Pippi oder Peppa – Machtkritik in Erzählungen für Kinder

von Berit Glanz

 

Wenn man von Machtkritik und Anarchie in Kinderliteratur sprechen möchte, dann geht kein Weg vorbei an dem Mädchen mit den roten Zöpfen. Pippi Langstrumpf ist wahrscheinlich die wichtigste kinderliterarische Gewährsfigur zahlreicher Menschen, wenn es darum geht mit Bezug auf eine literarische Figur das eigene anarchische Potential zu betonen, den Widerstand gegen autoritäre Regeln zu symbolisieren. Pippi Langstrumpf hat eine heißgeliebte Funktion, für die viele Lesende sogar bereit sind die tiefe Verankerung des Buches in kolonial-rassistische Diskurse zu überlesen.

Seit den 1970er Jahren finden sich zahlreiche Postkarten, Aufkleber und Buttons mit Bildern aus den Pippi-Verfilmungen in linken Milieus. Garniert mit der völlig unreflektiert wiederholten Aussage “Sei wie Pippi, nicht wie Annika” wird die Identifikation mit Pippi Langstrumpf so zum perfekten Ausdruck des eigenen Willens zur Rebellion, selbst wenn man dafür klassisch weibliche Sozialisierungen, die von der braven aber liebenswerten Annika symbolisiert werden, abwerten muss.

Was aber passiert mit machtkritischer Literatur, wenn sich die Macht verändert? Kinderliteratur spiegelt immer auch die Verhältnisse ihrer Entstehungszeit, die jeweiligen Vorstellungen von Kindheit, aber auch die subtilen Macht- und Autoritätsgeflechte, in die Kinder eingebunden sind und zu denen sie sich verhalten müssen. Lindgren selbst bezeichnete Pippi als “merkwürdiges Mädchen”, aber Pippi ist weit mehr als das, denn sie ist eine prototypische Trickster-Figur.

Das Konzept des Tricksters wurde ursprünglich in der Ethnologie formuliert, um einen Aspekt zahlreicher mythologischer Erzählungen zu beschreiben: Figuren, deren entscheidende Funktion ist, Chaos in bestehende Ordnungen zu bringen. Dabei ist der Trickster nie durchweg positiv oder negativ gezeichnet. Er ist eine amoralische Figur, die Unordnung stiftet.

Die kinderliterarischen Trickster, von Pippi bis zum Sams, traten ihren Siegeszug vor allem in der politisch aufgeladenen Atmosphäre der 1960er und 1970er Jahre an. Pippi Langstrumpf war zum Erscheinungszeitpunkt des ersten Bandes im Jahr 1945 in Schweden noch sehr umstritten; aber bereits wenige Jahrzehnte später waren die Bücher so beliebt, dass  sie kostspielig verfilmt wurden. 1961 erscheint das erste Hörspiel mit dem Pumuckl, von 1955 bis 1968 erschienen Lindgrens drei Karlsson-Bände und der erste Band der Geschichten vom Sams wurde 1973 veröffentlicht.

All diese kinderliterarischen Quellen basieren auf eigentümlichen Figuren mit ungewöhnlichen Kräften, die auf unterschiedliche Weise gegen Autorität und autoritäre Strukturen rebellieren. Ob Pippi sich also gegen die spießige Kleinstadt auflehnt, das Sams die Schule von Martin Taschenbier auf den Kopf stellt oder Pumuckl die Werkstatt von Meister Eder ins Chaos stürzt – Trickster machen  mit der von ihnen erzeugten Unruhe Machtstrukturen sichtbar.

Die Hochkonjunktur der Tricksterfigur in der Kinderliteratur der 1950er bis 1970er Jahre lässt einige Schlüsse auf die verkrusteten Gesellschaftsstrukturen zu, in denen sich junge Familien in dieser Zeit behaupten mussten. Die regellosen Grenzüberschreitungen der kinderliterarischen Trickster sind in diesen Jahren ein potentes Symbol für eine tiefergreifende Sehnsucht nach gesellschaftlicher Veränderung. Die Trickster sind dabei elementarer, egozentrischer und bedingungsloser in ihren Bedürfnissen als ihre in vielfältige soziale Regeln eingebundenen Leser es dürfen. Sie sind lustbetont, faul, ständig hungrig und an der sofortigen Erfüllung all ihrer Wünsche orientiert. Sprache ist für die Tricksterfiguren ein Spielzeug, das zusätzlich ihr anarchisches Potential verdeutlicht. Wenn das Sams reimt, Pippi falsch buchstabiert oder Pumuckl dichtet, wird deutlich, dass nicht einmal etablierte Sprachkonventionen  für Trickster gelten. Alles kann spielerisch unterlaufen und anarchisch umgestellt werden.

Eine entscheidende Funktion des Tricksters ist, dass sich das von ihm verursachte Chaos gegen alle Strukturen wendet. Deswegen sind die Tricksterfiguren manchmal schwer erträglich, nervig oder sogar abstoßend. Man fragt sich wieso das selbstsüchtige Sams keine Rücksicht auf die Bedürfnisse von Herrn Taschenbier nimmt, warum Karlsson schon wieder alle Fleischbällchen von Lillebror auffrisst, ohne mit ihm zu teilen, und selbst Pippi, die sich an vielen Stellen durch ihre Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit auszeichnet, hat Momente moralischer Ambivalenz; etwa wenn sie  als Sachensucherin vorschlägt einen gefundenen Mann in einen Käfig zu sperren. Trickster sind eben weder gut noch schlecht, etablierte Normen gelten nicht für sie, sie sind vor allem in Opposition zur sie umgebenden Struktur zu denken.

Durch diese fehlende ethische Differenzierung erfüllen Trickstererzählungen eine große Entlastungsfunktion, sie befriedigen das kulturelle Bedürfnis Chaos und Aufruhr zu erleben, die gewohnten Ordnungen auf den Kopf gestellt zu sehen. Doch diese Anarchie ist immer nur zeitgebunden, die Verhältnisse werden nie grundsätzlich angetastet. Trickster-Narrative haben beispielsweise wenig Bewusstsein für eine soziale Differenzierung zwischen oben und unten, zwischen mächtig und benachteiligt. Gesellschaftliche Machtstrukturen sind für diese Narrative nur insoweit relevant als sie die autoritäre Folie bilden, auf der sich das Chaos entfalten kann.

Geschichten brauchen Veränderungen. Da die Trickster sich im Verlauf der Geschichten aber kaum verändern, muss es immer eine Figur geben, die durch den Regelbruch des Tricksters zur Entwicklung gezwungen wird. Diese Begleiter sind oft farblos und schüchtern wie Herr Taschenbier, angepasst und artig wie Annika oder ängstlich und unsicher wie Lillebror. Im Kontakt mit den Trickstern können sie ihren Charakter ein wenig verändern, Annika wird etwas mutiger, Herr Taschenbier traut sich gegen Frau Rotkohl aufzubegehren, der grummelige Meister Eder gewöhnt sich an den chaotischen Kobold. Die Begleiter erobern sich kleine Freiheiten in einem von Autorität geprägten Alltag. Der Trickster ist so jedoch letztlich eine systemstabilisierende Figur, denn die grundlegende Ordnung wird nicht hinterfragt, Meister Eder räumt das entstandene Chaos wieder auf, Annika und Tommi gehen auch weiterhin zur Schule, Herr Taschenbier wirft seinen Alltag nicht über den Haufen.

Die heutige Gesellschaft hat sich im Vergleich mit der Hochphase der Trickster vor einigen Jahrzehnten jedoch gravierend verändert. Autoritäre Macht wird häufig nicht mehr direkt und explizit formuliert, ist jedoch als Macht nicht weniger vorhanden als vorher. Die mit Pippi und dem Sams aufgewachsenen Kinder sind heute selbst in Machtpositionen. Während die Lesenden sich in ihrer Kindheit als antiautoritäre und anarchische Trickster imaginierten, sind sie in der Realität wahrscheinlich sehr viel eher die Frau Rotkohls, Prusselieses und Herr Obersteins der Gegenwart geworden.

Mit dem Unterschied, dass die Rhetorik des Antiautoritären längst in die Selbstbeschreibung der Macht eingesickert ist: Die Chefin tritt plötzlich als Freundin auf, der Lehrer geht individuell auf seine Schüler ein. Machtdemonstrationen in gesellschaftlichen Hierarchien sind impliziter geworden, autoritäres Gebrüll weicht gezielter Manipulation der Untergebenen, flache Hierarchien verschleiern den Blick auf die real zu Grunde liegenden sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse. Gemeinsam ist vielen Menschen in Machtpositionen, dass sie die eigene Macht herunterspielen, statt offen darüber nachzudenken und ihre Macht kritisch zu reflektieren.

Diese Veränderung gesellschaftlicher Konventionen in der Ausübung von Autorität stellt Tricksternarrative vor Probleme, denn die funktionieren am besten, wenn die Ordnung, die erzählerisch umgeworfen wird, klar und deutlich erkennbar ist. Vielleicht wirken diese Erzählmuster ein halbes Jahrhundert nach ihrer Hochphase deshalb sonderbar antiquiert. Da gesellschaftliche Machtstrukturen in Tricksternarrativen erzählerisch nur wenig mitbedacht werden, bleibt eine Leerstelle. Das anarchische Potenzial verpufft, wenn Pippi beispielsweise die Polizisten ebenso wie die Einbrecher mit ihrer körperlichen Dominanz und Respektlosigkeit auflaufen lässt. Die etablierte Ordnung wird zwar umgekehrt, aber in dieser Kippbewegung ist kein Platz für die Kritik subtiler Machtgeflechte. Der erzählte Konflikt in Tricksternarrativen ist nicht sozialkritisch, sondern nur ein kurzfristiges Aushebeln autoritärer Macht, die jedoch nicht an sich hinterfragt wird.

Im Gegensatz dazu zeigen einige zeitgenössische Erzählungen für Kinder ein Bewusstsein für Machtunterschiede und beziehen sich erzählerisch darauf, ohne auf die  etablierten Tricksterfiguren zurückzugreifen. Die britische Fernsehserie Peppa Wutz ist ein gutes Beispiel für diese aktuellen Erzählverfahren, die subversive Machtkritik differenzierter und subtiler formulieren. Wenn zum Beispiel die Häsin Frau Mümmel quasi omnipotent ist, jeden zweiten Beruf ausübt und sogar mit der Queen befreundet ist, lässt sich dies als Kommentar zu den Anforderung an moderne Frauen und Mütter lesen. In Peppa Wutz werden strukturell diskriminierte Gruppen erzählerisch überhöht, während etablierte Autorität verlacht wird. Dieses Bewusstsein für die Feinheiten gesellschaftlicher Macht zeigt sich beispielsweise, wenn Väter als freundlich aber trottelig gezeigt werden, patriarchale Machtstrukturen also mit positiven Gegenbildern unterlaufen und gleichzeitig der Lächerlichkeit preisgegeben werden.

Ein häufiger Punkt in der ideologiekritischen Betrachtung von Kinderunterhaltung ist die Darstellung der Polizei, die auch bei Peppa Wutz regelmäßig auftaucht. Erzählungen für Kinder greifen oft lebensweltliche Bezüge auf, weswegen von Baustelle über Kinderarzt bis Polizeiauto bestimmte Motive immer häufig verwendet werden. Polizeidarstellungen, die über ein kritisches Bewusstsein für exekutive Macht und Willkür verfügen, sind nur selten zu finden. Die Erzählungen schwanken zwischen Verharmlosung und Idealisierung der Polizei.

Bei Peppa Wutz wird im Gegensatz dazu die Autorität der Polizei genauso spöttisch dekonstruiert und ins Lächerliche gekippt, wie die Macht aller anderen gesellschaftlichen Autoritätsfiguren. So haben die Polizisten bei ihrem Besuch in Peppas Kindergartengruppe keine wirkliche Antwort darauf, was eigentlich ihre wichtige Arbeit ausmacht, bis ihnen ein Kind erklären muss, dass sie rätselhafte Verbrechen lösen und Autos mit Blaulicht fahren. Diese Darstellung der Hilflosigkeit und Inkompetenz von Autoritätsfiguren wird noch verstärkt, wenn beispielsweise der Polizeiwachtmeister Panda am Ende des Verkehrsunterrichts streng betont, dass die Kinder immer die Augen und Ohren aufhalten sollen, dann jedoch frontal gegen einen Baum läuft, dem die beiden Polizisten im Anschluss willkürlich einen Strafzettel ausstellen.

Autorität wird bei Peppa Wutz nicht durch den Ordnungsbruch des Tricksters sichtbar gemacht, sondern ins Absurde überführt, während die Tierkinder fröhlich lachend daneben stehen. Die Indifferenz der Tricksternarrative wird von einer subtileren Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Machtstrukturen ersetzt. Der Unterschied liegt zwischen plumper erzählerischer Anarchie, in der Regeln zwar auf den Kopf gestellt, aber schlussendlich doch bestätigt werden und feiner Erzählarbeit, die der Macht differenziert ins Gesicht lacht. Vielleicht ist deswegen Peppa im Jahr 2021 subversiver und machtkritischer als Pippi.

 

Photo by Margaret Weir

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