Text und Geld – Über den Wert geistiger Arbeit in der digitalen Gegenwart

von Johannes Franzen

 

Alan Rusbridger, der ehemalige Chef des Guardian, erzählt in seinem Buch Breaking News, wie er 2005 zum ersten Mal davon gehört habe, dass ein 52 Jahre alter Internetenthusiast namens Craig Newmark mit einem Team von nur 18 Leuten in einem baufälligen Haus in San Francisco gerade dabei sei, im Alleingang den Zeitungsmarkt zu ruinieren. Die Geschäftsidee von „Craig’s List“ war einfach und erschien absolut naheliegend für ein digitales Format. Kleinanzeigen konnten dort schnell und eigenhändig für wenig oder gar kein Geld geschaltet werden. Für die Printmedien bedeutet das, dass sie mehr oder weniger über Nacht ihr Monopol auf den Verkauf von Aufmerksamkeit verloren. Eine Stellenanzeige in New York, die in der New York Times zwischen 672 und 954 Dollar gekostet hätte, war bei „Craig’s List“ schon für 25 Dollar zu haben.

Die Geschichte verweist auf eine der wichtigsten mediengeschichtlichen Entwicklungen der letzten zwanzig Jahre. Den Textmedien ist innerhalb kürzester Zeit ihre wichtigste Einnahmequelle weggebrochen. Das Werbebudget großer Firmen geht heute an Tech-Unternehmen wie Google und Facebook. Was das konkret bedeutet, lässt sich an einer weiteren Anekdote aus Rusbridgers Buch illustrieren. Rusbridger absolvierte seine Lehrlingszeit als junger Journalist Mitte der 1970er Jahre bei den Cambridge Evening News. Über viele Dinge hätte man sich damals keine Gedanken machen müssen, über elaborierte Geschäftsmodelle zum Beispiel.

Die Cambridge Evening News hatten eine Auflage von 50.000 und druckten regelmäßig Werbeanzeigen des örtlichen Kaufhauses oder Autohändlers. Einen großen Anteil des Budgets machten außerdem die Kleinanzeigen aus. Die Lokalzeitung war der Ort, wo ein Großteil der gebrauchten Autos oder Häuser in Cambridge zum Verkauf angeboten wurden. Aber auch jedes Jobangebot, jede Geburt, jede Hochzeit, jeder Todesfall wurden hinten in der Zeitung zwischen den Nachrichten und dem Sport bekannt gegeben. Dieses annähernde Monopol auf Sichtbarkeit, über das Zeitungen verfügten, führte teilweise zu Profitmargen von 30 bis 40 Prozent.

Über Geschäftsmodelle musste man sich in dieser Zeit also wirklich keine Sorgen machen. Umso härter traf den Zeitungsmarkt dann allerdings der plötzliche katastrophale Wegfall dieser Einnahmen durch die Digitalisierung. Wenn heute über den Zusammenbruch der finanziellen Infrastruktur von Textmedien gesprochen wird, dann ist vor allem diese Verlustgeschichte gemeint. Nicht umsonst versuchen gerade die etablierten Medien zumindest einen Teil der Werbeeinnahmen von den großen Tech-Unternehmen zurückzuklagen.

Diese Entwicklung ist mit einer unangenehmen Erkenntnis verbunden, die sich nur sehr langsam in den Köpfen der Leser*innen durchzusetzen scheint. Nämlich, dass es gar nicht sie waren, die für die Texte, die sie wie selbstverständlich gelesen haben, in erster Linie bezahlt haben. Wie Tim Wu in seinem Buch Merchants of Attention beschreibt, waren in der gesamten modernen Mediengeschichte schon immer weniger die Texte das Produkt, sondern die Leser*innen. Der Verkauf von Aufmerksamkeit bezahlte die Miete der Redakteur*innen und Autor*innen. Texte, deren Produktion oft sehr kosten- und arbeitsaufwendig ist, waren deshalb so preiswert, weil die Werbebranche für einen Großteil dieser Kosten aufkam. Wenn ein*e Zeitungsleser*in also wütend drohte, ihr Abonnement zu kündigen, dann war das für die Zeitung nur indirekt bedrohlich, weil es bedeutete, dass man weniger attraktiv für Anzeigekunden erschien.

Der Zusammenbruch des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes ist ein Bedrohungsszenario, das vor allem kulturkritisches Händeringen verursacht hat. Diese Haltung ist in den meisten Fällen lähmend und unproduktiv, Ausdruck einer reaktionären kulturellen Panik, die alle Probleme der Gegenwart in der Digitalisierung sucht. Schuld sind dann wahlweise die Sozialen Medien, die angebliche Kostenlosmentalität von Open Source Eiferern, oder ganz allgemein der Niedergang der guten alten Papiermedien. Diese kulturelle Panik, die oft mit äußerster Bitterkeit artikuliert wird, verstellt den Weg für eine nüchterne Auseinandersetzung mit den ökonomischen und kulturellen Problemen, die der Medienwandel mit sich gebracht hat. Zudem verschleiert sie den Blick auf die positiven Effekte der digitalen Revolution.

Das grundsätzliche Problem ist nicht die Digitalisierung selbst, sondern die Tatsache, dass ein wichtiger kulturgeschichtlicher Bewusstseinswandel noch nicht stattgefunden hat, der vor allem die Rolle der Leser*innen im System der Textmedien betrifft. Kurz gesagt, geht es darum, dass die Menschen für die Texte, die sie lesen wollen, jetzt vollständig bezahlen müssen. Was bisher fehlt, ist eine tiefgehende gesellschaftliche Reflexion über den Wert geistiger Arbeit. Diese Reflexion erscheint bitter nötig, da man den Eindruck gewinnt, dass geistige Arbeit in den letzten Jahrzehnten im öffentlichen Bewusstsein sogar noch an Wert verloren hat. Das brutale ökonomische Faktum des Anzeigenverlusts geht einher mit einem weit verbreiteten Unwillen auf der Seite der Leser*innen, für digitale Texte Geld auszugeben.

Es ist in dieser Hinsicht zwar verführerisch, aber nur bedingt hilfreich, auf die Leser*innen zu schimpfen, die zwar ohne zu zögern 4 Euro für einen Kaffee ausgeben, allerdings sehr lange überlegen, ob sie 50 Cent für einen längeren Artikel übrig haben. Es wird die Aufgabe zukünftiger Medienhistoriker*innen sein, diesen Umstand nüchtern zu erforschen und die Frage zu beantworten, wie sich der Status von Textarbeit im 21. Jahrhundert verändert hat. Vorerst kann man aber ein paar Mutmaßungen machen, etwa dass die Dematerialisierung von Texten, die Tatsache also, dass man Texte immer weniger als Papier in der Hand halten kann, dazu führt, dass ihr Wert infrage gestellt wird.

Die Zeitungen haben, wie Rusbridger berichtet, zu dieser Entwicklung beigetragen, indem sie ihre digitalen Inhalte zunächst kostenlos zur Verfügung stellten. Die ersten Versuche, eine Paywall hochzuziehen, verliefen dann oft auch katastrophal und wurden als klares Zeichen dafür gedeutet, dass Menschen nicht bereit seien, für reine online Textmedien zu bezahlen. Einige große Medien wie die New York Times, der Guardian oder der New Yorker haben inzwischen funktionstüchtige Bezahlmodelle gefunden. Das gilt jedoch nicht für viele andere, die nicht auf einen großen Namen, kulturelles Prestige und ein internationales Publikum aufbauen konnten. Buzzfeed News zum Beispiel, eine ernstzunehmende publizistische Plattform, die aus einem als Content-Klickfarm gestarteten Projekt entstanden ist, musste 2019 sehr harte Kürzungsmaßnahmen durchführen.

Diese Entwicklungen lassen sich in Bezug auf die Dematerialisierung von Medien und Kunst generell beobachten. Dass wir Musik nicht mehr als Tonträger, Bücher nicht mehr als Ansammlung von Seiten, Filme nicht mehr als DVDs besitzen, hat zu Verwirrung geführt, was ihren Wert angeht. Es erscheint zumindest naheliegend, dass Kulturen, die den Wert eines Mediums so lange an dessen Materialität geknüpft haben, nicht automatisch den Wert von etwas anerkennen, das man nicht mehr in der Hand halten kann.

Ein weiterer Faktor, der die Reflexion über den Wert geistiger Arbeit erschwert, ist die Explosion des nicht-professionellen Schreibens. Die Digitalisierung hat unzählige Möglichkeiten hervorgebracht, Texte kostengünstig zu veröffentlichen. Dass es sich um nicht-professionelle Autor*innen handelt, soll nicht heißen, dass sie schlechter schreiben oder denken als Menschen, die das beruflich betreiben; es handelt sich vor allem um eine institutionelle Unterscheidung. Die einen werden dafür bezahlt, die anderen nicht. Gerade weil die nicht-professionelle Textproduktion oft von so hoher Qualität ist, kann das zu einem Missverständnis über den Wert professioneller Texte führen. Dieses Missverständnis hat allerdings zur Folge, dass das Bezahltwerden für Textarbeit selbst in eine Krise gerät und das hat fatale Folgen für den gesamten Bereich der geistigen Arbeit.

Wenn ein Text schludrig gedacht, oder schlecht geschrieben ist, dann kreiden wir das immer noch automatisch der Autor*in an. Durch diese Individualisierung mangelnder Qualität wird allerdings der Blick auf die systemischen Gründe von Beginn an verstellt. Vielleicht hatte die Autor*in auch einfach wenig Zeit? Oder musste sich auf eine Arbeit konzentrieren, die besser bezahlt war? Oder sie hat während der Niederschrift ständig daran gedacht, dass ihr Vertrag in zwei Monaten ausläuft? Oder es hätte eine andere Person gegeben, die viel besser geeignet war, diesen Text zu schreiben, die aber jetzt für Apple arbeitet, weil man dort besser bezahlt wird und einen weniger stressbeladenen Arbeitsplatz hat?

Diese Fragen zielen auf ein besseres Verständnis der kultursoziologischen Voraussetzungen, unter denen die Texte entstehen, die wir lesen – aber auch der Texte, die wir lesen wollen, und die nie zustande kommen. Einem solchen Bewusstsein stehen viele Dinge im Weg, unter anderem die sehr deutsche Genieästhetik, die davon ausgeht, dass ein guter Text in kürzester Zeit einfach in die Tastatur geflossen ist. Diese Vorstellung ist schädlich und macht die Arbeit, die in einen Text investiert wird, unsichtbar.

Die aktuelle Lage erfordert ein klares Bewusstsein für die Produktionsverhältnisse von Texten. Das gilt nicht nur für den aufwendigen Recherchejournalismus, der zuweilen erfordert, dass Jahre in eine investigative Geschichte investiert werden. Auch politische Analysen oder Kulturjournalismus erfordern aufwendige Vorarbeiten, einen hohen Aufwand an ständiger Lektüre etwa, aber auch Zeit zum Nachdenken. Wenn – und das ist die deutliche mediengeschichtliche Tendenz – die doppelte Arbeit von der Hälfte der Autor*innen erledigt wird, dann leidet das Niveau. Es macht einen Unterschied, ob man für ein Porträt zwei Wochen oder zwei Tage Zeit hat, ob man für eine Rezension ein dickes Buch und weitere Bücher der Autorin lesen kann, oder eben eigentlich schon an der nächsten Rezension sitzen sollte.

Es ist eigentlich eine sehr naheliegende Erkenntnis: Je mehr Zeit zum Denken und zum Formulieren zur Verfügung steht, desto besser wird der Text. Allerdings wabern die sozioökonomischen Implikationen dieser Erkenntnis gerade noch sehr im Dunkeln. Die Tatsache etwa, dass es im deutschsprachigen Bereich keine vergleichbare Kultur langer kulturjournalistischer Essays gibt wie man sie im New Yorker oder London Review of Books findet, lässt sich direkt darauf zurückführen, dass keine finanzielle Infrastruktur existiert, die es für Autor*innen auch nur annähernd plausibel erscheinen lässt, die monatelange Arbeit zu investieren, die ein solcher Text erfordert.

Aus alldem folgt zunächst vor allem eines: Ein klares Bewusstsein für den Wert geistiger Arbeit muss dazu führen, dass die Leser*innen die Notwendigkeit anerkennen, ihr individuelles Medienbudget aufzustocken. Der digitale Wandel hat ein Finanzierungsmodell geistiger Arbeit zusammenbrechen lassen und in dieser Leerstelle muss ein neues Modell aufgebaut werden, eines, in dem sich die Menschen als aktive Leser*innen verstehen, und weniger als Produkt. Die Entwicklung ist nicht nur mit finanziellen Opfern verbunden, sondern auch mit einem Zuwachs an Emanzipation. Rusbridger beschreibt das als den Übergang vom passiven Konsumenten hin zum involvierten Prosumenten, der seine Medien nicht nur als Quelle von Informationen und Analysen versteht, sondern auch als Ort des Austauschs.

Konkrete Möglichkeiten, das eigene Medienbudget zu erweitern, gibt es viele. Von klassischen Abonnements über solidarische Formen der Finanzierung, in denen die Inhalte für alle frei zugänglich sind, aber nur die bezahlen, die es sich leisten können. Dazu gehören auch alternative neue Bezahlmodelle, wie die Finanzierung durch Plattformen wie Patreon oder Steady. Ein weiteres Modell, das sich im englischsprachigen Bereich längst durchgesetzt hat, sind kostenpflichtige Newsletter einzelner Autor*innen (über Plattformen wie Substack, inzwischen aber auch Twitter und Facebook).

All diese Möglichkeiten, sich an der Wertsteigerung geistiger Arbeit zu beteiligen, sollten genutzt werden, von denjenigen, die über die Mittel verfügen. Dafür muss auch die Vorstellung verabschiedet werden, dass es sich um ein Bittsteller- und Spendensystem handelt. Es mag sein, dass keines der existierenden Modelle sich als tragfähig erweist, aber auf der Ebene eines ausstehenden Kulturwandels wäre es ein erster Schritt, bewusst für bessere Texte besser zu bezahlen.

 

 

Photo by Josh Appel on Unsplash  

 

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