[Atelier NRW] Nabelschau

Im vergangenen Oktober trafen sich sechs Autorinnen und Autoren aus Nordrhein-Westfalen im Gräflichen Park Bad Driburg zu dem dreitägigen Symposium Atelier NRW. Aus den Vorträgen und geführten Gesprächen sind Essays entstanden, die einmal im Monat auf 54books veröffentlicht werden.

Einleitung von Dorian Steinhoff
Über das Leben der Ideen im Verborgenen von Sabrina Janesch

 

 

Von Yannic Han Biao Federer

Ich dachte, ich würde es mögen, einmal poetologisch zu schreiben, einmal poetologisch nachzudenken, einmal systematisch eine Position herauszuarbeiten, die ich einnehmen möchte, die ich vertreten möchte, für die ich stehen möchte, und wie immer, wenn ich mir vorstelle, was ich geschrieben haben werde und wie ich es geschrieben haben werde, wirkt es ganz einfach und logisch und zwingend, ich freue mich sogar, mich hinzusetzen, Kaffee, Blick aus dem Fenster, blinkender Cursor, einatmen, ausatmen, und schon verdichten sich die Buchstaben zu Sätzen zu Absätzen zu Seiten zu Argumenten und es ist ganz wunderbar, aber das Futur Zwei ist die unliterarischste Tempusform, die es gibt, es überspringt alle Verlaufsform, setzt vor vollendete Tatsachen, die aber noch gar nicht vollendet sind, die es also nicht gibt, das Futur Zwei lügt. Die Wahrheit ist immer der nächste Satz und nichts als der nächste Satz, die Wahrheit ist immer, ob sich die Sprache fügt und mir erlaubt, zu erzählen, was ich erzählen will, oder ob sie es nicht tut. Obwohl, nein, so ist es nicht, es ist vielmehr so: Die Wahrheit ist immer, was die Sprache mir aufzwingt zu erzählen. Obwohl, nein, so ist es auch nicht, es ist vielmehr so: Die Wahrheit ist immer, was ich zu schreiben versuche und was die Sprache dann mit mir anstellt, dass ich am Ende das Gefühl habe, das, was ich geschrieben habe, von Anfang an zu schreiben vorgehabt zu haben.

Das Geschriebenhabenwerden ist eine Schablone und nicht die erste und nicht die einzige, wir sind umgeben von Schablonen und wir brauchen sie auch, sonst stünden wir an der Dönerbude und hinter uns eine anschwellende Masse an Wartenden, die uns irgendwann beiseite schöbe, weil wir noch immer nicht artikuliert bekämen, was das ist, eine Salattasche mit extra Soße. Schablonen sind völlig in Ordnung.

Schablonen braucht es auch, wenn wir über Texte sprechen, wir sagen, dies ist ein Eifel-Krimi und jenes eine Fouché-Biographie, dies ist ein historischer Roman und jenes Antikriegsliteratur, dies ist ein Coming-of-age-Roman und jenes ein postmodernistisches Spiel mit Fiktionsebenen. Und die Schubladisierung erschöpft sich nicht in diesen Genrekonventionen, wir müssen dem Text auch immer eine Intention mit auf den Weg geben, wir müssen sagen, es geht um, als hätte sich da jemand hingesetzt und gesagt, Migration, darüber sollte man mal schreiben, oder, Klimawandel, das ist doch mal ein Thema, oder, die besorgten Bürger, über die sollte man was machen, als wäre das Esgehtum nicht immer eine retrospektive Selbstinterpretation, als wäre Schreiben nicht ein störrischer Hund, der sich wie tot auf den Boden wirft, wenn man ihn zu streng führt, er läuft nur brav durch den Park, wenn man ihm Leine lässt und erst hinterher guckt, wie man wieder nach Hause kommt.

Und schon die erste Falle am Poetologischen, ich hypostasiere das, was ich von mir selbst annehme, als das, was allgemein der Fall ist, stülpe anderen mein Unvermögen über, vielleicht gibt es sie ja zu Hauf, die von Anfang an wissen, was sie schreiben, und es dann auch tun, die Grenze meines Vorstellungsvermögens ist ja nicht die Grenze der Welt, nur die der meinen.

Aber es ist kein Ästhetizismus, dem Hund durch den Park zu folgen, es ist kein weltbefreites Schwelgen im rhetorisch Möglichen, es ist kein Sichsuhlen im schön schwingenden Sprachmaterial, es ist etwas anderes, weil die Scheiße, die der Hund wittert, die Pisse, die der Hund aus all dem bunten Laub herausschnüffelt, die Verwesungsdämpfe, die der Hund immer deutlicher in seiner empfindsamen Nase spürt, nichts davon hätte man geahnt, nichts davon gefunden, ohne ihn, der Hund ist auf Fährten unterwegs, die da sind, die wir aber auf den vorgefertigten Pfaden der Landschaftsgärtnerei beständig umgehen und zwar weiträumig.

Nota bene, es geht nicht um Tabubrecherei, die elenden Tabubrecher haben keine Ahnung, was Tabu bedeutet, sie wissen nicht, woher der Begriff kommt und was er eigentlich soll, bitte nachlesen, Triebregulation als Grundvoraussetzung von Kultur, bitte nachblättern, bevor noch einer mit der alten Tabubrechernummer kommt.

Wenn das Erzählen sich von Silbe zu Silbe, von Wort zu Wort, von Satz zu Satz, von Absatz zu Absatz, von Seite zu Seite in den Text hineinwagt, passiert etwas, das die alltägliche Schnellsprecherei nicht leisten kann. Während sich das Schnellsprechen zur Komplexitätsreduktion auf Vorselegiertes, auf Verhärtetes, auf Strukturen verlassen muss, auf Abstraktionen also, kann das Erzählen das Einzelne und Genaue und Konkrete ins Licht rücken. Und es kann dabei von Selektionsmoment zu Selektionsmoment neu und frei sein, es kann dabei prüfen, wie plausibel und glaubhaft jede einzelne Selektion verläuft und verlaufen soll, es kann sich also vortasten in eine imaginierte Wirklichkeit, die aber ein bestimmtes Verhältnis zur wirklichen Wirklichkeit behält, und es kann auf diese Weise etwas beschreiben, das sonst nicht beschrieben werden könnte, es kann die Wahrnehmung entautomatisieren, wenn ich diesen alten Hut einmal bemühen darf, und es hat die Möglichkeit, die vielleicht nicht zwingende Notwendigkeit, aber doch die mögliche Möglichkeit, die Schablonen zu zertrümmern.

Und dann eben doch das Problem des Themas, denn wenn der Hund einmal eifrig unterwegs gewesen ist und wir stolpernd, schwitzend hinterdrein, wenn wir dann, schlammstrotzend und nach Exkrementen stinkend, zurück sind, auf der Matte stehen, der Hund glücklich hechelnd, ist die erste Frage immer: Um was geht’s, um was geht‘s in deinem Text?

Um was geht’s, das ist die Minimalformel des Thematismus und der Thematismus ist ein Alchemist, er erntet ausufernde Erzählungen, die reich sind an Welt und Phantasie und Glaubeliebehoffnung, er pflückt und sammelt alles, was die Menschheit schreibend zustande bringen kann, er köchelt es, er destilliert es, es blubbert und faucht, und am Ende, ein edles Elixier, das spricht: Es geht um Vergänglichkeit. Oder. Es geht um die Wende. Oder. Es geht um Glenn Gould.

Das heißt, der Text, der sich mühsam aus den Schablonen herausgewunden hat, bedarf anschließend doch wieder einer Schablone, er muss reschablonisiert werden, denn er muss ja zurück in die Schablonenhaftigkeit der Welt, ein dauerndes Exil davon gibt es nur auf einsamen Bergen, auf denen Einsiedlerinnen und Einsiedler sich meditierend in verlassene Höhlen zurückgezogen haben, abseits davon nichts als Schablonen, es ist halt so, es ist halt so, es geht nicht anders, es muss so sein.

Wenn dem aber so ist, dann ist eines von zentraler Bedeutung, nämlich die Reihenfolge und die Essentialität der Umleitung, es kann nicht sein, es darf nicht sein, dass die Reschablonisierung des Entschablonisierten zur Totalschablone verkürzt wird, es kann nicht angehen, dass man den Umweg, der Literatur heißt, verkürzt auf eine erzählerische Aufpolsterung jener Schablonen, die später auf der Klappe stehen sollen, es ist fatal, den Themen zu folgen, also dem, was relevant ist, denn Relevanz ist irrelevant.

(Also. Für mich.)

Die Relevanz, die sie meinen, ist die gesellschaftliche Relevanz, und die gesellschaftliche Relevanz, die sie meinen, ist die, die im Politikteil steht und im Wirtschaftsteil und im Wissensteil und im Feuilleton und vielleicht noch im Magazin zum Wochenende. Die Gesellschaft, die sie meinen, ist also in Wirklichkeit nicht die Gesellschaft, sondern der enge, wabernde Raum zwischen den Systemen der Gesellschaft, aus deren membranartiger Oberfläche immer nur so viel dringt, wie in der allerallgemeinsten Sphäre verdaulich ist, es sind nichts als Abbauprodukte eigenlogischer Operationsweisen, die innerhalb der Systeme ganz anderes bedeutet haben mögen oder nichts bedeutet haben mögen oder nicht mehr oder längst wieder, aber, und darauf kommt es an: Die Gesellschaft, die sie meinen, ist nicht die Gesellschaft, sondern nur die Zeitung neben ihrer Müslischale, die tagsdarauf schon welk in der Papiertonne liegt.

Literatur schreiben zu wollen, die gesellschaftlich relevant ist, heißt also zweierlei, nämlich einerseits den Umweg der Reschablonisierung des Entschablonisierten einzubetonieren zu Gunsten einer Schablonenautobahn, und andererseits die Gesellschaft mit ihrer publizistischen Oberfläche zu verwechseln. Die Gesellschaft, wenn man sie wirklich meinen möchte, kann dem Nomen Relevanz weder adjektivisch noch sonstwie attribuiert werden, denn die Gesellschaft ist alles, die Gesellschaft meint alles, die Gesellschaft hat kein Außen. Relevanz dagegen bedürfte eines Teilbereichs, der sich vom Irrelevanten unterscheiden müsste, und diese Unterscheidung ist eine, die jedes gesellschaftliche Subsystem jeweils für sich operationalisieren muss, die Gesellschaft als Ganze kann davon nichts wissen, wie die Petrischale nichts davon wissen kann, was die Bakterien, die sich auf ihr mehren, am liebsten fressen.

Es gibt einen bewährten Ausgangspunkt für ein Erzählen, das sich den Schablonen entziehen kann, das sich abseits aller Relevanzzwänge bewegt, das sich frei macht, frei selegiert, von Beobachtung zu Beobachtung zu Beobachtung, von Silbe zu Silbe zu Silbe, Satz zu Satz zu Satz, und so fort, und das dabei den eigenen Blick miterzählt, gewissermaßen einen Rückspiegel mitführt, der die jeweilige Linsenkrümmung des Beobachtenden beim Beobachten mitbeobachtet, also die Relativität des eigenen Schauens und Sagens transparent macht, es ist ein Erzählen, das oft autofiktional genannt wird, obwohl das eine trügerische Schablone ist, denn im Kern besitzt jedes Erzählen, das sich der Schablonenhaftigkeit der Welt für eine Zeit zu entziehen vermag, einen autofiktionalen Glutkern, eine eigene Beobachtung, einen eigenen Weltzugang, denn sonst blieben ja nichts als Schablonen. Autofiktionalität ist also etwas, das ein entschablonisiertes Erzählen offen ausstellen kann oder nicht ausstellen kann, das aber an und für sich immer sein mehr oder weniger verhüllter Motor ist, denn Fiktion ist ja immer die Fiktion von Fiktion, alles ist von irgendwoher genommen worden und somit Verwertung, Wertschöpfung, Ökonomie.

Das offen autofiktionale Erzählen ist aber auch ein Erzählen, das in seiner Reschablonisierungsbewegung regelmäßig mit dem Vorwurf konfrontiert wird, nichts als ein Kreisen um den eigenen Bauchnabel zu sein, vor allem dann, wenn das aus der Ferne attestierte Milieu des Bauchnabelinhabers oder der Bauchnabelinhaberin keines ist, das gerade in die Mühlen der Relevanzschablonen geraten ist. Die aber, die in die Mühlen geraten sind, das möchte ich betonen, sind sicher nicht zu beneiden, denn es mag der Publicity dienlich sein, den Aufmachern und Lead-Sätzen, doch über dem Relevanzgeheul geht immer eines unter, nämlich die literarische Qualität ihres Textes, der fortan nur noch mit den Totschlagformeln der Titelseiten traktiert wird, statt dem unter Umständen minutiös Beobachteten zu folgen, dem genau Erzählten, dem schön Geschriebenen. Scheinbar bauchnabellos werden sie als Zeuginnen und Zeugen gehandelt, verschachert, als Aufschreiberinnen und Aufschreiber von Authentischem, der ästhetische Eigensinn ihrer Texte wird zur Registratur von Realität degradiert, das heißt, zur Reaffirmierung des bereits Schablonisierten herangezogen, sie werden enteignet, ihr Bauchnabel vergesellschaftet.

Vielleicht also doch eine Position, die ich beziehen kann, für die ich einstehen kann, ich zergliedere sie in drei Thesen.

Erstens: Der Bauchnabel ist ein Guckloch. Man bedient sich der redlichsten aller Weltzugänge, der Beobachtung nämlich, die nicht nur sieht, was man sieht, sondern auch sieht, was man nicht sieht, oder: dass man etwas nicht sieht. Es ist die Beobachtung der Welt und zugleich die Beobachtung der gekrümmten Linse, mit der man die Welt beobachtet. Mehr kann man nicht beobachten, weil gekrümmte Linse.

Zweitens: Relevanz ist ein Dispositiv, mit dem das Schreiben über die Welt in einer bestimmten Weise zugerichtet werden kann, um das Schablonenhafte zu schonen und zu streicheln und zu pflegen und ihm artig zuzuhauchen, morgen wieder, morgen wieder, morgen wieder.

Drittens: Kunst ist das Künftige. Und das Künftige ist irrelevant, denn die Relevanzschablonen sind immer nur von heute. (Manchmal von gestern.) Zukunftswissen aber, so beschreibt es die Soziologin Maren Lehmann, ist dasjenige Wissen, das von seiner eigenen Relevanz nichts wissen kann. Denn die kommt ja erst noch. Im Schablonentempo.

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