Lagerfeuer reloaded – „Wetten, dass?“ und die Sehnsucht nach dem Millennium

von Simon Sahner

Im Februar 2001, das neue Jahrtausend hatte gerade erst begonnen, fragte der damals etwa fünfzigjährige Thomas Gottschalk, was eigentlich mit dem Rock’n’Roll passiert sei. Er habe die „Schnauze voll“ von der Musik seiner Kinder, der gute alte Rock solle bitte zurückkommen. Heute, 20 Jahre später, scheint ein großer Teil des deutschen Fernsehpublikums die sogenannte gute alte Zeit um das Millennium zurück zu wollen. Gottschalk sprach damals eher von der Zeit in den 1970er und 1980er Jahren. Nostalgie nach vergangener, vermeintlich besserer Zeit hat immer Konjunktur, was vielleicht mehr über Erinnerung und Verdrängung aussagt als über diese vermissten Zeiten. 

What happened to Rock’n’Roll ist einer von zwei Songs, die Thomas Gottschalk aufgenommen hat, in diesem Fall gemeinsam mit der Band Die besorgten Väter (vom Ansatz her ähnlich war schon 1980 der Song Rapper’s Deutsch, eine deutschsprachige Version des Rapklassikers Rapper’s Delight). An dem Abend als Gottschalk die Hymne an die alte Rockmusik mit Lederjacke in seiner eigenen Show Wetten, dass? präsentierte, anmoderiert von seinem alten Radiokollegen und Freund Günther Jauch, saß ich wahrscheinlich vor dem Fernseher und habe Gottschalk dabei zugesehen, wie er zu Beginn der Show über die Showtreppe die Studiobühne von Wetten, dass? betrat, die Schweiz und Österreich begrüßte, den Applaus des Publikums genoss und schließlich zum Sofa lief. Das kollektive Bild einer weißen, mittelständischen, bürgerlichen Kindheit der heute 30-40jährigen in Deutschland, meiner Kindheit, beruht auf der Vorstellung, dass Wetten, dass? am Samstagabend frisch gebadet im Frotteebademantel geschaut wurde, ob es wirklich so war – ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es passt aber zu meiner eigenen Erinnerung an diese Jahre irgendwann um den großen, erwarteten Knall des Millenniums herum, der bekanntlich nie kam. Ich war ungefähr zehn, zwölf Jahre alt, mir schien alles gut und abends kam Gottschalk. 

Wetten, dass? erschien wie die Bestätigung, dass Deutschland nicht mehr nur das Land der biederen Kultur war, ein Weltstar nach dem anderen kam und unterhielt sich mit Gottschalk und den anderen Gästen. Viele kamen mehrmals, allein Joe Cocker und Robbie Williams traten beide neun Mal auf, Tina Turner und Mariah Carey immerhin sechs Mal, und Gottschalk schaffte es immer wieder, das Gefühl zu vermitteln, dass diese Größen der Musik- und Filmwelt extra zu uns gekommen waren, in die Mehrzweckhallen von Städten wie Böblingen, Freiburg und Leipzig. Und mit diesen Weltstars zusammen saßen bei Gottschalk auf der Couch auch deutsche Prominente. Fast hätte man meinen können, die Aussage Beckenbauers, der deutsche Fußball sei nach der Wiedervereinigung “auf Jahre hinaus nicht zu besiegen”, gelte auch für die deutsche Medien- und Kulturszene. 

Alles wie früher?

Wenn ich mir die ersten Minuten der Wetten, dass?-Sendung vom vergangenen Wochenende anschaue, wirkt auf den ersten Blick alles fast wie zwanzig Jahre zuvor. Das Studio-Design hat sich höchstens marginal verändert, die Couch ist offenbar wirklich dieselbe wie früher und Gottschalk trägt immer noch blonde Locken, auch wenn er sichtlich älter geworden ist; aber sonst, alles beim Alten. Die Kamera schwenkt durch die Reihen der Zuschauer*innen, die ihren Tommy mit Standing-Ovations begrüßen, während der (wie in alten Zeiten) den Namen der Halle, der Stadt und des Bürgermeisters abspult, die angrenzenden, deutschsprachigen Länder begrüßt und spielerisch das Publikum zum Schweigen bringen will. Die Bilder, die von der Kamera eingefangen werden, zeigen Menschen, denen Stress, Sorgen und Anstrengungen der letzten Jahre aus den Gesichtern gefallen zu sein scheinen, Menschen allen Alters mit einem Gesichtsausdruck, der echte Rührung, nostalgische Erleichterung und kindliche Freude vermittelt. „Endlich!“, scheint es vielen von ihnen durch den Kopf zu gehen, „Endlich, ist alles wieder wie früher!“ und dann singen sie es auch: „So schön, so schön, sowas hat man lange nicht gesehen.“

Als Gottschalk dann innerhalb der ersten Minuten noch einen Witz über genderinklusive Sprache macht und mit Blick auf Shitstorms feststellt, er sei in dem Alter, in dem einem alles egal sei, brandet erneut Applaus auf. Für etwas mehr als drei Stunden soll also wirklich alles wie an diesem Februarabend vor zwanzig Jahren sein, als Gottschalk fragte, ob Eminem „plemplem“ sei. Damals als Gerhard Schröder hemdsärmelig nach einer Flasche Bier fragte, Angela Merkel meistens noch als Witzfigur des Kabaretts herhalten musste, weil sie in erster Linie Frau und Ostdeutsche war, als der 11. September noch ein Datum wie jedes andere war und Xavier Naidoo, Nena und Til Schweiger vor allem für ihre Musik und ihre Filme bekannt waren. Und Lothar Matthäus hat auch noch Fußball gespielt.

Einige kulturelle Phänomene dieser Zeit um die Jahrtausendwende erstehen derzeit wieder wie längst Verscharrte von den Toten auf und die Begeisterung, mit der sie empfangen werden, ist ebenso nachvollziehbar wie beunruhigend. Über 45% Einschaltquote fuhr Wetten, dass? am vergangenen Samstag ein, unter den 14-59-jährigen sogar um die 50%. Es scheint als wollten unter anderem diejenigen, die wie ich als Kinder samstagabends absurde Wetten und Weltstars bewundert haben, zurück in ihre Kindheit, zurück in vermeintlich einfachere Zeiten. Die Wiederauflage der erfolgreichsten deutschen Fernsehshow ausgerechnet im zweiten Pandemieherbst, zu einer Zeit, in der immer wieder von gesellschaftlicher Spaltung die Rede ist, von neuen Beschränkungen des Alltags, die man längst überwunden hoffte, wirkt wie ein Trostpflaster des öffentlich-rechtlichen Fernsehens für die Gebührenzahler*innen, die im Stress der Gegenwart und der (sozialen) Kälte des kommenden Winters in den Arm genommen werden sollen. Als würde man vom ZDF in den Frotteebademantel gepackt und vor den Fernseher gesetzt werden, es wird alles wieder gut, schau mal, wir haben den Kamin angemacht.

Dazu passt, dass mit TV Total, ein weiteres Fernsehformat, das um das Jahr 2000 die deutschsprachige Medienlandschaft prägte, nun eine Wiederauflage erfährt. Auch wenn hier mit Sebastian Pufpaff ein neuer Moderator übernimmt, wirkt es ebenfalls, als würde man den Zuschauer*innen das wohlige Gefühl einer vergangenen Zeit geben wollen, in der manches noch vermeintlich einfacher war. Wie diese Zeit ausgesehen hat oder wie man uns glauben lassen will, dass sie ausgehen hat, beschreibt Gottschalk selbst in einem Text für den SPIEGEL.

Die Illusion einer guten alten Zeit

Die Schilderungen seiner Kindheit und Jugend, die offenbar von Leichtigkeit geprägt waren, enthüllen allerdings, dass nicht alles einfacher, sondern, dass vieles vor allem leichter zu ignorieren war. Klimaschutz habe niemanden interessiert, Hitzefrei war ja toll, die Mutter sei sowieso emanzipiert gewesen, Diversität habe keine Rolle gespielt, weil man selbst Migrant gewesen sei – die Eltern Geflüchtete aus Schlesien. Das mag für Gottschalk in seiner Erinnerung stimmen und vielleicht war es wirklich für bestimmte Menschen alles etwas einfacher, wenn man vieles ignorieren konnte, was damals schon hätte aufgearbeitet oder zumindest auf andere Weise diskutiert werden sollen: Der Umgang mit den sogenannten „Gastarbeitern“, die Umweltverschmutzung oder die Diskriminierung von Frauen und queeren Menschen.

Heute beklagt Gottschalk in seinem Beitrag das „Ende der Leichtigkeit der deutschen Unterhaltung“, es gehe nur noch um „woke oder tot“. Hier und bei vielen ähnlichen Klagen schwingt dieser Tage dann auch wieder einmal das Beharren auf dem Recht der eigenen Meinung mit, dem Recht zu sagen, was man denkt, als würde ihm das irgendjemand absprechen. Die Kultur der Leichtigkeit, die an ihr Ende gelangt sei, lässt sich gut in Aufnahmen aus dieser vermeintlich guten alten Zeit beobachten, die zeigt, warum diese Kultur auch damals nur für manche leicht war.

Beinahe körperlich unangenehm wirkt aus heutiger Sicht der Moment, als Gottschalk die Backstreet Boys angesichts des tosenden Applauses mit den Worten verabschiedet „Dazu sind nur Frauen fähig!“ und den Auftritt der direkt folgenden Spice Girls ankündigt. Es gäbe jetzt auch was für „die Papas, für Herren wie mich!“. Das sagt ein fast fünzigjähriger Mann über die etwa halb so alten Frauen. Seine Hände ruhen zur Begrüßung unangenehm lange auf den Hüften der weiblichen Gäste und streichen beim Loslassen teilweise leicht am Bauch entlang. Auch einige Minuten später verlässt Gottschalks Hand kaum Rücken, Arm und Bein der neben ihm sitzenden Melanie C. In einer anderen Samstagabendshow von vor ungefähr zwanzig Jahren, Geld oder Liebe, liest der Moderator Jürgen von der Lippe einen Witz vor, den ihm ein 12-jähriges Mädchen geschickt hat. Die Pointe besteht darin, dass Frauen umsichtig denken, während Männer mit blinder Kraft das Ziel verfolgen. Von der Lippe lächelt gequält und kommentiert unter lautem Gelächter, das sei wohl eher ein Märchen als ein Witz – der alltägliche sexistische Basslauf der Unterhaltungskultur, zu dem auch die homophoben Witze von Stefan Raab gehörten, als er beispielsweise für Raab in Gefahr die schwul-lesbische Fußball-WM besuchte.

Er habe niemals jemandem wehtun wollen mit all seinen Späßen, Witzen und seinem Verhalten. Das glaubt man Gottschalk und vielen anderen, die das zur Zeit sagen. Das ist aber vielleicht nicht die entscheidende Haltung in all dem, sondern vielmehr Gottschalks Aussage, dass sich bei ihm „nie der Sinn für Ernsthaftigkeit, Verantwortung und Nachhaltigkeit eingestellt” habe. Ein Sinn für die Verantwortung, die man als jemand trägt, der mehrere Generationen über Jahrzehnte im Fernsehen unterhalten hat, wäre vielleicht bei aller Leichtigkeit ganz gut gewesen. 

Dass man es nicht böse meine, das hört man derzeit von einigen, die wie Gottschalk schon seit Jahrzehnten im Unterhaltungs- oder Mediengeschäft sind und jetzt wegen sexistischer oder rassistischer Äußerungen in der Kritik stehen. Aus ihnen spricht unter anderem vielleicht eine Enttäuschung über eine Art gebrochenes Versprechen: Das sich selbst gegebene Versprechen, dass man als Teil der Dominanzkultur eigentlich alles richtig gemacht habe, man hatte sich gegen die Eltern und Altnazis aufgelehnt, man hatte 1968 Revolution gemacht, oder zumindest so etwas ähnliches und gegen Rassismus und Sexismus war man selbstverständlich auch. 

Das Ende der Geschichte in deutschen Wohnzimmern

Der Eindruck, der um die Jahrtausendwende vermittelt wurde, war, dass sich jetzt eigentlich alles am richtigen Fleck befand. Die Wiedervereinigung hatte geklappt oder man hatte die Gemüter zumindest soweit beruhigt, dass man weitermachen konnte, Helmut Kohl und die alte Bonner Republik waren abgewählt, in der Bundesregierung saßen ein Arbeitersohn aus der SPD und ein Alt-68er und ehemaliger Revoluzzer von den Grünen, ein offen schwuler Mann war Bürgermeister von Berlin, das öffentlich-rechtliche Fernsehprogramm wurde bestimmt von dem, der in den 1970er und 1980er Jahren das spießige Bayern im Radio aufgemischt hatte und jetzt Smalltalk mit Stars aus den USA machte, das Privatfernsehen teilte sich der andere aus dem Bayern Radio – Günther Jauch – mit Stefan Raab, der wenige Jahre zuvor noch bei dem anarchischen Musik- und Jugendsender VIVA gewesen war. 

Und bei Gottschalk auf der Couch kamen sie alle zusammen. Da saß Gerhard Schröder, Günther Jauch kumpelte mit seinem alten Freund herum und Stefan Raab spielte Ukulele. Hier waren nicht mehr die alten, spießigen Unterhalter im Fernsehen oder die verstaubten Granden der Union und der SPD, nein, sogar die CDU hatte jetzt eine ostdeutsche Frau als Parteivorsitzende. Es schien als hätte man es geschafft. Fukuyamas Ende der Geschichte hatte sogar in deutschen Wohnzimmern Einzug gehalten. Wer wollte und konnte, durfte sich entspannt zurücklehnen, die Eurovisionshymne genießen und dabei daran denken, dass man auch das geschafft hatte, Europa war vereint.

Und nun zwanzig Jahre später mussten diejenigen erkennen, dass dieses Versprechen vielleicht schon damals nur ein leeres war, dass man zwar manches geschafft hatte, wie meistens irgendetwas erreicht wird, aber noch nicht ansatzweise alles, im Gegenteil. Stück für Stück zeigten sich in den letzten zwanzig Jahren Entwicklungen, die die Illusion der Sicherheit zerstörten; eine Illusion, die darauf beruht hatte, dass man als weißer Mittelstand all die Grundlagen für die Probleme der Gegenwart ignoriert hatte, weil sie einen scheinbar nur peripher betroffen hatten: Finanzkrise, Flucht, Klimakatastrophe, rechte Terrornetzwerke, struktureller Sexismus und Rassismus, #metoo, marginalisierte Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen, rassistische Strukturen in Polizei und Bundeswehr, eine rechtsextreme Partei im Bundestag und dann kam vor anderthalb Jahren noch eine Pandemie, in deren Verlauf sich rechte Netzwerke und Impfskeptikerszene zusammentaten, während sich in Deutschland bis jetzt mindestens 5 Millionen Menschen infiziert haben und ungefähr 100.000 gestorben sind.

Mitten in all dem soll nun die Zeit zurückgedreht werden, Gottschalk schäkert wieder mit Michelle Hunziker auf dem Wetten-dass-Sofa und macht anzügliche Sprüche und auf Pro7 geht am Abend wieder ein Mann eine gewundene Showtreppe hinab und fährt dann seinen Schreibtisch durch das Studio. Vielleicht wird Friedrich Merz ja doch noch CDU-Vorsitzender und man hat fast Angst nachzuschauen, was Harald Schmidt gerade macht. Die Sehnsucht nach einem vereinenden Lagerfeuer am heimischen Fernsehbildschirm ist per se gar nicht so schwer nachzuvollziehen, das wurde auch neulich in einer Folge des DLF Kultur Podcasts Lakonisch Elegant mit Anna Dushime deutlich. Und auf andere Weise ist es sogar verständlich, dass viele gerne in eine Zeit zurück möchten, in der in der Sportschau am Samstagabend nicht die Frage nach dem Impfstatus eines Fußballers im Zentrum stand, sondern die größte Sorge vor der Ansage der Saalwette war, ob Mario Basler die Torwand trifft. Aber auch damals herrschte nur eine Fiktion der Sorglosigkeit, die diskursiv vermittelt und in Fernsehshows wie Wetten, dass und TV Total reproduziert wurde und an deren Stelle heute zumindest etwas Klarheit getreten ist. Eine Klarheit, die auch von der warmen Decke der Nostalgie höchstens kurz verdeckt werden kann. Aber versuchen will man es unbedingt, das ZDF spricht schon von einer Fortsetzung der zunächst als einmaliges Ereignis geplanten Rückkehr von Thomas Gottschalk.

Foto by Mike Erskin

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