„Hoffentlich ist es dann nicht zu spät“ – Ein Stolpertext

von Victor Sattler

Im Exil könnten sie wieder vereint sein, hofften die zwei jüdischen Männer. Was sich Robert Bachrach und Leo Hochner zwischen 1938 und 1944 schrieben, wissen wir nicht im Detail. Ihre Beziehung ließ sich für diesen Text nur auf Umwegen und über Angehörige rekonstruieren.

Für die ‚Stolpertexte‘ arbeiten Autor*innen mit dem Leo Baeck Institut zusammen, das die Nachlasse deutschsprachiger Jüdinnen und Juden bewahrt. Die Briefe von Robert Bachrach an die Feitlers und die Briefe von Leo Hochner an die Feitlers werden hier im Original zitiert, manche Passagen sind leicht gekürzt. Das fiktive Gespräch der Familie Feitler basiert lose auf Briefen und Airgraph-Nachrichten.

1     New York

Das Telefon der Feitlers klingelte seit Roberts Tod „ohne Unterlass“, heißt es in einem Brief aus dem April 1944. Sagen wir, es klingelte alle zehn oder fünfzehn Minuten von Neuem. Es hielt Loni also mit Sicherheit davon ab, zumindest tagsüber ein paar Stunden zu schlafen, nachdem sie die letzte Nacht hindurch wachgelegen hatte. Sie war eine ältere Dame, war erst kürzlich Großmutter geworden und konnte die Aufregung nicht gut vertragen. Sobald der Anrufer seine wahren Beweggründe zu erkennen gab, musste Loni ihn abwimmeln. Sie hängte geräuschvoll den Hörer auf. „Diese Klatschmäuler“, sagte sie, „lassen nichts unversucht. Das einzig Gute ist, dass Robert diesen Skandal um seine Person nicht mehr erleben muss.“

Ihr Ehemann Paul nickte traurig. Er saß auf dem Fußboden bei Cathy, der kleinen Enkelin. Paul bot sich während des Kriegs so oft wie möglich als Babysitter an, um Cathys Eltern zu entlasten. Das war von Paul nicht ganz uneigennützig, denn er fand die Zeit mit seiner Enkelin so tröstlich. Er hatte Robert einmal als seinen „besten Freund in New York“ bezeichnet und sich nie an dessen Homosexualität gestört. Nun waren die Feitlers so etwas wie Roberts einzige Hinterbliebene; bei ihnen meldeten sich alle Leute, die unter Schock standen und nach der Todesursache fragen wollten, weil sie es sich nicht erklären konnten.

Trotz des Dauerklingelns waren die Feitlers sehr hellhörig für den Aufzug in ihrem Wohnhaus. Um vier Uhr nachmittags kam ihre Tochter Elisabeth Gay, nun waren alle drei Generationen versammelt. Elisabeth trug einen Regenmantel und -schirm, sie war bei typischem Aprilwetter einmal quer durch den Central Park gelaufen. An der 104. Straße befand sich die Wohnung der Feitlers mit Parkblick. Hier hatten sie sich nach ihrer Flucht aus Wien ein neues Leben aufgebaut.

Loni kochte als erstes einen starken Kaffee, und Paul berichtete von den gemeinsamen Stunden mit Cathy, um die Stimmung zu heben. „Sie war heute wieder so lustig und fröhlich, sie macht ihrem Nachnamen Gay wirklich alle Ehre“, lobte Paul. „Dann wollen wir dafür sorgen, dass es so bleibt“, sagte Elisabeth. Mit ihrer Tochter auf dem Schoß hatte sie zwei Hände frei, die sie ihr auf die Ohren legen konnte, wenn das Gespräch auf Robert kam. Cathy reagierte mittlerweile auf jede Erwähnung seines Namens mit einer neugierigen Kopfbewegung. Sie konnte sich später als erwachsene Frau daran erinnern, wie oft Roberts Name in ihrer Familie fiel und was er jedes Mal auslöste.

Vor ein paar Wochen, als Elisabeth ihm zum letzten Mal begegnet war, hatte er noch einen gesunden Eindruck auf sie gemacht. Auf dem Totenschein war von einer diffusen Herz-Nieren-Erkrankung die Rede. Davon hatte er ihnen nie etwas erzählt. Vielleicht war es sehr plötzlich geschehen, dachte Elisabeth. Er war Jahrgang 1879, das heißt, er wäre im November dieses Jahres erst 65 geworden, und 65 war doch kein Alter.

Ihre Eltern schwiegen eine Zeitlang. „Wir haben uns in den letzten Wochen schon manchmal Sorgen um Robert gemacht“, sagte Loni schließlich, „ich wünschte, wir wären diesem Instinkt stärker nachgegangen.“ Sie stand auf, mit einer großen Last auf ihren Schultern, um etwas aus ihrem Schlafzimmer zu holen. Sie brachte ein Kuvert, auf dem eindeutig Roberts Handschrift zu erkennen war.

Elisabeth war eine leidenschaftliche Autorin. Wenn sie keinen Brief zu beantworten hatte, schrieb sie Essays und Kurzgeschichten, die ausdrücklich für die Nachwelt bestimmt waren. Fast immer ging es darin um reale Personen, meistens um solche, die ihr persönlich nahestanden. Elisabeth kannte die genauen Lebensumstände vieler jüdischer Familien im amerikanischen Exil, sie erkundigte sich bei allen nach ihrem Wohlergehen. So entging ihr nichts, kein Klatsch und keine lebensverändernden Umbrüche. Da Elisabeth den engsten Briefkontakt zu Robert gepflegt hatte, konnte sie sich jetzt kaum vorstellen, dass Loni ihr etwas Neues über ihn eröffnen könnte.

2     Zwischen Wien, Budapest, London, New York

Am Anfang hatten sich Loni und Paul Feitler mit Dr. Robert Bachrach angefreundet. Er gehörte ihrer Generation an, nicht Elisabeths. Er arbeitete als Urologe und Chirurg im 8. Bezirk von Wien, war 1,70 Meter groß, mit blauen Augen und braunen Haaren, war fleißig und hatte eine förmliche Ausdrucksweise. Obwohl er mit Loni und Paul all die Jahre per ‚Sie‘ blieb, fand er in den Feitlers eine Wahlfamilie, die ihn akzeptierte: Hier war eine jüdische Familie, die in ihrer Einstellung bereits so großzügig und modern war, und das zu einer Zeit der allgemeinen Ächtung von Homosexualität in Europa. Im Herbst 1938, ein halbes Jahr nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, schrieb Robert wieder einen Brief aus Wien nach New York. Er schilderte, wie sehr seine Zukunftspläne sich jetzt in der Schwebe befanden.

Robert schrieb: »Nach den letzten Entscheidungen gehöre ich zu den Ärzten, denen die Behandlung von nicht-arischen Patienten bewilligt wurde; ob man mir dazu gratulieren kann, wird sich erst herausstellen. Jedenfalls bin ich nicht zum absoluten Nichtstun verurteilt und wäre sonst gezwungen gewesen, anderenfalls meine Emigration vorzeitig zu forcieren, was heute ja fast nicht möglich ist.«

In jedem Halbsatz steckte ein anderer Zwang. Roberts Kundschaft war zwar drastisch verkleinert, aber ein Rest an Struktur und Sinn blieb ihm erhalten. Er schien zwiegespalten darüber zu sein, dass er das fast-nicht-Mögliche vorerst noch nicht versuchen müsste. Da die Feitlers zu dieser Zeit bereits emigriert waren, sorgten sie sich um jüdische Freundinnen und Freunde, die in Wien geblieben waren. Bald pflegte Robert vor allem eine Brieffreundschaft zur jungen Elisabeth, schickte ihr Bücher und Bilder über den Atlantik:

Robert schrieb: »Mein liebes Mädi (Fräulein Elisabeth)! Ich glaube, wir schaffen das Mädi ab, weil Du schon zu erwachsen dazu bist. Es lässt sich denken, dass Du mit Briefeschreiben ebenso viel zu tun hast wie ich, weil wir doch alle die Hälfte unseres Daseins mit dieser Erinnerungsarbeit zubringen.«

Elisabeth bildete den Knotenpunkt eines ganzen Netzes an Brieffreundschaften. Zum Beispiel unterhielt sie auch einen regen Kontakt zu dem Wiener Architekten namens Leo Hochner, der 1938 nach Budapest geflohen war und mit dem Robert bestens vertraut war. Fast hätte Elisabeth beim Beantworten ihrer Briefe durcheinanderkommen können, denn jeder Brief von Leo aus Budapest begann Monat für Monat mit der gleichen Anrede wie Roberts Briefe aus Wien: Mein liebes Mädi. Ob die beiden Männer wohl voneinander wussten, dass sie Elisabeth auf die gleiche Weise ansprachen?

Leo schrieb: »Mein liebes Mädi! Ich erhielt heute einen sehr ausführlichen und lieben Brief von Mutti, auf den ich morgen antworten will. Dir will ich heute nur für Deine Einladung zu der amerikanischen Ice-Cream herzlichst danken, in der Hoffnung, in nicht allzu langer Zeit die Möglichkeit zu haben, dieser Einladung auch Folge leisten zu können. Ich freue mich unendlich über den heiteren Ton in Deinen Mitteilungen und schliesse daraus, dass Dir der Aufenthalt in der neuen Heimat nicht so schwer fällt wie den vielen anderen Leidens- und Schicksalsgenossen.

Der einzige Lichtblick war vorgestern die Mitteilung von Robert, dass er endlich nach vielen nervenaufreibenden Wochen seinen Auswanderer-Pass erhalten hat und somit die Möglichkeit besitzt, in kurzer Zeit das Land zu verlassen. Dass man ihm sein ganzes Vermögen abgenommen hat und er als Bettler hinausgeht, müsste ich eigentlich gar nicht erwähnen, denn das ist ja die Regel. Er geht über die Schweiz, wo ich ihn hoffentlich treffen werde, nach England, wohin er zunächst ein dreimonatliches, aber verlängerbares Permit hat. In der Zwischenzeit hofft er, die Einreise nach Kalifornien zu erhalten. Du kannst Dir vorstellen, dass mir diese Perspektive auch nicht als das Ideal meiner Lebensziele und Wünsche erscheint, aber man wird jetzt von den täglichen Sorgen so in Anspruch genommen und zermürbt, dass man die Spannkraft verliert, sich auf so lange Sicht Vorstellungen von der Zukunft zu machen.«

Die Spannkraft verlieren, so nannte Leo es. Er musste wohl selber gemerkt haben, wie verändert er war. Es war schwer zu sagen, welche Lebensziele und Wünsche er hatte, die nun in weite Ferne gerückt waren. Er war eigentlich ein leichtherziger Charakter, fast wollte man ihn sogar als leichtlebig bezeichnen; jedenfalls viel leichter als Robert. Vor seiner Flucht aus Wien hatte er reinrassige Dackel gezüchtet, von denen er nur zwei Welpen mit nach Budapest bringen konnte. Zu ihrem 12. Geburtstag hatte er Elisabeth ein Dackelweibchen mit einem langen adligen Namen geschenkt und ihr erlaubt, es einfach nur kurz „Mirli“ zu rufen. Diese Anekdoten würde Elisabeth später immer wieder haargenau so erzählen, bis ins kleinste Detail. Alle Geschichten aus der Zeit vor ihrer Flucht waren wie geronnen.

Wenn Leo zu den Feitlers nach Hause kam, war Mirli ihm ein willkommener Vorwand. Dass er keine eigenen Kinder hatte, schien er manchmal sehr zu bereuen. Elisabeth erkannte das und wusste seine Freundschaft genau in die richtigen Bahnen zu lenken. Sie nannte Leo ihren Wahlonkel und ein wandelndes Lexikon, weil er so bewandert war. Sein Weltwissen war gar nicht trocken. Legendär war zum Beispiel dieser eine unvergessene Sommertag, als Elisabeths Mutter Loni aus ihrem Roman aufsah und in die Runde fragte, was man sich denn unter einem „Bauchtanz“ vorzustellen habe. Leo stand auf und machte es ihnen vor. Das beschrieb Elisabeth in ihrem Tagebuch. Er war ein außergewöhnlich guter Tänzer, schrieb sie. In Budapest konnte er zum Glück in der Textilfabrik seines Bruders Artúr Hochner arbeiten, auf der Szentendrei-Straße im 3. Bezirk.

Währenddessen war es Robert gelungen, über die Schweiz nach England zu kommen, um in London seine nächsten Schritte zu planen. Er verschickte nun Briefe in beide Richtungen seines Weges: in eine mögliche Zukunft in den USA und in seine Vergangenheit auf dem europäischen Festland.

Robert schrieb: »Von Leo habe ich ziemlich regelmäßig Nachricht. Es ist die einzige Verbindungsmöglichkeit mit meinen Schwestern und mir auch deshalb so wichtig; er schreibt ganz regelmäßig, Du kannst dir vorstellen, was das für ihn für ein Opfer sein muss. Stehst Du wieder mit ihm in Verbindung?« 

Und Leo schrieb: »Der Eindruck, den Du aus Roberts Brief gewonnen hast, dass er ständig in England zu bleiben gedenkt, ist nicht ganz richtig, denn ich habe ihm in meinen letzten Briefen schon geschrieben, dass ich es für besser halte, wenn er die Möglichkeit, nach U.S.A. zu kommen, nicht ungenützt lässt. Ich komme leider langsam selbst zu der Überzeugung, dass es in Europa fast unmöglich ist, sich eine neue Existenz zu gründen, wenn man einmal gewaltsam entwurzelt wurde. Was mich bisher abgehalten hat, mich intensiver mit dem Gedanken an die U.S.A. zu befassen, ist die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist und ich das Gefühl habe, dass meine Anwesenheit für alle notwendig ist, so dass der, an den ich zuletzt denken darf, ich selbst sein werde. Hoffentlich ist es dann nicht zu spät.«

Das war ein bemerkenswerter Brief von Leo. Er korrigierte Elisabeths Interpretation von Roberts letzten Briefen. Er legte Rechenschaft über all die Verstrickungen der letzten Monate ab. Elisabeth blieb an einer Stelle hängen, die sie sich unterstrich:

»die Tatsache, dass Robert und fast meine ganze Familie noch am Kontinent ist«

Dieser beiläufige Nebensatz war im Singular abgefasst. Es war keine Aufzählung all derer, die noch in Europa waren. Leo zählte Robert zu seiner Familie. Einst enge Vertraute in Wien, die durch Leos Emigration getrennt worden waren, standen die zwei Männer nach all dieser Zeit noch immer in Kontakt und nahmen starken Einfluss auf den Weg des jeweils anderen:

Leo gestand: »Ich habe immer Robert zugeredet, die Verwirklichung seiner Überseepläne zu verschieben. Ich halte aber selbst im Falle einer baldigen Beendigung des Krieges die Situation in Europa für wenig aussichtsreich und es ist sehr leicht möglich, dass ich in Verfolgung dieses Gedankenganges mich auch selbst nach U.S.A. orientieren werde.«

Nun war Robert dazu angehalten, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Leos Stimme in seinem Ohr hatte ihre Meinung geändert. Aus dem Zuraten zum Verschieben war plötzlich ein Zuraten zum Verwirklichen geworden. Im Oktober 1940 war es so weit. In Liverpool ging Robert an Bord der S.S. Northern Prince. Ihr Zielhafen war New York – die neue Heimat der Feitlers und so vieler anderer jüdischer Emigrant*innen. Wenn es ihnen dort wirklich so gut ergangen war, wie Elisabeth in ihren Briefen ja eindrücklich geschildert hatte, ohne jemals etwas auszulassen, warum dann nicht auch ihm?

the name of my wife or husband is ——————————

Robert konnte lesen und schreiben, wie alle Passagier*innen auf seinem Schiff. Er gab an, die deutsche und die englische Sprache zu beherrschen. Er kam aus Wien, Deutschland, aber er war geboren in Wien, Österreich, so stand es auf dem Papier. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Dahinter blieben auf dem Formular viele Zeilen frei. Bis auf Robert waren alle ledigen Personen auf seinem Schiff selbst noch Kinder.

3     New York

Für den Anfang durfte er bei den Feitlers wohnen, um sich in Amerika einzugewöhnen und leichter eine Bleibe zu finden. Das war für ihn eine große Erleichterung. Die vorige Wohnung der Feitlers war ebenfalls auf der Upper Westside, nur ein paar Häuserblocks weiter: Sie wohnten alle zusammen in 355 Riverside Drive. Das konnte man sich gut merken. Es hatte sich bei jedem erneuten Formular, das Robert ausfüllen musste, so schön für ihn gereimt. Er benötigte auch eine „Person, die immer meine Adresse kennen wird“, und er nannte dafür seinen guten Freund Paul.

Im Frühjahr 1941 wurde Robert in New York eingebürgert:

(14) Es ist meine Absicht nach Treu und Glauben, ein Bürger der Vereinigten Staaten zu werden und dort permanent wohnhaft zu sein.

(16) Ich bin kein Anarchist, auch kein Anhänger der gesetzwidrigen Beschädigung oder Zerstörung von Eigentum, oder der Sabotage: auch kein Gegner von organisierter Regierung; auch kein Mitglied in jeglicher Organisation oder Gruppe, die sich gegen eine organisierte Regierung stellt. So wahr mir Gott helfe.

Von den Gesetzen geschützt, statt schikaniert zu werden – das war das Versprechen, das Amerika als gelobtes Land für viele traumatisierte Emigrant*innen einlösen konnte. Robert hätte sich die gleiche Hoffnung gemacht. Er fasste langsam Fuß in der neuen Stadt, baute sich ein soziales Netz auf. Er verließ das Zuhause der Feitlers und zog in die 79. Straße, wie aus seinen Gerichtsunterlagen hervorgeht: „308-E79St“, steht als Adresse mit einem spitzen Bleistift hinter dem speckigen Einband des Gerichtsbuchs notiert.

In der Nähe gab es eine Schwulenbar, die Robert in seinem neuen Leben gern besuchte. Im Februar 1944 war sie das Ziel einer Polizeirazzia mit einigen Festnahmen. Robert wurde dem Richter Charles Ramsgate vorgeführt. Am Amtsgericht gab es keine Jury und in dieser Sache auch keinen Kläger, nur einen Polizisten namens Campbell. Robert wurde vor die Wahl gestellt zwischen 15 Tagen Zuchthausstrafe oder einem Bußgeld in Höhe von 50 US-Dollar. Dass er letztlich das Geld zahlte, wurde dort mit einem Häkchen bestätigt.

Die nationalsozialistische Propaganda im Deutschen Reich hatte Homosexualität immer wieder als ein jüdisches Laster bezeichnet. In den Ausgaben des „Stürmers“ wurden Juden mit ihrem Foto und Namen zusätzlich noch als Homosexuelle und Sittlichkeitsverbrecher angeprangert, die die Jugend gefährdeten. Gegen homosexuelle Juden konnten härtere Gerichtsurteile erlassen werden, auch mithilfe der Nürnberger Gesetze. Ihre Deportation wurde oftmals durch ihr Vorstrafenregister erleichtert, ihre Ausreise hingegen durch ihre Einträge ins polizeiliche Führungszeugnis vereitelt. In den Konzentrationslagern waren diese Männer mit einem doppelten Winkel gekennzeichnet (der rosa und der gelbe Winkel, zu einem Davidstern kombiniert) und wurden auffällig oft in den Krankenbau eingeliefert. Sie waren als die „175er“ bekannt, nach dem Paragrafen 175 des Reichsstrafgesetzbuches benannt.

Währenddessen war es im New Yorker Strafrecht die Sektion 722, Abschnitt 8 (unter der Überschrift „Entartung“), die männliche Homosexualität als „Verbrechen gegen die Natur“ ahndete. Zwischen 1923 und 1966 kam dieser Paragraf bei schätzungsweise mehr als 50.000 Männern zum Einsatz. Sie erhielten Geld- oder Haftstrafen, und viele verloren danach ihren Job. Robert Bachrach war einer dieser vielen, ohne in jeder Hinsicht wie sie zu sein. Der spezifische Ablauf war ihm ganz eigen, wie jedem einzelnen der vielen anderen auch. Robert wurde nach dem Gerichtsurteil wegen „moralischer Verwerflichkeit“ aus der New York County Medical Society ausgeschlossen. Er hatte also innerhalb weniger Jahre seinen Arztberuf zweimal, in zwei Ländern und aus zwei verschiedenen Gründen verloren.

4     Budapest

Leo heiratete in Budapest eine Jüdin namens Vera. Im März 1944 besetzten deutsche Truppen Ungarn. Wenige Tage später begann unter der Leitung von Adolf Eichmann und im Zuge der „Endlösung“ die massenweise Verfolgung und Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden. Für Leo und Vera erschwerte das ihren Plan, gemeinsam in die USA auszureisen. Um nur überleben zu können, musste sich Leo in der Textilfabrik seines Bruders eine deutsche Uniform anfertigen lassen, die er auf offener Straße tragen konnte; mit gefälschten Papieren, die ihn als Christen und NSDAP-Mitglied auswiesen, und mit nur gekauften Tapferkeitsorden.

Elisabeth schrieb in ihr Tagebuch (und in vielen anderen Zeitzeugnissen ist ebenfalls glaubhaft überliefert), dass Vera und Leo Hochner ein Versteck bei sich einrichteten. Auf dem Dachboden ihrer Wohnung in der Sas-Straße im 5. Budapester Bezirk fanden bis zu sieben Menschen gleichzeitig Platz. Hier kamen Jüdinnen und Juden unter, die aus dem Pester Ghetto geflohen waren oder die Leo von der Straße reingeholt hatte. Ein befreundeter Kinderarzt namens Géza Petényi versteckte Dutzende jüdische Kinder auf seiner Krankenstation. Bei Überfüllung durften einige Kinder zu Leo und Vera kommen.

Dr. Petényi brachte regelmäßig Medikamente und Hygieneartikel vorbei. Vera und Leo trugen dreimal am Tag Essen nach oben. Wenn keine Gefahr bestand, konnten ihre Schützlinge den Dachboden verlassen, um die Glieder zu strecken, ein Bad zu nehmen oder ein Buch zu lesen. Elisabeth schrieb dazu in ihr Tagebuch: Man könnte das hier alles für ein einziges großes Lügenmärchen halten, wenn man ihren Onkel Leo nicht kannte.

Dass Leo und Vera in Budapest blieben, war also einerseits den äußeren Umständen geschuldet und zeugte andererseits von Mut und Selbstlosigkeit. Wenn Robert doch nur hätte wissen können, was sie mit ihrem kleinen Versteck in Budapest leisteten, müsste er sich im April 1944 vielleicht nicht so verlassen fühlen, oder vielleicht entziehen sich Gefühle einer solchen Logik.

Im Herbst 1944 wurde Vera schwanger. In die USA kam die frisch gegründete Familie Hochner erst in den 50er-Jahren. Das war lang nach Kriegsende und nur im Rahmen eines Urlaubs. Sie besuchten die Familien Feitler und Gay in New York, sobald ihr kleiner Sohn Robert alt genug für diese Reise war.

5     New York

Loni bewahrte in ihrer Kommode Robert Bachrachs letzten Brief auf. Er war an sie adressiert, nicht an Elisabeth. Sie überreichte ihn ihrer Tochter und sagte, „diese Tragödie wäre vermeidbar gewesen“. Spätestens jetzt zweifelte Elisabeth an der Erkrankung als Todesursache.

Roberts Briefe aus Europa waren nur ein schlechter Ersatz für ein echtes Gespräch mit ihm gewesen, nie hatte Elisabeth nachhaken können, wie er etwas meinte, jede Antwort ließ auf sich warten und setzte an einem ganz anderen Punkt der Flucht wieder an. Und nun stellte sich also heraus, dass er ihr auch in seiner New-York-Zeit, als Person aus Fleisch und Blut, wohl nicht immer alles erzählt hatte, was in ihm vorgegangen war. In Zukunft blieb ihr nur noch diese stumme Begegnung mit Robert auf dem Papier. Es ist ein Abschiedsbrief, und es gibt ein paar schwer leserliche Stellen darin:

Robert schrieb: »Meine liebe Loni, meine Stunde hat geschlagen, und ich will Ihnen gegenüber noch weniger undankbar erscheinen als zu irgendjemand anderem. Denn Sie haben ein solches Übermaß von Güte an mich verschwendet in diesen letzten Jahren, dass ich es Ihnen niemals hätte danken können. Und nur durch Sie, sowie durch Pauls und Elisabeths Einstellung zu mir, war es mir möglich, durch die letzten wahrlich schweren Jahre aufrechten Ganges durchzuhalten. Aber Sie haben mir noch [weit?] mehr geholfen durch Ihr tiefes Verständnis für meine [persönlichen Sorgen?], durch Ihre niemals ausgesprochene und doch so deutliche Teilnahme an der Sehnsucht nach [denjenigen?], die mich hier allein stehengelassen haben. Denn dadurch habe ich mich doch immer wieder verlassen gefühlt.

Wenn Sie den Leo noch je im Leben wiedersehen sollten, so sagen Sie ihm, dass ich bis zur letzten Minute meines Daseins seiner gedacht habe. Haben Sie Dank, Robert.«

Beitragsbild von sue hughes auf Unsplash

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