Kriminalliteratur und Paranoia – Zwischen Wahrheitsfindung und Verschwörungsfiktionen

von Sandra Beck

In Klappentexten wird Kriminalliteratur als ein Genre vorgestellt, das immer neue Erzählungen von unvorstellbaren Abgründen produziert: „Doch in diesem Fall ist nichts, wie es scheint, und hinter jeder Wahrheit verbirgt sich eine weitere…“, heißt es etwa im Klappentext zu Linus Geschkes Finsterwald.[1] Die hyperbolischen Formulierungen suchen nicht nur Aufmerksamkeit für den Einzeltitel auf dem notorisch überfüllten Krimimarkt zu generieren, sondern erfassen überraschend präzise ein grundlegendes Prinzip kriminalliterarischen Erzählens. Folgt man dem Soziologen Luc Boltanski ist Kriminalliteratur ein Genre, das unsere Vorstellung von der Welt als Scheinrealität enttarnt:

In einer scheinbar geordneten, transparenten und zuverlässigen Wirklichkeit verbergen sich monströse Täter*innen, deren Lust am Quälen, Martern und Töten an bestialisch hingeschlachteten Leichen abzulesen ist. Mit Akribie werden in Serienmörder-Fiktionen die toten Körper der Opfer als Projektions- und Spiegelfläche der Psyche des Täters und seiner Geschichte gelesen, an denen Ermittler*innen selbst irre zu werden drohen. Das Genre beschränkt sich allerdings nicht auf die Auslotung der psychopathologischen Abgründe von Einzeltätern, sondern legt mit gleicher Intensität nationale wie internationale korrupte Interessenverflechtungen zwischen Staat, Politik und Wirtschaft bloß. Um die Schuldigen zu identifizieren und die verschworenen Seilschaften aufzudecken, bedarf es einer Ermittlerfigur, die der wahrgenommenen Wirklichkeit misstraut, Zufälle als Ursachengewirr begreift und stets nach verborgenen Bedeutungen fahndet. In der Logik des Genres ist allen alles zuzutrauen. Im spähenden Blick der Ermittler*innen muss jede noch so kleine Abweichung von dem, was als Normalität gilt, als potenzielles Zeichen erfasst werden. In dieser Obsession, jedes Wahrnehmungsdetail als Zeichen mit einer Bedeutung zu lesen und zu einer kohärenten Erzählung zusammenzufügen, weisen die ermittelnden Figuren selbst tendenziell psychopathologische Züge auf. Für Boltanski handelt „der Ermittler […] wie ein Paranoiker – mit dem Unterschied, dass er geistig gesund ist.“[3]

Erzählen vom Ausnahmezustand

Auf dieser ungelenken generischen Formel eines um Paranoia zentrierten Erzählens, das nur deswegen keine Paranoia ist, weil die vermeintlichen Paranoiker*innen stets Recht behalten, beruht das gesellschaftskritische Beobachtungspotenzial des Genres. Im Bestreben, realistisch zu erzählen, greift Kriminalliteratur zeitgenössische Ängste und aktuelle politische Probleme auf und lässt sie blutig eskalieren. Gerade in der literarischen Auseinandersetzung mit innenpolitischen Konflikten setzt Kriminalliteratur Ermittlerfiguren als potenzielle Paranoiker*innen auf die Spur von selbst hochgradig paranoider Institutionen und Verschwörungen.

So entwarfen bereits vor gut zehn Jahren eine Reihe kriminalliterarischer Texte die angstbesetzte Imagination eines gezielt herbeigeführten Ausnahmezustandes. Hier stehen sich die in Deutschland lebenden ‚Parallelgesellschaften‘ als Kriegsparteien gegenüber. In Horst Eckerts Sprengkraft (2009) etwa verübt ein Beamter des Landesamtes für Verfassungsschutz einen Bombenanschlag auf eine Moschee und in Matthias Giberts Zirkusluft (2009) hetzen konspirative Zirkel aus Politik und Wirtschaft durch Auftragsmorde gezielt „die Türken gegen die Deutschen und umgekehrt“.[4] Stefan Kellers Kölner Totenkarneval (2011), Yassin Musharbashs Radikal (2011) oder Hilal Sezgins Mihriban pfeift auf Gott (2010) problematisieren insbesondere die gesellschaftspolitische Rolle des Verfassungsschutzes. Entworfen wird das Bild einer selbstherrlichen Instanz, die die „unter dem Vorwand der Ter­rorbekämpfung“[5] akkumulierten Machtmittel und Ressourcen über zwielichtige V-Männer in terroristische Zirkel einspeist: „Das BKA hat einen Terroristen bezahlt […]! Es hat ihm auch noch den Weg zu einer Sprengstoff­quelle geebnet.“[6] In all diesen Texten erweist sich die vermeintlich paranoide Annahme, einer Verstrickung von Institutionen des Staatsschutzes in terroristische Aktivitäten als wahr.

Diese Auseinandersetzungen mit dem zeitgenössischen Terrorismus-Diskurs in der Literatur betreffen offensichtlich unsere gesellschaftliche Realität. Wie man nicht erst seit heute weiß, sind rechtsextreme Zirkel in den deutschen Sicherheitsbehörden und unzureichende parlamentarische Kontrollmöglichkeiten des Verfassungsschutzes keine substanzlose Verschwörungserzählung.[7] Nicht die Inhalte, sondern die Idee, dass der Einzelne sich in der Konfrontation mit übermächtigen Interessenkoalitionen zu behaupten und allein die Wahrheit aufzudecken vermag, erscheint als unrealistische Fiktion. Denn das Genre erzählt vom Triumph der Wahrheit, davon, wie es möglich sein kann, wie Boltanski schreibt, selbst dann „zur Wahrheit, das heißt zur Realität vorzudringen, wenn die Instanz, die ihren Schutz gewährleisten soll, sich als fragil“[8] oder paranoid erweist.

Der Fall der Weimarer Republik

Bereits Bertolt Brecht betonte, dass das spannende und spannungsvolle Wechselspiel zwischen der Evokation einer Krise und ihrer epistemologischen Bewältigung durch die Rekonstruktion der vorgängigen Geschichte – dem Fall und seiner Lösung – wesentlich verantwortlich ist für die Popularität des Genres im 20. Jahrhundert:

Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler Form. Aus Katastrophen haben wir die Art und Weise, wie unser gesellschaftliches Zusammensein funktioniert, zu erschließen. Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und Kriegen müssen wir, denkend, die ‚inside story‘ erschließen. Wir fühlen schon beim Lesen der Zeitungen […], daß irgendwer irgendwas gemacht haben muß, damit die offenbare Katastrophe eintrat. Was also hat wer gemacht? Hinter den Ereignissen, die uns gemeldet werden, vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet werden. Es sind die eigentlichen Geschehnisse. Nur wenn wir sie wüßten, verstünden wir.[9]

Während die Katastrophen unmittelbar in Augenschein genommen werden können, liegen ihre Ursachen im Dunkeln. Selbst die Presse als ‚vierte Gewalt‘ notiere nur die evidente, ohnehin am eigenen Leib erlebte Krisenerfahrung, sei aber nicht in der Lage, die verantwortlichen Akteure zu benennen. Für Brecht ist der Kriminalroman ein fiktionales Refugium, in dem die Gesetze der Kausalität und ihre Beobachtung noch so möglich seien, dass man zur Wahrheit gelangen könne. Der serielle Reiz kriminalliterarischer Fiktionen besteht also darin, nach der Katastrophe hinter dem Uneigentlichen das Eigentliche zu entbergen.

Die Serie Babylon Berlin (seit 2017, aktuell 3 Staffeln), die auf Volker Kutschers historischen Kriminalromanen beruht, bietet für diese Überlegung die audiovisuelle Probe aufs Exempel. Während die Romanreihe beobachtet, wie die Figuren versuchen, nach einschneidenden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen eine jeweils neue Normalität zu errichten, befasst sich die Adaption obsessiv damit, hinter den opulent in Szene gesetzten Bildern vom ‚Tanz auf dem Vulkan‘ sich überlappende Kreise perverser Unterwelten zu enthüllen: unter den Champagnerströmen des Tanzpalastes ein SM-Bordell, das Badezimmer der bürgerlichen Wohnung als Ort des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger, hinter der ersten Liebe eine Attentatsplan. Die Serie übersetzt die in den Romanen benannten historischen Zäsuren und Ereignisse, die in ihrer Bedeutung eindeutig in der historiographischen Erzählung vom Ende der Weimarer Republik und dem Beginn des ‚Dritten Reiches‘ verortet sind, in ein lebendiges Figurentableau.

Statt historiographische Kristallisationspunkte nur zu benennen, entwickelt die Serie eine Reihe neuer Subplots, die wirtschaftliche Konspirationen, politische Verschwörungen und organisierte Kriminalität mit ihren handelnden Figuren zeigen. Alle diese Erzählfäden werden an zerstörte und verstörte Kernfamilien und dysfunktionale heterosexuelle Beziehungen zurückgebunden. Die fragile Realitätswahrnehmung der zentralen Ermittlerfigur, die durch Drogenkonsum, Kriegstraumata und ins wahnhafte verzerrte Gewissenskonflikte belastet wird, steht dabei beispielhaft für eine staatliche Ordnung, die sich als ohnmächtig erweist, die eigene Vorstellung von Realität nach innen und außen zu verteidigen. Die Serie zitiert den Mythos der ‚Goldenen Zwanziger‘ im buchstäblichen Sinne als Kulisse, um den Erosionsprozess einer staatlichen Ordnung zu erzählen, die das Gewaltmonopol verliert, den illegalen Aktivitäten der Schwarzen Reichswehr und nationalsozialistischer Verbände ebenso ohnmächtig gegenübersteht wie finanzpolitischen Spekulationen und dem Wahnsinn der eigenen Mitarbeiter.

Fakt und Fiktion – und Paranoia

Das Bild einer gespaltenen Gesellschaft, die sich durch gezielte (terroristische) Aktionen verschworener und gewaltbereiter Zirkel in den Ausnahmezustand versetzen lässt, überspringt als zeitgenössisches Angstszenario und als historiographische Diagnose die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Großes öffentliches Entsetzen und die Forderung nach eingehender Untersuchung prägten in den letzten Monaten die Auseinandersetzung um die dokumentierten rechtsextremen Umtriebe in Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz: „Es muss aber aufgeklärt werden, ob hinter all diesen Vorfällen Netzwerke und Strukturen stecken, kurz: ein System.“[10] Gefordert wird eine objektive und faktenbasierter Recherche, ein evidenzbasiertes Modell der Wahrheitsfindung.

Zeitgleich zu diesen Forderungen nach politischer Aufklärung und datengestützter Wahrheitsfindung lässt sich im öffentlichen Raum eine Zunahme von Verschwörungserzählungen beobachten. So ist für die Corona-Leugner längst entschieden, dass sich, wie Boltanski mit Blick auf eine paranoide Weltwahrnehmung allgemein schreibt, hinter der Realität der Pandemie in Wahrheit eine „sehr viel realere Realität [verbirgt], die von Dingen, Taten, Akteuren, Plänen, Verbindungen und vor allem Mächten bevölkert wird, deren Existenz, ja überhaupt Möglichkeit bisher niemand vermutet hatte.“[11]

Es scheint naheliegend, für diesen um sich greifenden Glauben an Verschwörungserzählungen auch kriminalliterarische Fiktionen haftbar zu machen, bestätigt doch das Genre wieder und wieder das Misstrauen gegenüber vermeintlich sicheren Realitätsannahmen als berechtigt. Ist also ein weiterer Eintrag im ethischen und ästhetischen Sündenregister des Genres fällig? Lässt sich aus Kriminalliteratur entnehmen, dass ein diffuses Unbehagen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausreicht, um sich in unanfechtbarer Selbstbezüglichkeit die Welt zu machen, wie sie einem gefällt?

Bezeichnenderweise ist dies ein Vorbehalt, den die Kriminalliteratur selbst gegen die Kriminalliteratur ins Feld führt. So stellt die zentrale Ermittlerfigur Corso in Arturo Pérez-Revertes Der Club Dumas in einem Gespräch die Wahrheitsfindung im Genre als Fiktion vor:

„Hypothesen habe ich viele. Was mir fehlt, sind Beweise.“

„Man braucht nicht immer Beweise.“

„Das gilt nur für Kriminalromane: Sherlock Holmes oder Poirot reicht es, sich vorzustellen, wer der Mörder ist und wie er das Verbrechen begangen hat. Dann erfinden sie den Rest dazu und erzählen die Geschichte, als wäre sie wirklich so passiert. Watson oder Hastings applaudieren ihnen begeistert und jubeln: ‚Bravo, Meister, genau so ist es gewesen.‘ Und der Mörder, dieser Idiot, gesteht.“[12]

Eine derartige Deutung würde jedoch voraussetzen, kriminalliterarisches Erzählen auf seine Schließungsfiguren zu reduzieren – auf die Verkündung der einen Wahrheit und der einen Geschichte des Verbrechens. Ausgeblendet wird, dass das Genre die Verfahren und Techniken der Wahrheitsfindung stets als kritisch zu prüfende vorstellt. Kein Kriminalroman, der nicht falsche Spurenlektüren revidiert, Zeugenaussagen als subjektiv verzerrte oder fragmentarische Wahrnehmungen vorstellt oder Hypothesen der Ermittler*innen als vorläufige und korrekturbedürftige Deutungen von Wirklichkeit markiert. Spannung entsteht im analytischen Erzählmodell erst dadurch, dass die Wahrheit der Tat eben nicht von Anfang an bekannt ist. Indem kriminalliterarisches Erzählen sich mithin auf die Aufklärungsgeschichte konzentriert, wird von der Wahrheitsfindung als einem komplexen erkenntnistheoretischen Unterfangen erzählt. Offen bleibt, welche Wahrheit letztlich festgehalten wird.

An diesem Punkt setzen die literarischen De(kon)struktionen des Genres ein, die die ‚große Erzählung‘ von der Aufklärbarkeit und Erkennbarkeit der Welt in Frage stellen. Neben dem Topos des scheiternden Detektivs, den Friedrich Dürrenmatts Kriminalromane durchspielen, tritt eine grundsätzliche Unsicherheit, ob die wahrgenommenen Zeichen auf eine feindliche Verschwörung hindeuten oder einem paranoiden Bedeutungswahn entspringen. Anstatt die ermittelnden Figuren mit der stählernen Gewissheit auszustatten, dass ihre ethischen Grenzüberschreitungen, ihre Gewalthandlungen, ihre Verstöße gegen juristische Vorschriften durch die interessenlose Aufklärung der Wahrheit gedeckt sind, führen diese Texte an den Abgrund der Sinnlosigkeit, indem sie eine Welt entwerfen, in der es nichts zu entdecken gibt, eine Wirklichkeit, die nicht gelesen werden kann. Entsprechend resümiert Konrad Feldt in Gerhard Roths Roman Der Plan (1998): „‚Vielleicht‘, dachte Feldt, ‚erlebe ich eine Summe von Belanglosigkeiten. Ich muß sie nicht enträtseln können.‘“[13]

Erzählt wird mithin von der erkenntnistheoretischen Zumutung, dass sich hinter den zu Zeichen erkorenen Auffälligkeiten der Welt nichts verbirgt, dass sich der vermeintlich überlegene Verstand Irre hat leiten lassen und nicht die Wahrheit erkennen, sondern die Baufälligkeit der eigenen Verschwörungskonstruktion. Auch wenn sich diese Texte als Kränkungen der detektivischen Verstandeskräfte – der „little grey cells“ (Agatha Christie) à la Hercule Poirot – verstehen, so warnen sie doch ebenso nachdrücklich davor, jenen Weg zu gehen, „der direkt in den kalten, glatten, vollen imaginären Kreis der Paranoia hineinführte“.[14]

 

[1] Linus Geschke: Finsterthal. München 2020.

[2] Mirko Zilahy: Schattenkiller. Aus dem Italienischen von Katharina Schmidt und Barbara Neeb. Köln 2016, S. 283.

[3] Luc Boltanski: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia und moderne Gesellschaft. Aus dem Französischen von Christine Pries. Berlin 2013, S. 46.

[4] Matthias P. Gibert: Zirkusluft. Lenz’ dritter Fall. Meßkirch 2009, S. 266.

[5] Horst Eckert: Sprengkraft. Dortmund 2009, S. 406.

[6] Yassin Musharbash: Radikal. Köln 2011, S. 376.

[7] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/rechtsextreme-verfassungsschutz-101.html sowie https://www.fr.de/politik/ard-magazin-monitor-rassistische-chats-berlin-polizei-90057926.html

[8] Boltanski: Rätsel und Komplotte, S. 57.

[9] Bertolt Brecht: Über die Popularität des Kriminalromans [1938/1939]. In: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Hans-Detlef Müller. Bd. 22.1: Schriften 2, Teil 1. Berlin u.a. 1993, S. 504–510, hier S. 509.

[10] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/rechtsextremismus-polizei-seehofer-1.5055843

[11] Boltanski: Rätsel und Komplott, S. 43.

[12] Arturo Pérez-Reverte: Der Club Dumas. Aus dem Spanischen von Claudia Schmidt. Stuttgart, Wien 1995, S. 331.

[13] Gerhard Roth: Der Plan. Frankfurt/Main 1998, S. 146.

[14] Thomas Pynchon: Die Versteigerung von No. 49 [1965]. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 201.

Foto von Ari Spada

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