dadurch oft auf knappe Video- oder Textschnipsel heruntergebrochen werden, die leicht verständlich, sofort nachvollziehbar und kognitiv schnell zu verarbeiten sind. Das Problem entsteht dann, wenn die prägende Kürze der Gegenwart auf Verkürzung trifft, wenn Kürze nicht erzeugt wird, indem Wissen kompakt aufbereitet wird, sondern wenn Kontexte verschleiert oder ignoriert werden, wenn Komplexität zugunsten von einfachen Erklärungen verschwindet. Dann entsteht der Schein einer leicht durchschaubaren Weltlage. Der Anschein der Welterklärung in unter drei Minuten ist eine Kunst, die auf TikTok gerade erst ihre volle Blüte erreicht hat, obwohl ihre Voraussetzungen schon viel älter sind und wir sie seit Jahren auf Bühnen, in Talkshows und in Podcasts erleben.

Männer, die die Welt erklären

Zwei Virtuosen der verkürzten Kürze sind der Kabarettist Serdar Somuncu und der Medienphilosoph Richard David Precht. Zunächst scheint die beiden recht wenig zu verbinden. Somuncu tritt auf als der cholerische Empörer, der nicht davor Halt macht, in vulgärer Sprache scheinbar klare Ansichten auszusprechen. Precht liebt zwar auch die große Geste, vollführt diese jedoch mit einer pointierten Eleganz und einer ruhigen und kontrollierten Sprechweise, die Somuncus Wutausbrüche wie eloquente, aber unbeherrschte Rants erscheinen lassen. Beide sind aber in ihrer jeweiligen Rhetorik bestens dafür geeignet, ihre Aussagen in knappen Ausschnitten im endlosen Feed von TikTok zu positionieren, weil ihre jeweiligen kommunikativen Register sofort verfangen: Selbstsichere Wut und beherrschte Souveränität sind beinahe ebenbürtig in ihrer Fähigkeit Aufmerksamkeit zu erzeugen und ein Publikum auch in der rasanten Aufmerksamkeitsökonomie des TikTok-Feeds bei der Stange zu halten.

Auffällig ist das vor allem, weil beide in den letzten Wochen mit Videoausschnitten auf TikTok omnipräsent waren, dabei wurden die Parallelen besonders in ihren Auslassungen zum Krieg gegen die Ukraine erkennbar. Geteilt wurden die Auszüge meist zustimmend von privaten Accounts. Die Parallelität dieser kurzen Ausschnitte aus langen Gesprächen ist nicht nur aufgrund des Themas auffällig, in beiden Fällen sind die Gesprächspartner von Somuncu und Precht irgendwann nur noch Stichwortgeber, die den beiden eine Spielfläche bieten, um ihre Ansichten so pointiert wie möglich zu platzieren. Somuncu ist im Gespräch mit seinem Kabarett-Kollegen Florian Schröder. Die beiden betreiben einen Podcast bei radioeins und haben in den vergangenen Wochen Sonderfolgen vor Publikum aufgezeichnet – ein Männergespräch über wichtige Themen auf großer Bühne mitten im politischen Zentrum Berlins im “Tipi am Kanzleramt”. Richard David Precht hingegen sitzt seit geraumer Zeit wöchentlich im konzentrierten Podcast-Talk von ZDFheute mit Markus Lanz, zuletzt in einem dunklen Tonstudio an einem groben Tisch im Landhausstil vor Mikrofonen bei Cola im Tumbler und Mineralwasser aus der Glaskaraffe. Hier das politisch-kritische Entertainment, da der intellektuelle Austausch zweier Männer, die die Gegenwart im Blick haben. Auf beiden Seiten das Gespräch über einen Krieg, der Europa, die NATO und Teile der Welt in Atem hält, dessen Verlauf aber sowohl Somuncu als auch Precht bereits durchschaut haben wollen. Die Quintessenz beider Redner ist: Der Ausgang dieses Konfliktes ist längst klar, das wird aber verheimlicht und deswegen braucht es Menschen wie Somuncu und Precht, die Klartext reden.

Somuncu – das Sprachrohr der Wütenden

Klartext redet insbesondere Somuncu gerne und betont das auch wiederholt. Damit liefert er auch das Stichwort, unter dem Auszüge aus seinem insgesamt fast halbstündigen Wutausbruch auf TikTok geteilt werden. Der Tenor des „Endlich sagt’s mal jemand!“ begleitet diese Videos. Die Strategie, die er dabei anwendet, ist ebenso simpel wie wirksam. Sie besteht aus einer rhetorischen Performance und einer Argumentationsstruktur, die gemeinsam den anschließenden Applaus nicht nur fordern, sondern ihn beinahe erzwingen. Somuncu beginnt, indem er das Motiv der Ohnmacht aufgreift und sich selbst auf eine Ebene mit dem Publikum stellt, das sich angesichts der Weltlage und der Situation in der Ukraine so ohnmächtig fühlen dürfte, wie die meisten Menschen in Deutschland. 

Mit sicht- und hörbarer Wut und Empörung legt Somuncu seine Ansichten dar. Er hält das zögernde Handeln der deutschen Politiker*innen für unzumutbar und finalisiert die Aussage mit dem Ausruf „Macht Entweder-Oder, aber macht’s!“. Somuncu fordert Pazifismus, Handlungsstärke und Überzeugung, eine klare Linie, Entscheidungskraft und vor allem eines: einfaches und logisches Vorgehen. Mit wuterfüllter Stimme äußert er sein Unverständnis darüber, dass man Putin und Selenskyj nicht zum G7-Gipfel nach Elmau eingeladen hat. Man hätte sie an einen Tisch setzen und sagen sollen: „Redet miteinander, wenn ihr wirklich Frieden wollt, dann redet miteinander!“ Ein kurzes Nicken des Kopfes Richtung Schröder, die auffordernde Hand ausgestreckt, Spannung im Körper halten, der Applaus im Publikum ist dann nur noch eine Frage des Automatismus.

Somuncu liefert vereinfachte, aber leicht vermittelbare Problemlösungsstrategien, die nie auf ihre Funktionalität getestet werden müssen, weil er sie sowieso nicht umsetzen könnte. Der Zuspruch des Publikums ist ihm aber sicher, weil er hochkomplexe Konflikte auf das Niveau eines Streits zwischen Nachbarn herunterbricht, bei dem man sich halt mal an einen Tisch setzen und reden muss. Damit greift er ein Ressentiment auf, das viele, die im Tipi am Kanzleramt sitzen, denen gegenüber, die im Kanzleramt sitzen, spüren dürften: Die Erzählung von den abgehobenen Politiker*innen und Eliten, die hinter verschlossenen Türen agieren, obwohl die Lösung eigentlich offen auf dem Tisch liegt, an den man sich nur mal setzen müsste. 

Es ist Somuncus bevorzugte Strategie, eine Verbindung zum Publikum aufzubauen, indem er dessen Ängste und Wut in eine laute Polemik kleidet. Er tut und sagt das, was viele, die ihm zuhören, gerne tun und sagen würden, aber nur er bekommt die Bühne dafür. Seine Floskeln sind so einprägsam und wahr wie sie verkürzt sind: „Jeden Tag sterben Menschen“, „die sollen sich den Arsch aufreißen“, „ich hab keinen Bock“, mit Putin muss man wahlweise „einfach mal reden“ oder er ist „durchgeknallt, bekloppt“ und Politiker*innen sollen „die Eier dazu haben,“ etwas zu tun. Er ist das Ventil der bürgerlichen Wut, die sich aus der Angst speist, in einen Krieg hingezogen zu werden, der zwischen Atommächten geführt werden könnte. 

Die Szenarien, die Somuncu entwirft, sind ohne Zweifel erschreckend und die Frage ist nicht, ob man alles tun sollte, um sie zu verhindern, sondern vielmehr, wohin die Angst, die Wut und der Wunsch nach einfachen Lösungen führen. Im Zweifel führen sie dazu, dass man mehrere Faktoren außer Acht lässt, um sich in dem Gefühl sonnen zu können, klarer zu sehen als die Akteure des Konflikts. Bei Somuncu führen sie zudem zu cholerischen Beschimpfungen “ukrainischer Geflüchteter mit Porsche” und zu einigen Sätzen, die seinem Gegenüber Florian Schröder angesichts eines reißerischen Populismus die Gesichtszüge entgleiten lassen.

Durch Verkürzungen, moralisierende Entweder-Oder-Forderungen und eine mitreißende Rage entsteht so der Anschein einer glasklaren Weltlage, für deren Beherrschung es lediglich „Eier“ und einen moralischen Kompass braucht: Wer will Somuncu schon darin widersprechen, dass alle Geflüchteten gleich behandelt werden sollen, dass ein Atomkrieg katastrophal wäre und jedes Menschenleben wertvoll ist?

Richard David Precht – Der Philosoph der Besonnenen

Was Somuncu für die Wütenden ist, ist Richard David Precht für diejenigen, die sich gerne als kritisch und besonnen sehen. Und so unterschiedlich sie in ihrem Auftreten sind, so ähnlich sind sich beide in der Art und Weise ihrem Publikum das zu geben, was es sich wünscht: Klare Ansichten und Standpunkte in einer hochkomplexen Welt.

„Welchen Preis ist man bereit für den Frieden zu bezahlen, wieviel Landfläche, wieviel Unabhängigkeit, wieviel Souveränität, wieviel Freiheit, wieviel Demokratie ist man bereit zu opfern für den Frieden.“ Mit sonorer Stimme liest Markus Lanz das Zitat von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg vor, Precht hört andächtig zu, nickt nachdenklich – die Furchen in seiner Stirn ebenso tief wie die Rillen in dem einfachen Holztisch vor ihm. Er denkt sichtbar nach. Als Lanz ihm den Urheber des Zitats offenbart, nickt er wieder und setzt an, erwähnt eine weitere Aussage Stoltenbergs, widerspricht ihr und entwirft ein Szenario, in dem der Krieg seiner Ansicht nach enden wird. Die ganze Inszenierung ist darauf ausgelegt, einem Mann, der alles im Blick hat, beim klugen Denken zuzuschauen. Markus Lanz, mit seinen Notizen, den Nachfragen, dem stetigen Nicken und dem wiederholt eingeworfenen „Genau“ hat die Rolle des Zuschauers inne, dem Precht die Welt erklärt. 

Obwohl Precht seine Redebeiträge öfters mit „meine Vermutung ist“ oder „ich denke“ einleitet, gleitet er jedes Mal beinahe unbemerkt in Aussagen im Futur I, die Dinge werden so kommen, wie Precht es vermutet. Seine Einschätzungen werden zu Aussagen über eine Zukunft, die Lanz und die Zuschauer*innen noch nicht sehen können, weil sie noch an Zahlen und emotionalen Geschichten hängen, die sie in der Presse lesen und hören oder die sich Lanz, wie er sagt, vom Bild-Reporter Paul Ronzheimer erzählen lässt.

In Prechts Aussagen liegen kein Zweifeln und kein Zögern, nur wohlgesetzte Pausen, seine Stimme, geschult von hunderten Vorträgen, sitzt so tief im unteren Brustbereich, dass sich das beruhigende Timbre über die Mikrofone zu übertragen scheint. Immer wieder spricht er Lanz direkt an, bestätigt ihm etwas und erklärt. Seine Strategie ist nicht Wut, sie ist Verständnis, Logik und Beruhigung. Er spricht vom Krieg, der „in die Dörfer und die Kleinstädte kommt, das sind Bauern, völlige unpolitische Bauern. Die haben einfach nur Angst.“ Einen Satz, den Somuncu sinngemäß genauso sagt. Der Blick auf den einzelnen Menschen im Krieg ist in seinem Effekt unschlagbar, weil er die unübersichtlichen und unsicheren Zahlen, die hochkomplexen Zusammenhänge und die Weltpolitik auf den Menschen zurück bezieht, der von all dem betroffen ist und der nur sein einfaches Leben leben will: der unpolitische Bauer. Widersprechen wird auch hier niemand, aber was ist damit gesagt?

Gesagt ist damit das gleiche, was auch Somuncu sagen will und Precht spricht es aus: „Was wird der Öffentlichkeit vorenthalten? Was wird da im Hintergrund vorbereitet?“ Letztlich erklären sowohl Somuncu als auch Precht, dass die einfache Bevölkerung von Politiker*innen unwissend gehalten wird, dass große Zusammenhänge bestehen, die wir nicht verstehen sollen, denn wer sagt uns eigentlich, wer wirklich die Bösen sind? Natürlich sind sich alle darin einig, dass Russland der Aggressor sein muss, das steht weder für Somuncu noch für Precht in Frage, so sagen sie es beide. 

Während Somuncu aber doch von Provokation redet und die imperialistischen Kriege der USA anführt und damit dem Argument Vorschub leistet, der Angriff Russlands sei ja auch nichts anderes – ja und, selbst wenn? – verweist Precht darauf, dass die Ukraine alles Russische verbieten würde: „Im Hinblick auf die Ächtung der jeweils anderen Kultur, da tun sie sich nix.“ Auch hier sind Parallelen erkennbar. Beide Aussagen sind für sich genommen entweder korrekt – die imperialistischen Kriege der USA waren und sind falsch – oder sie zwingen zu Zustimmung – natürlich soll nicht alles Russische in der Ukraine ausgelöscht werden. So inhaltlich wie ethisch korrekt sie auch sind, müssten sie aber eine detaillierte Einordnung, eine historische und kulturelle Kontextualisierung und eine präzise Unterfütterung mit Daten nach sich ziehen. All das bleibt aus – sie stehen in all ihrer Kürze da und sorgen für Empörung und Entsetzen und deuten an, dass hier ein ganz abgekartetes Spiel im Gange ist, auf das Somuncu und Precht nur hinweisen. Was bleibt ist Kürze als Verkürzung.

Gesunder Menschenverstand und Sandkastenphilosophie

Für Somuncu und Precht ist ihre jeweilige Strategie mit dem ähnlichen Effekt prägend und beschränkt sich nicht auf Einlassungen zum Angriffskrieg auf die Ukraine. Somuncu spricht in der gleichen Weise über Pandemiepolitik, Fragen der Gleichberechtigung und anderes. Der berühmte gesunde Menschenverstand ist dabei der Hebel, um Komplexität zu verdammen, weil gesunder Menschenverstand für Somuncu bedeutet, den kürzesten Weg zur scheinbar naheliegendsten Lösung zu gehen und dabei alles auszublenden, was dieser Lösung im Weg stehen könnte: Zum Beispiel viele verschiedene Akteure mit eigenen Interessen, die nicht einfach miteinander zu vereinbaren sind, oder wissenschaftliche Fakten und politische Faktoren, die Somuncu nicht sieht oder nicht sehen will. In der Grundstruktur ähnlich geht auch Precht vor. 

Precht spricht seit Jahren gefühlt über alles und immer auf die gleiche Weise. Er äußert dabei durchaus richtige Dinge zum Beispiel zum Thema Schulsystem und Arbeitswelt, dafür aber auch immer wieder unbelegte Meinungen über Coronaimpfungen und künstliche Intelligenz, die er als Fakten verkauft. In allen diesen Fällen argumentiert Precht jedoch aus dem Sandkasten heraus, wie es Armin Nassehi kürzlich in einem Kommentar zu dem letzten offenen Brief zum Krieg gegen die Ukraine genannt hat. Prechts Entwürfe von Zukunft und seine Visionen gründen auf Gedankenkonstrukten, die im Labor unter Idealbedingungen oder eben im Sandkasten entworfen werden und die dadurch leicht nachvollziehbar und logisch sind. Damit ignoriert er ebenso wie Somuncu realweltliche Faktoren, die man in der Theorie auch getrost ignorieren kann, weil man dort seine eigenen Umstände konstruieren kann. 

Und in dieser Form tauchen die Aussagen eben auch auf TikTok auf – einmal präsentiert als lauter Wutausbruch, einmal als überlegte Welterklärung. Dass sie auch im Kontext ganzer Gespräche nicht in größeren Zusammenhängen stehen und eingeordnet werden, zeigt, dass es nicht die geforderte Kürze des Netzwerks ist, die hier die entscheidende Rolle spielt. Es handelt sich vielmehr um eine rhetorische Strategie, die als Schnipsel auf TikTok gut funktioniert, weil sich aus den langen Gesprächen Einheiten herauslösen lassen, die in zwei bis drei Minuten die Wut, die Angst, den Wunsch nach Halt und die Hoffnung auf simple Lösungen aufgreifen und spiegeln. Dabei sagen weder Somuncu noch Precht ausschließlich Falsches und werfen nicht zu Unrecht bestimmte Fragen auf, aber sie spielen beide ein Spiel, das vor allem den Zuschauer*innen gefallen soll, die sich Lösungen und vor allem einfache Lösungen erhoffen, die es nicht geben kann. So unterschiedlich sie in ihrem Auftreten auf den ersten Blick sind, so ähnlich sind sie sich in ihrer Fähigkeit ihrem Publikum das zu geben, was es sich wünscht: Das schnelle Gefühl verstanden zu werden und den Eindruck selbst etwas verstanden zu haben, und wer will das nicht, wenn man zwischendurch durch TikTok scrollt?

Beitragsbild von Bogomil Mihaylov auf Unsplash

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