Verhaltenslehren des Schmerzes. Valerie Fritschs „Herzklappen von Johnson & Johnson“

Schon früh erfährt die Hauptfigur in Valerie Fritschs neuem Roman, auf wie unterschiedliche Arten sich Menschen aus einer Welt zurückziehen, die nur Leid für sie bereithält. Almas Haus kommt der Heranwachsenden „beängstigend kulissenhaft“ vor, „brüchig zusammengezimmert“ von ihren Eltern, „wackelig und unstimmig in den Einzelheiten, als wären sie nur geborgt“. Vater und Mutter fügen sich ein in eine familiäre Entourage, bei der jedes Mitglied auf seine Weise verlernt hat, glücklich zu sein. Den Großvater lernt Alma als eingesunkenes Gespenst kennen, das aus sowjetischer Gefangenschaft zurückgekehrt war, ohne sich zurechtzufinden im sogenannten Wirtschaftswunder. Und zur Großmutter findet Alma erst als junge Erwachsene Zugang; in langen Gesprächen erzählt die Ältere der Jüngeren von einem Damals voller Kuriosa, bei dem nichts sprechender ist als das Schweigen über den gefallenen Bruder.

Es gibt auf den gut 170 Seiten zu diesen und anderen Sujets keine Einzelszenen im klassischen Sinne. Gespräche werden nicht wiedergegeben, sondern referiert. So legt sich der lange Hauch einer Erzählerstimme über den Stoff, der insgesamt vier Generationen umspannt. Der dritte Roman der österreichischen Schriftstellerin becirct auch deswegen so sehr, weil er bei alledem die Distanz zu wahren weiß. Tatsächlich legt Fritsch mit „Herzklappen von Johnson & Johnson“ eine Theorie poetischer Nahdistanz vor. Immer wieder tarieren ihre Figuren aus, wie viel Abstand sie zu sich selbst, den eigenen Erinnerungen oder anderen Menschen benötigen. Als die erwachsene Alma und der Photograph Friedrich ein Paar werden, zeigt sich, dass die Distanznahme Teil ihrer innigen Beziehung ist: „Die Nähe war ihnen auch nach Jahren keine Gewohnheit, sie kam und ging, sie gaben sich ihr hin, wenn sie sich einstellte, zwangen sie nicht herbei und ließen auch ihr Ausbleiben zu, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben“.

Ein Faible für das große Ganze

Insgesamt beleuchtet Fritschs Roman die mal schöne, mal schmerzhafte Erscheinung der Dinge und setzt sich der stupenden Wirkkraft der Wirklichkeit aus. Um den Effekt existenzieller Gestimmtheit zu vermitteln, verlässt sich Fritsch wie im vorherigen Roman „Winters Garten“ auf einen höchst evokativen Stil. Das Weltpathos spannt die Fibern dieser Prosa energetisch auf, jedes Komma möchte auratisch sein, jeder Satz will teilnehmen am großen Ganzen, an der Abgeschiedenheit des großelterlichen Hauses, an der kannibalistischen Kälte Stalingrads und an der Wochenbettdepression, in die Alma nach der Geburt ihres Sohnes Emil fällt. Dessen Biographie wird durch einen Gendefekt geprägt sein, der jegliches körperliches Schmerzempfinden unterbindet.

Für einen solchen Text gibt es nichts Schlimmeres als den Vorwurf des Lauen. Alle Rhetorik arbeitet denn auch daran, die erfahrene Wucht gelebten Lebens zu vermitteln. Das ist als Lektüreerfahrung ungemein reizvoll, zugleich erbarmungslos intensiv, weil es schlichtweg keine Leerstellen vorsieht. „Herzklappen von Johnson & Johnson“ gesteht sich keinen Moment der Entspannung zu. Und der Leser muss recht schnell einen Kompromiss schließen: die eigene Fabulierlust hintanstellen, um sich einer Imagination zu überantworten, die alles mit ihrem sinntönenden Manierismus durchdringt.

Charakterisiert werden die Familienmitglieder, indem sie in Atmosphären verpackt werden, in perfekt ausgeleuchtete Stimmungstableaus. Der Gram des Großvaters offenbart sich nicht in einem artig evidenten Dialog, in dem die blinden Flecken nachkriegsdeutscher Aufbau- und Verschwiegenheitskunst ausgestellt würden, sondern im Bild eines nackten Greises, der nachmittags in Badewannen steigt, um sein Fleisch zu wärmen, das „sich an die Winterjahre zu erinnern schien, selbst wenn er sie vergessen hatte“.

Der Text hat sich zwar Themen wie vererbte Traumata, Mutterschaft und Altersdepressionen verschrieben und sich dadurch historische, psychologische und soziale Parameter gegeben. Aber an deren Erkundung hegt er gar kein so großes Interesse. Hier will sich vielmehr eine opulente Sprache ins Werk setzen, die erst in einem zweiten Schritt nach den Sujets für ihr Sprechen sucht. Dazu passt, dass der Suizid der Großmutter vor allem deswegen in Erinnerung bleibt, weil die nächste Seite mit einem ungeheuer guten Bild aufwartet: Das Haus hat die Lebensmüde mit Post-Its zugeklebt, auf denen jeweils der Name derjenigen Person steht, die den Gegenstand erben soll – das tottraurige Testament als neongelber Blätterwald, durch den auch noch ein Luftzug gehen muss.

„Fasziniert vom großen Exzess“

Zum Ende dehnt sich der Horizont. Die Steppe, die „keine Formen kennt außer jener der Leere und jener der Weite“, wirft sich schier endlos auf, während der Zoom auf die einzelnen Figuren wieder zurückgefahren wird. Die Reise in den Osten ist doppelt motiviert: Friedrich soll für eine Zeitschrift verfallene Landstriche fotografieren. Nach dem Tod der Großeltern möchte Alma wiederum die Ruinen jenes Internierungslagers aufsuchen, das die großväterliche Biographie einst entzweigebrochen hatte.

Die Route führt durch Osteuropa hinein in die kasachische Steppe. Auch in diesen Passagen bleibt sich der Roman treu: Die politische Realität der durchkreuzten Länder kann ihm nicht wirklich in den Blick geraten – dafür sucht er zu sehr nach der sphärischen Resonanz, die ein Detail erklingen lassen könnte. In den Augen eines Roma-Kindes kann die Erzählerin nur ein magischeres, kein schlechteres Leben erblicken.

In dieser Hinsicht ist „Herzklappen von Johnson & Johnson“ einem Ästhetizismus verpflichtet, der sich sowohl bejubeln als auch bekritteln lässt: Einerseits wird das 20. Jahrhundert rhythmisiert, das doch auf grässliche Weise aus dem Takt geraten ist. Andererseits wird jedes Quäntchen Wirklichkeit einer Schönheitskur unterzogen, um schließlich in höherer Form als Metaphern- oder Syntaxkunstgebilde auf ebendiese Wirklichkeit zurückzuverweisen: „Die ganze Steppe war ein Knochenbaukasten, aus dem man sich magere Geister zusammenzimmern konnte, dürre, harte Geschöpfe mit den merkwürdigsten Formen, weißleuchtend, ein gespenstisches Wundervolk, wie gemacht für die leere Landschaft.“ Und wie gemacht für diese Literatur des Grandiosen.

Für den jungen Emil gerät die Reise zum Initiationsmoment. Zu Beginn war seine Mutter beschrieben worden, wie sie als Mädchen in Wahrnehmungsekstasen geriet, „fasziniert vom großen Exzess, der nackten, nervösen Existenz“. Nun ist er, der Schmerznaivling, der stets neu lernen muss, wie nah er die Wirklichkeit an sich heranlassen darf, an der Reihe, zwischen ihren vielgestaltigen Erscheinungen groß zu werden. Und er wird sich wie dieser Roman der Aufgabe stellen müssen, im richtigen Augenblick auf Abstand vor ihrer Wucht zu gehen.

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