Geldgeschichten: Wer hat Schuld am hohen Preis?

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Preise in Deutschland nie so stark erhöht wie im vergangenen Jahr, und ein schnelles Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Wer trägt die Verantwortung dafür, dass gerade alles so viel kostet? Ist es die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrer über ein Jahrzehnt andauernden lockeren Geldpolitik der niedrigen Zinsen und milliardenschweren Anleihekäufen? Ist es der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, der die Energiepreise in die Höhe getrieben hat? Sind Unternehmen schuld, die die Gunst der Stunde nutzen, um ihre Preise über die Maßen zu erhöhen? Oder sind es am Ende die Angestellten, die durch ihre Lohnforderungen dafür sorgen, dass Preise weiter erhöht werden müssen? 2022 war das Jahr, in dem die Inflation als wirtschaftspolitisches Problem ihr unliebsames Comeback gefeiert hat, und da stellt sich die Frage: Wer hat Schuld daran – und was können wir dagegen tun?

Wenn wir über Inflation, ihre Ursachen, Gefahren und Möglichkeiten zur Bekämpfung sprechen, gibt es, so viel kann ich bereits hier vorwegnehmen, keine einfachen Antworten. Alle, die das Gegenteil behaupten, tun das mit einer politischen Agenda. Ich will diese Kolumne also nutzen, um die Komplexität des Themas ein wenig darzulegen.

Das Wesen der Inflation

Der Begriff beschreibt technisch nichts anderes als einen Anstieg des gesamtwirtschaftlichen Preisniveaus. Es geht also nicht darum, dass einzelne Preise erhöht werden, sondern dass diese Preiserhöhungen in allen Bereichen eines Wirtschaftsraumes vorkommen. Nicht eine bestimmte Sache wird teurer, sondern alle. Dabei setzen sich Preise im Prinzip aus drei einfachen Komponenten zusammen: den Kapitalkosten, den Lohnkosten und dem Gewinnaufschlag der Unternehmen (sogenannte Mark-Ups). Ein Unternehmen muss für ein Gut mindestens den Preis verlangen, der den Kosten, also der Summe aus den Kapitalkosten für Materialien, Mieten, Energie usw., plus den Lohnkosten entspricht. Hinzu kommt der Aufschlag der Unternehmen, der über die reinen Kosten hinausgeht und als Gewinn verbucht wird. Diese drei Komponenten lassen sich von zwei Seiten beeinflussen: von der Angebots- und von der Nachfrageseite. Es stellt sich also die Frage, durch die Aktion welches Akteurs auf dem Markt die Preiserhöhungen ausgelöst werden. Sind es wir Konsument*innen, die durch gestiegene Nachfrage dafür Verantwortung tragen, dass die Unternehmen ihre Güter und Dienstleistungen zu höheren Preisen anbieten können (die sogenannte Nachfragesoginflation)? Oder sind es die Anbieter*innen, also die Unternehmer*innen, die ihre Preise aufgrund von gestiegenen Kosten erhöhen müssen, um rentabel zu bleiben (die sogenannte Kostendruckinflation)?

Der große Schock

Für die Eurozone lässt sich mit großer Sicherheit sagen, dass der Haupttreiber für die Preiserhöhungen des vergangenen Jahres die gestiegenen Energiekosten waren. Wenn die Preise für Energie erhöht werden, ist das für eine Volkswirtschaft besonders unangenehm, da sich diese Entwicklung auf quasi alle anderen Wirtschaftszweige durchschlägt. Eine Bäckerei ist auf Strom angewiesen, um Brot zu backen, für Event-Veranstalter stellen Energiepreise einen hohen Kostenanteil dar und selbst Paketlieferdienste müssen auf einmal die höheren Spritkosten kompensieren. Wir haben im Jahr 2022 also das erlebt, was Ökonom*innen als einen exogenen Schock bezeichnen. Eine drastische Veränderung der ökonomischen Umgebungen ohne direktes Zutun der Betroffenen – im vergangenen Jahr in Form des Energiepreisschocks. Es ist ein Bilderbuchbeispiel für eine angebotsgetriebene Inflation. Anders als viele Kritiker*innen behaupten, ist also nicht die EZB Schuld an der gegenwärtigen Lage. Es gibt für Europa schlicht und ergreifend keine empirischen Hinweise darauf, dass die lockere Geldpolitik der EZB in den 2010er Jahren und die damit größere Menge an Geld im Wirtschaftskreislauf Hauptursache für die derzeitige Inflation ist. Neue Untersuchungen der Bundesbank legen den Schluss nahe, dass die erhöhte Geldmenge zwar einen geringen Einfluss hatte, aber keineswegs den Großteil der Entwicklung erklären kann. 

Die reale Welt

Ein Buzzword, das in den vergangenen Wochen und Monaten vermehrt die Runde gemacht hat, ist die Lohn-Preis-Spirale. Vor allem bei Anhänger*innen der neoliberalen Schule ist die Warnung vor diesem Effekt auffallend beliebt. Dabei gibt es zwei Kanäle, über den hier Einfluss auf die Preise genommen werden kann. Der erste wurde weiter oben schon erläutert – höhere Löhne sind für die Unternehmen höhere Kosten. Es existiert aber auch noch eine zweite Theorie, wie die Lohn-Preis-Spirale funktioniert.* Die Idee dahinter ist recht einleuchtend und wirkt auf den ersten Blick auch plausibel. Wenn die Preise erhöht werden, müssen die Angestellten diese Preiserhöhung irgendwie kompensieren. Sie werden also in zukünftigen Lohnverhandlungen höhere Löhne fordern. Diese höheren Löhne führen dazu – so zumindest der Theorie nach – dass die Haushalte (also wir) vermehrt Produkte konsumieren und durch diese gestiegene Nachfrage Unternehmen in der Lage sind, ihre Preise weiter zu erhöhen. Woraufhin in den nächsten Lohnverhandlungen höhere Löhne gefordert werden und so weiter; ein Teufelskreis – oder eben eine Spirale. Der Punkt ist klar. Was bei dieser Art der Argumentation häufig vergessen oder je nach Intention willentlich weggelassen wird, ist, dass es einen eklatanten Unterschied zwischen zwei Betrachtungsweisen von Löhnen gibt: Real- und Nominallöhne. 

Nominallöhne, das sind die Löhne, die wir tatsächlich ausgezahlt bekommen. Wenn mein*e Arbeitgeber*in mir eine fünf-prozentige Lohnerhöhung gewährt, ist mein Nominallohn um fünf Prozent gestiegen. Der Reallohn hingegen betrachtet nicht einfach nur die reinen Zahlen, sondern schaut auf die Kaufkraftentwicklung meines Lohns. Hier geht es also darum, wie viel ich mir für meinen Lohn tatsächlich kaufen kann: Fünf Prozent mehr Lohn bedeuten nicht zwingend fünf Prozent mehr Kaufkraft. Der Reallohn also betrachtet den realen Wert, den die Lohnerhöhung hat, und setzt diese mit der Veränderung des Preisniveaus in Zusammenhang, sprich der Inflation. Wenn wir eine Inflationsrate von 10 Prozent haben, im Durchschnitt also alle Preise um 10 Prozent erhöht wurden, dann ist meine Nominallohnerhöhung um 5 Prozent am Ende eigentlich eine Reallohnsenkung um 5 Prozent.

Aber machen wir es mal konkret: Im dritten Quartal 2022 gab es in Deutschland eine Inflationsrate von ca. 8 Prozent und eine Nominallohnwachstumsrate von ca. 2 Prozent, was bedeutet, dass die Reallohnlöhne (und damit die Kaufkraft der Angestellten) um ca. 6 Prozent gesunken ist. Selbst wenn die Nominallöhne um 8 Prozent gewachsen wären, würde das nur dazu führen, dass sich die Menschen genauso viel von ihrem Lohn leisten können wie vor der Inflation. Die Lohn-Preis-Spirale ist aktuell also nichts weiter als ein neoliberales Schreckgespenst.

Von Rekordgewinnen und Rekordinflation

Ein anderer Zusammenhang fällt da schon eher ins Auge. 2022 ist nicht nur das Jahr, in dem Deutschland die höchste Inflationsrate seit Gründung der BRD aufweist, im dritten Quartal des vergangenen Jahres haben auch die im DAX notierten Unternehmen Rekordgewinne eingefahren. Auf den ersten Blick scheint eine einfache Schlussfolgerung also naheliegend – es sind die Unternehmen, die für die Preiserhöhungen verantwortlich sind, die das aktuelle ökonomische Klima ausnutzen, um ihre Gewinne zu maximieren. Wie so oft in ökonomischen Fragestellungen ist es leider nicht so einfach.

Für die USA gab es zu Beginn der aktuellen Inflationsphase tatsächlich empirische Hinweise darauf, dass bis zu 50 Prozent der gestiegenen Preise auf die erhöhten Gewinnanteile der Unternehmen zurückzuführen sind. Die Lage in den USA unterscheidet sich aber ganz elementar von der in Europa, weil die Vereinigten Staaten zum einen keinen so großen Energiepreisschock ausgesetzt waren, da sie weniger von russischen Energieexporten abhängig sind. Zum anderen gab es große Konjunkturpakete der Biden-Regierung, die tatsächlich die Kaufkraft der Menschen kurzfristig und unmittelbar erhöht haben und so den Unternehmen Spielräume gaben, ihre Preise über die gestiegenen Kosten hinaus zu erhöhen.

Für Europa lässt sich das nicht so einfach festhalten. Wie wir schon gesehen haben, sind es hier vor allem die Energiepreise, die im vergangenen Jahr die Inflation getrieben haben. Die Frage, ob Unternehmen die Inflation verursachen, lässt sich auch aus einem anderen Grund nicht so einfach beantworten. Es ist unglaublich schwer einen kausalen Zusammenhang herzustellen. Sind die steigenden Profite der Unternehmen dafür verantwortlich, dass die Preise erhöht wurden, oder führt die Inflation dazu, dass auch die Gewinne der Unternehmen absolut wachsen, da sie eine feste prozentuale Gewinnmarge auf ihre Preise aufschlagen? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Fakt ist aber, und dabei spielt die Wirkungsrichtung keine Rolle, es sind vor allem die großen Unternehmen, die von der Inflation in Form höherer Gewinne profitieren.

Ein sich selbst anfachendes Feuer

Damit kommen wir zu der Frage, die mindestens genauso heiß diskutiert wird wie die nach der Ursache für die Inflation: Was können wir tun, um sie zu bekämpfen. Hohe Inflationsraten sind in erster Linie eine Belastung für Menschen mit geringem Einkommen. Das liegt daran, dass ärmere Menschen dazu gezwungen sind, ihr gesamtes Einkommen direkt auszugeben. Während in Deutschland die ärmste Hälfte der Menschen kaum Ersparnisse bilden kann, können die reichsten zehn Prozent ein Drittel ihres Jahreseinkommens sparen. Reiche Menschen können also auf die erhöhten Preise reagieren, indem sie etwas weniger sparen. Für Millionen Menschen in Deutschland ist das aber keine Option. Ihre Möglichkeiten sind begrenzt und belaufen sich entweder darauf, sich zu verschulden, oder den ohnehin geringen Konsum weiter zurückzuschrauben. In zahlreichen Fällen bedeutet das, dass bereits vorhandene Existenzsorgen noch größer werden.

Aber auch neben diesem sozialen Verteilungsaspekt sind hohe Inflationsraten gefährlich, denn sie wirken wie ein Feuer, das sich selbst anfacht. Wenn Wirtschaftsakteure erwarten, dass die Inflation weiter anhält, sie also davon ausgehen, dass ihr Geld weiter an Wert verliert, weil sie sich morgen weniger davon leisten können als heute, haben sie einen Anreiz, es auszugeben. Das kann dazu führen, dass wir tatsächlich eine steigende Nachfrage erleben, weil Menschen ihren Konsum in die Gegenwart verlagern. Dadurch können die Preise potentiell weiter erhöht werden und die Inflation sich selbst anfeuern.

Das Dilemma der EZB

Es gibt in der Eurozone eine Institution, deren Aufgabe es ist, die Inflation zu kontrollieren: Die Europäische Zentralbank. Nach über zehn Jahren, in denen die Zentralbanker*innen versucht haben, die Inflationsrate auf die Zielrate von 2 Prozent anzuheben, müssen sie nun eine in der Geldpolitik einmalige Kehrtwende vollbringen und versuchen, die Preissteigerungen einzufangen. Dass das in der gegenwärtigen Situation eine (fast) unmögliche Aufgabe ist, wird klar, wenn wir uns anschauen, wie die Inflationssteuerung der Zentralbank im Normalfall funktioniert.

Das Hauptinstrument der EZB ist der Leitzins, mit dem sie die Entwicklung des Preisniveaus indirekt steuern kann. Der grundlegende Ablauf sieht dabei wie folgt aus: Die EZB kontrolliert den Zins, zu dem sich die Geschäftsbanken finanzieren, also jene Banken, bei denen die Haushalte und Unternehmen sich Geld leihen. Erhöht die Zentralbank den Leitzins, dann werden die Geschäftsbanken reagieren, indem sie wiederum den Zins erhöhen, zu dem sie selbst Kredite vergeben. Das führt dazu, dass die Finanzierungskosten für Unternehmen und Haushalte steigen. So müssen beispielsweise Menschen, deren Hauskredite an den Leitzins gekoppelt sind, höhere monatliche Raten zahlen und haben weniger Geld zum Konsumieren zur Verfügung. Auf Unternehmensseite steigen die Finanzierungskosten und es werden Investitionen teurer und damit weniger lukrativ. Plakativ gesagt führt eine restriktive Geldpolitik, so der Fachbegriff für eine Politik, die Leitzinsen erhöht, zu einer Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Situation, was wiederum dazu führt, dass die Konsum- und Investitionsnachfrage zurückgeht und die Preise gesenkt werden müssen. Oder etwas provokanter ausgedrückt: Preisstabilität wird mit einem gesamtwirtschaftlichen Abschwung erkauft.

Das Zauberwort dieses Zinskanals der Geldpolitik ist „Nachfrage“. Wie oben festgestellt, ist die derzeitige Inflation der Eurozone aber vom Angebot getrieben, insbesondere durch die Energiepreise. Diese kann die EZB aber gar nicht beeinflussen. Ihr schärfstes Schwert, die Erhöhung der Leitzinsen, gleicht derzeit also eher einem Buttermesser. Theoretisch ist es denkbar, dass die EZB die Zinsen soweit erhöht, bis die wirtschaftliche Situation in der Eurozone so schlecht wird, dass die einbrechende Nachfrage tatsächlich den erwünschten Effekt auf die Preise hat. Dieses Szenario würde allerdings mit Abermillionen zusätzlichen Arbeitslosen und zahlreichen Unternehmensinsolvenzen einhergehen.

Daran lässt sich die spannende Frage anschließen, wieso die EZB an ihren Zinserhöhungen festhält, obwohl sie nur wenig Wirkung zeigen. Dazu gibt es zahlreiche Theorien, die von Reputationsfragen und der politischen Legitimation der Zentralbank, deren oberstes Ziel die Preisniveaustabilität ist, über Erwartungssteuerung der künftigen Inflationsraten bis hin zur Stabilisierung des Euros im Vergleich mit anderen Währungen reicht. Fakt bleibt aber: Sollte die EZB nicht gewillt sein, eine extreme Rezession in Kauf zu nehmen, wird sie die Inflation, wie sie sich 2022 und wohl auch noch 2023 präsentiert, nur bedingt eindämmen können.

Lasst die Gewinner*innen zahlen!

Was können wir also tun? Die Antwort auf diese Frage scheint so trivial wie einleuchtend. Der Staat muss eingreifen, um die schlimmsten Folgen abzufangen, bis die gegenwärtige Inflationsphase hinter uns liegt. Auch wenn Finanzminister Christian Lindner gerne von seinen Sparzwängen erzählt, ist es ein Fakt, dass sein Ministerium zu den größten Inflationsgewinnern gehört. Steuern werden in Deutschland prozentual erhoben. Das heißt, wenn die Preise erhöht werden, dann steigt auch der absolute Betrag, den der Staat davon als Steuern erhält. Allein zwischen 2023 und 2026 werden ca. 125 Milliarden Euro an Steuermehreinnahmen erwartet – auch verursacht durch die hohe Inflation. Dieses Geld muss eingesetzt werden, um insbesondere Menschen mit geringem Einkommen zu unterstützen, vor allem so lange die Nominallohnsteigerungen deutlich unter den Inflationsraten liegen. Entsprechend ist es ein politisches Totalversagen, dass Studierende noch immer auf ihre 200 Euro Energiepauschale warten, und Empfänger*innen von Sozialleistung keinen unmittelbaren Inflationsausgleich erhalten.

Das Problem an der gegenwärtigen Situation, so schwierig und komplex sie ist, ist nicht, dass es in einem Land wie Deutschland nicht genug gäbe, damit alle Menschen möglichst unbeschadet durch die Krise kommen. Wie so oft lässt die Politik nur zu, dass einige Wenige sich auf Kosten der Mehrheit bereichern. Während die Gesamtvermögen der privaten Haushalte insgesamt im Jahr 2022 gesunken sind, konnten die reichsten 10 Prozent ihren Anteil daran auf atemberaubende 67,3 Prozent steigern. Die ärmste Hälfte der Bevölkerung zum Vergleich besitzt nur 1,3 Prozent am deutschen Gesamtvermögen. Würden wir die Vermögen der Superreichen und die Rekordgewinne der Unternehmen stärker belasten, beispielsweise durch Vermögensabgaben oder branchenübergreifende Übergewinnsteuern, ließen sich die negativen Folgen der Inflation spielend leicht ausgleichen. Es fehlt nicht an Handlungsoptionen, sondern lediglich am politischen Willen, das Notwendige zu tun. 

* in einer ersten Fassung war die Darstellung der Lohn-Preis-Spirale etwas verkürzt. Sie wurde entsprechend ausgearbeitet.

In der Wirtschaftskolumne „Geldgeschichten“ ordnet der Ökonom Daniel Stähr jeden Monat aktuelle Phänomene aus den Bereichen Wirtschaft, Finanzpolitik und Ökonomie ein


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