Unter dem Messer – Über Mobbing, Beauty-OPs und Nietzsche in den Romanen von Mieko Kawakami

von Victor Sattler

Die Romanfiguren der japanischen Schriftstellerin Mieko Kawakami ertragen Gewalt oder Unterdrückung, aber der Ton ist nicht anklagend. Sind sie am Ende auch selbst schuld? Und könnte eine OP ihr Leben zum Guten wenden?

Die Sneakers, mit denen die 14-jährige Kojima jeden Tag in die Schule geht, sind absichtlich so schmutzig. Kojima wird von den anderen Kindern für ihren ungepflegten Körper und ihre schäbige Kleidung gehänselt, sie sei „arm und schmutzig“. Erst auf halbem Weg durch Mieko Kawakamis Roman „Heaven“ verrät Kojima dem Ich-Erzähler, dass sie großen Wert auf ihre eigene Verwahrlosung legt und diese sogar aktiv betreibt. Sie solidarisiert sich mit ihrem in Armut lebenden leiblichen Vater: „Ich laufe zur Erinnerung an meinen Vater so abgerissen herum. Es ist ein Zeichen, ein Zeichen, das nur ich verstehe. Mein Vater trägt schmutzige Schuhe, ich trage schmutzige Schuhe.“

Der ebenfalls 14-jährige, ebenfalls unter Mobbing leidende Ich-Erzähler kann das kaum begreifen. Seinen Opfer-Status verdankt er einer Fehlstellung des rechten Auges (für Kojima ein „Zeichen“), die er sich niemals selbst zugefügt hätte. Je nachdem, wie man Kojimas Verhalten letztlich deutet, rührt es an ein Tabu des Schulhof-Romans, das schwerer wiegt als die Armuts-Verkleidung: Kojima provoziert ihre Peiniger und scheint das Mobbing herbeizusehnen. In „Heaven“ ist sie eine Märtyrerin und eine Mittäterin zugleich.

Diese Wendung verkompliziert die Handlung enorm. Hatte der Roman mit ein paar Teenage-Klischees angefangen, die genauso gut in den USA wie in Japan spielen könnten, entgleitet er den Leser:innen nun immer weiter. Es bleibt nicht bei den Coming-of-Age-Ritualen (zu Beginn wird der Erzähler in einen Spind eingesperrt), wie man sie von einer Disney-Serie auf Super-RTL erwartet. Die Täter sind hier kreativer und grausamer bei der Auswahl ihrer Waffen und Werkzeuge. Das noch als „Mobbing“ zu bezeichnen, kommt dem Erzähler „irgendwie falsch“ vor, doch treffendere Beschreibungen für das Ausmaß der Gewalt fehlen in seinem jugendlichen Wortschatz. Während er schon längst resigniert hat, ist es Kojima, die über ihr geteiltes Schicksal nachdenkt, im Erzähler ihr männliches Spiegelbild erkennt und deshalb Kontakt zu ihm aufnimmt. Die beiden beginnen eine Brieffreundschaft, welche die Handlung erst in Gang setzt. Sie verstecken Zettelchen im Pult des jeweils anderen und verabreden sich zu geheimen Treffen, bei denen der Erzähler seinen Blick kaum von Kojimas vor Schmutz starrenden Schuhen abwenden kann.

Bereits im Roman „Brüste und Eier“ (2020), dem internationalen Durchbruch von Mieko Kawakami, waren die abgenutzten Sneakers eines Mädchens der Ausweis ihrer sozialen Herkunft. Viele andere solcher „Zeichen“ reihen sich in „Brüste und Eier“ in die detaillierte Milieubeschreibung ein; zum Beispiel der Osaka-Dialekt, in dem die beiden Schwestern Natsuko und Makiko miteinander über feministische Themen sprechen und der ihre soziale Klasse markiert. In beiden Romanen wird eine Operation als Befreiungsschlag präsentiert. Makiko aus „Brüste und Eier“ will ihre Brüste vergrößern lassen, weil sie es leid ist, von Männern diskriminiert zu werden, und weil ihr finanzielles Auskommen als Barkeeperin davon abhängt. Ihre jüngere Schwester Natsuko kann die geplante OP nicht gutheißen. In „Heaven“ bekommt nun der Ich-Erzähler die Chance, sein schielendes Auge korrigieren zu lassen. Er erhofft sich davon, besser zu sehen und auszusehen. Genau dieser Wunsch nach einem gesunden Auge führt jedoch zur Katastrophe zwischen ihm und seiner Brieffreundin Kojima.

Der DuMont-Verlag bemüht sich zwar um den Eindruck, „Heaven“ sei eine Neuerscheinung und nicht bloß eine Erstübersetzung ins Deutsche. Dabei stammt der Text eigentlich schon aus dem Jahr 2009 und war damals Kawakamis Roman-Debüt. „Brüste und Eier“ basiert auf einer gleichnamigen Kurzgeschichte von 2008, die Idee dazu ging „Heaven“ also noch um ein Jahr voraus. Die Parallelen zwischen beiden Büchern erklären sich auch aus Kawakamis überdauernden Themen und Motiven. Als feministische Stimme Japans hat sie schon öfters über die gesellschaftliche Bedeutung von Schönheitsoperationen geschrieben, das aber mit so viel Empathie und Begeisterung für diese Entscheidung getan, dass es schon fast wie eine Werbung für die Plastische Chirurgie klang. „Nur scheinbar“, schreibt Kawakami, sei die Beauty-OP „ein willfähriges Zugeständnis an männliche Begehrlichkeiten“. In Wirklichkeit handele es sich bei der Operation um „eine proaktive Strategie zur Sicherung […] wirtschaftlichen und symbolischen Kapitals“. Jenen japanischen Frauen, die sich unters Messer legen, bescheinigt sie vor allem einen unbändigen Überlebenswillen. Der Erzähler aus „Heaven“ kann als Beispiel für diese These dienen: Stellenweise scheint sein Leben tatsächlich davon abzuhängen, ob er dem Mobbing ein Ende setzen kann. Koste die OP, was sie wolle.

Wie die meisten Figuren aus der Feder von Kawakami ist auch Kojima ein wandelndes Argument in einer anhaltenden Debatte. Das macht sie als Persönlichkeit nicht weniger authentisch. Jugendliche Figuren für Erwachsenenromane zu schreiben ist ein besonderes Talent von Kawakami, das schon in „Brüste und Eier“ zum Tragen kam und sie laut eigener Aussage ihrer Mutterrolle verdanke. Der rotzige Idealismus, den Kojima erst in Briefen und später in Dialogen zum Besten gibt, wirkt bei einer 14-jährigen Außenseiterin wie ihr nicht aufgesetzt. Aus reinem Idealismus macht sie dem Erzähler ein Kompliment für das schielende Auge und würde ihm eine Augen-OP – den sozialen Aufstieg qua Anpassung – am liebsten ausreden. „Sie sagen zwar, dass sie es ›eklig‹ finden, aber das stimmt nicht. Sie haben Angst, einfach nur Angst“, sagt sie über sein Auge. Für sie gehört es fest zu seiner Person dazu.

Kojima hat trotz all der Schikanen kein Interesse daran, dass sich die Situation der beiden verbessert. Dafür gefällt sie sich in der Opferrolle zu gut. Ihre „wunderschöne Schwäche“ sei in Wahrheit ihre Stärke und ihre Tugend, predigt sie dem Erzähler. „Irgendwann wird sich schon zeigen, wofür wir es ausgehalten haben.“ Nur Geduld: Das Erdulden des Mobbings schule ihr Verständnis von der Welt, es mache sie unabhängig, empathisch für das Leid anderer und sogar solidarisch mit den Unterdrückten dieser Welt, behauptet Kojima. In „Heaven“ wird explizit, was als Klischee noch durch viele Filme und Bücher geistert. Während die beliebtesten Kinder beim Schulabschluss ihre besten Zeiten hinter sich hätten, würden ihre einstigen Opfer vom späteren Leben für die Schulzeit entschädigt. Vom Berufsleben verspricht man sich eine Art Jüngstes Gericht, und Kojima baut auf diesem toxischen Mythos eine ganze Religion auf. Für die Leser:innen ist schwer einschätzbar, inwieweit sie ihr Ausgeliefertsein nur rationalisiert (als eine Bewältigungsstrategie) oder dieses selbst verschuldet.

Kojima ist eine psychologisch “komplexe” Figur in dem Sinn, wie sie heute vor allem konservativen Kritiker:innen oft als Qualitätsmerkmal von Gegenwartsliteratur gilt. Jede gelungene Figur sei in sich ein moralisches Nullsummenspiel, lautet die Poetik dahinter in etwa. Umso schockierender kommt es also, als die Autorin das geringste Komplexitätsversprechen an ihre Leser:innen bewusst nicht einlöst. Fast schon dreist ist das Kapitel, mit dem sie ihre Täterfiguren als reine Täter belässt. Keine Backstory wird hervorgekramt, kein Elternhaus gezeigt und kein Unterbewusstsein ausgeleuchtet, wie es in diesem Genre üblich wäre. Im Gegenteil, der Einserschüler Momose bekennt sich im Gespräch mit dem Ich-Erzähler schulterzuckend zu seiner Gewalt, für die es ihm zufolge keinen besonderen Grund gebe. Und holt seinerseits zum Vorwurf aus: Der Erzähler werde so lange ein Opfer bleiben, prophezeit Momose, bis er sich im Kampf zur Wehr setze – sofern er das denn überhaupt könne. Das Nichtkönnen und das Können seien das wahre „Gute“ und „Böse“ in der Welt.

Spricht da aus dem 15-jährigen Rüpel wirklich der Geist von Friedrich Nietzsche? Momose schämt sich nicht dafür, seine Stärke und Machtposition auszunutzen. Er lässt es so klingen, als hätten Kojima und der Erzähler eine verzerrte Sicht auf die Dinge, mit der sie auf die Aussichtslosigkeit ihrer Situation reagieren. Diese “Sklavenmoral”, auf die Kawakami damit sehr deutlich anspielt, ist laut Nietzsche zuallererst ein psychologisches Mittel, um Rache zu nehmen, wenn sich mit Fäusten nichts mehr ausrichten lässt. Die moralische Kategorie „Böse“ wird zur Waffe, die moralische Kategorie „Gut“ zum Trostpflaster auf den eigenen Wunden, das auch zum Ausharren einlädt. Keine der beiden Kategorien sei objektiv zutreffend, wenn man Momose glauben darf, der sich keiner Schuld bewusst ist.

Die nihilistische Teenager-Figur erinnert an das Jugendbuch „Nichts“ (2000) der dänischen Schriftstellerin Janne Teller, das 2010 auch auf Deutsch erschien und als Skandalroman viel diskutiert wurde. In „Nichts“ erbringt eine eingeschworene Gruppe von Schüler:innen abwechselnd und auf Geheiß der jeweils anderen immer schwerwiegendere Opfer, bis hin zur Körperverletzung. Die Opfergaben sammeln sie auf einem „Berg der Bedeutung“, um so einen Klassenkameraden zu widerlegen, für den keine dieser Entbehrungen irgendetwas wert ist. Wie bei Teller ist es bei Kawakami ein jugendlicher Wettstreit zwischen arrogantem Nihilismus (Momose) und krampfhafter Sinnsuche (Kojima), der die Gewalt in „Heaven“ weiter eskaliert.

Statt Nietzsches Philosophie könnten in die Figur des Momose aber auch ein paar persönliche Überzeugungen der Autorin eingeflossen sein, die hier überzeichnet wurden. Seine Ausführungen motivieren den Ich-Erzähler schließlich dazu, sich einen Ruck zu geben und sein Auge operieren zu lassen. Darin klingt an, wie Kawakami den japanischen Frauen zu ihren Schönheitsoperationen gratulierte. Was für Kojima ein Zugeständnis an gesellschaftliche Normen ist, stellt sich als ein lebensbejahender Schritt heraus. Der Erzähler erobert sich die Macht über sein eigenes Leben zurück, behauptet sich, und so kümmert es ihn herzlich wenig, wie asketisch oder altruistisch seine Entscheidung für die OP war.

Feminist:innen und diskriminierte Minderheiten müssen oft Diskussionen darüber führen, ob es Zugeständnisse an den politischen Gegner gibt, die unvermeidbar sind. Im Umkehrschluss wird jeder zum Verräter an der gemeinsamen Sache, der schon zu viele Prinzipien über Bord geworfen hat. Mieko Kawakami hat mit „Brüste und Eier“ und „Heaven“ zwei unverblümte, einfach zu lesende Geschichten über die innere Zerrissenheit von marginalisierten Personen geschrieben; also über das ständige Verhandeln zwischen Idealismus und Realität.

Während das Ringen mit dem gelebten Feminismus in „Brüste und Eier“ zum beherrschenden Thema wird, ist die politische Dimension von „Heaven“ deutlich subtiler. Dennoch schildern beide Romane die Verzweiflung angesichts eines unbesiegbaren Gegners, der die Spielregeln bestimmen kann und der die eigenen Werte auf die Probe stellt. Kawakami jedenfalls scheint Sympathien für den pragmatischen Kompromiss zu hegen, bei dem das persönliche Schicksal in die Hand genommen wird. Selbst dann, wenn es Stolz und Geld kostet.

Beitragsbild von Hiroyoshi Urushima

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