Flauberts Jaulen oder das Lesen der Zukunft

Als Flaubert 1864 einen Brief an einen Freund schreibt, klagt er über seine Reise mit der Bahn: „Ich langweile mich derart in der Eisenbahn, dass ich nach fünf Minuten vor Stumpfsinn zu heulen beginne. Die Mitreisenden denken, es handle sich um einen verlorenen Hund; durchaus nicht, es handelt sich um Herrn Flaubert, der da stöhnt.“ Dieses Zitat leitet der großartige Wolfgang Schivelbusch in seinem Buch „Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert“ nach einigen Vorüberlegungen zur Veränderung der Raumwahrnehmung durch die Eisenbahn mit einer scharfen Diagnose ein: „Die Unfähigkeit, eine dem technischen Stand adäquate Sehweise zu entwickeln, erstreckt sich unabhängig von politischer, ideologischer und ästhetischer Disposition auf die verschiedensten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts.“ Wenn ich nun heute Elegien darüber lese, dass sich die Leute keine Schmuckbände großer Autoren mehr ins Bücherregal stellen wollen oder Wehklagen über fehlende Bücher im neuen Ikea-Katalog erklingen, fühle ich mich unweigerlich an das Jaulen Flauberts erinnert.

Wir befinden uns in einer interessanten Phase der digitalen Revolution, an der ein sich exponentiell beschleunigender technischer Wandel anfängt zunehmend auch an den Fundamenten ehemals für unumstößlich gehaltener kultureller Gebäude zu nagen. Die Folgen dieses umfassenden medialen Wandels, dessen Auswirkungen Einfluss auf die sozialen und politischen Verhältnisse nehmen, und sogar unsere sensorische Wahrnehmung der Welt selbst verändern, treffen selbstverständlich auch den Literaturbetrieb.

Ein Teil dieses Betriebes ist gerade zusammengebrochen, als der traditionsreiche Stroemfeld-Verlag Insolvenz angemeldet hat. Das ist nicht nur traurig, weil die Geschichte des kleinen Verlags so spannend ist, immerhin entstammt er der linksautonomen Szene Frankfurts in den 1970er Jahren, sondern auch weil sich anhand der Profilbildung und Programmentwicklung dieses Verlages sehr gut nachzeichnen lässt, wie sich kulturelle Sensibilitäten und Wertungen in den letzten Jahrzehnten verändert haben. Zunächst ließ bereits die frühe Hinwendung eines linken Verlages zur Hölderlin-Herausgabe inklusive detaillierter Faksimiles vermuten, dass es mit dem Umstürzen bürgerlicher Ideale durch die 68er gar nicht so besonders weit her war. Das radikale dieser Generation Linker widerspiegelte sich scheinbar nicht in einer Aufhebung des Kanons oder der Verabschiedung bürgerlicher Statussymbole, stattdessen waren wohl die büchergefüllten Schrankwände, als Teil eines gebildeten Habitus, auch für linke Umstürzler ein entscheidender Bestandteil der Mentalität. Gleichzeitig wurden diese repräsentativen Ausgaben in einem Programm mit den radikal innovativen kulturtheoretischen Überlegungen von Klaus Theweleit herausgegeben, das Verlagsprogramm der frühen Jahre ist also ein recht gutes Beispiel für die inneren Widersprüche und komplexen intellektuellen Verhältnisse des politischen Umfeldes der Gründungszeit des Verlages. Ein Programm, das sich vor Allem von der Neigung zu anspruchsvollen Texten leiten ließ und nicht von politisch motivierter Kanonöffnung und -erweiterung. Nicht nur aufgrund der komplexen Geschichte des Verlages in linker Subkultur ist die Insolvenz zu beklagen, sondern auch weil das Verlagsprogramm mit seinen liebevoll ausgestatteten historisch-kritischen Ausgaben, ambitionierter Kulturtheorie und ästhetisch anspruchsvoller Literatur eine Lücke in der deutschen Literaturlandschaft hinterlassen wird.

Nun wurde der Verlag also von der oben beschriebenen Welle eines umfassenden Medien- und Kulturwandels erfasst und in Folge dessen wird auf die Umwälzungen, vor denen lange bewusst oder unbewusst die Augen verschlossen wurden, wahlweise mit kulturpessimistischem Alarmismus oder einer trotzigen Wagenburgmentalität reagiert. „Einst, als wir lasen“ titelte die FAZ, als ob wir uns momentan in einer Zeit befänden, in der nicht mehr gelesen wird. So wird nicht nur die Kundenschwundstudie „Buchkäufer – quo vadis?“ des Börsensvereins, die den Buchmarkt aufrüttelt, das Erscheinen eines Ikea-Katalogs, der  2018 in den Produktfotos von Bücherregalen kaum noch Bücher zeigt und auch die Insolvenz des Stroemfeld-Verlags zum Anlass anschwellender Kulturverlustklagen in den sozialen und gedruckten Medien. Nun sind wir also angekommen, in der vielfach befürchteten digitalisierten Welt, in der nicht mehr gelesen wird, Epigonen der Hochkultur zu Staub zerbröseln und kulturlose Horden ihre Unterhaltung aus Internet und Netflix beziehen – quelle horreur!

Würden die Hohepriester des Kulturverfalls einen Moment innehalten und sich besinnen auf das, was ihnen vorgeblich so wichtig ist, nämlich den Wissensschatz in den eleganten Hardcovern in ihren Schrankwänden, dann würden sie vielleicht eine andere Tonart anschlagen. Unter B oder E beispielsweise, denn traditionell wurden die Bücher in den Regalen noch nach dem Alphabet sortiert und nicht nach Farbe der Buchrücken oder sonstigen fotogenen Sperenzchen, finden sich beispielsweise Pierre Bourdieu und Norbert Elias, bei denen man einiges zum Habitus und seiner symbolischen Präsentation nachlesen kann. Die Wichtigkeit des Bücherregals für die performative Identitätsbildung des gebildeten Europäers war über viele Jahrzehnte unhintergehbare Gegebenheit. Dass die Bücherwand jedoch in den letzten Jahren als Bildungsmarkierung und Hinweis auf Weltgewandtheit ausgedient hat, findet schon ein aufmerksamer Beobachter aktueller Autorenportraits heraus, denn dort zeigen sich nur noch selten Schreibende unter 50 vor ihrer Bücherwand, stattdessen wird vor Mauern oder in Hauseingängen gestanden, in Cafés oder auf Steintreppen gesessen – passende Symbole für ein urbanes Weltbürgertum, das sich nicht auf die eigene Wohnung beschränken und von 2345 Kilo Papier beschweren lässt. Wer braucht heute noch historisch-kritische Ausgaben und Schmuckbände im Privatbesitz, wenn befristete Verträge und schwierige Arbeitsmarktsituationen den regelmäßigen Umzug nicht nur notwendig machen sondern zum Lifestyle einer ganzen Generation werden lassen. Könnte man dann jedoch nicht gerade das Festhalten an schweren Bücherkisten als Anker im Umzugswirrwarr zu einer antikapitalistischen Protestgeste stilisieren? Doch die Trennung von der Büchersammlung ist nicht nur pragmatisch begründet, auch die Hinwendung zu minimalistischer Ästhetik des expeditiven Milieus führt zu einem Abschied von vollgestopften Regalen. Nun ist die Tatsache, dass die gutgefüllte und weit ausdifferenzierte Privatbibliothek als Symbol für die Bildung des Besitzers ausgedient zu haben scheint, an und für sich noch kein Grund das Ende des Abendlandes heraufzubeschwören.

Natürlich wird weiterhin gelesen, es wird bloß anders gelesen und vielleicht wird nicht mehr zwischen Buchdeckeln gelesen werden, aber diesen Wandel zum Ende der Kultur hochzujazzen ist nicht nur verfehlt, es ist auch ein wenig lächerlich. Medienwandel schmerzt, das ist keine Frage, er schmerzt jedoch vor Allem die Gruppen, die von der Existenz, Dominanz und Statuszuweisung eines langsam verschwindenden Mediums profitiert haben. Diese Trauer ob des empfundenen kulturellen Bedeutungsverlustes können historisch interessierte Menschen – also diejenigen die gerne in Büchern, Quellen und Texten wühlen – ohne weiteres nachweisen. In Phasen des Medienwandels sind dystopische Prognosen, ausführlich verbalisierte Ängste vor Auswirkungen neuer Medien und Schwarzmalerei der von Technik geprägten zukünftigen Gesellschaften schon immer ein beliebtes Genre gewesen. Eine gewisse Nostalgie angesichts des raschen Medienwandels ergreift scheinbar übrigens auch diejenige, die den digitalen Wandel mit offenen Armen empfangen, nicht zufällig gibt es Retrofilter in Instagram, zahllose Accounts die in den sozialen Netzwerken obskure, lustige oder skurrile Fotos der Vergangenheit teilen und einen Serienerfolg in historischem Milieu nach dem nächsten, mit Settings, die sich besonders durch hingebungsvolle Nachstellung vergangener Umstände auszeichnen.

Schon 1933 schrieb der US-amerikanische Soziologe und Technikdeterminist W.F. Ogburn:

„Will the machines of the future be our masters or our servants? They are strange creatures with which modern man has chosen to live, stranger than the ox and the dog which ancient man domesticated, and stranger even than the wild beasts which he did not domesticate. Machines have indeed created a new environment.“

In einem anderen Band von 1922 mit dem vielsagenden Titel Social change with respect to culture and original nature schreibt Ogburn über den Umgang von Gesellschaften mit neuer Technologie und entwickelt ein Vierphasenmodell, mit dem er die Verbreitung von neuen technischen Entwicklungen in Gesellschaften untersucht. Nach Erfindung, Akkumulation von Technologie, Austausch und Ausbreitung neuer Techniken und daraus resultierenden neuen Erfindungen, kommt es zu einer Phase der Anpassung, bei der die Gesellschaft auch in den nicht direkt von der Technologie betroffenen, das heißt die nicht-materiellen Bereiche auf die materiellen Innovation reagieren muss. Kommt es hier zu Verzögerungen entsteht etwas, das Ogburn als „cultural lag“ bezeichnet, Probleme und Konflikte entstehen aus dieser verzögerten Anpassung der Gesellschaft an die technischen Neuerungen.

In eben dieser Reibungszone befindet sich der Buch- und Medienmarkt, und das Konfliktpotential wird durch die Geschwindigkeit der Digitalisierung bestärkt, alte Medien und Wahrnehmungsdispositive werden mit neuen technischen Entwicklungen konfrontiert und ehemals für stabil gehaltene kulturelle Kernkompetenzen verlieren ihre Wirkmacht. Dabei ist es leicht zu vergessen, dass der Buchmarkt, ja selbst die Literaturformen, wie wir sie heute kennen ein relativ junges Phänomen sind, die selbst als Reaktion auf gravierende technische Neuerungen im 18. und 19. Jahrhundert entstanden sind. Noch im Barock krähte kein Hahn nach den Autoren literarischer Texte und die private Ansammlung von Büchern zum Studium und zur Ausstellung der eigenen Gelehrtheit ist ein Phänomen der Aufklärung. Den Massenzugang zur Literatur verdankte die breite Masse der Bevölkerung übrigens den Arbeiterliteraturvereinen, das emanzipative Potential von Büchern und die Versuche diese allgemeiner zugänglich zu machen war im 19. Jahrhundert entscheidender Teil des Klassenkampfes.

Durch den Medienwandel erfolgen Verschiebungen in der Käuferschicht und es ist daher letztlich eine kulturpolitische Frage, ob bestimmte verlegerische und editorische Aufgaben nicht in Zukunft einer staatlichen Unterstützung bedürfen. Wir brauchen weiterhin Ausgaben von Gesamtwerken, die in editorischer Feinarbeit geschliffen und poliert sind, jedoch ist die Frage, ob diese Aufgaben den Wirren eines spätkapitalistischen Medien- und Unterhaltungsmarktes unterworfen werden sollten oder ob der Schutz von Bibliodiversität nicht eine staatliche Aufgabe ist. Die kleinen und unabhängigen Verlage forderten daher bereits 2017 mit der Düsseldorfer Erklärung eine staatliche Unterstützung ihres Einsatzes für die Kulturlandschaft, eine Unterstützung die in anderen europäischen Ländern übrigens schon zum Standard gehört und auch als politisches Instrument genutzt werden könnte, um eine breitere Zugänglichkeit von Literatur für die Öffentlichkeit zu gewährleisten.

Hier lohnt es sich nochmal auf die Stroemfeld-Insolvenz zurückzukommen: Studierende konnten sich eine Subskription der Kafka-Ausgaben sowieso nie leisten, wer also hier den Käuferschwund beklagt, sollte sich vielleicht auch auf seine linken Ideale besinnen und über die zunehmend auseinanderklaffende Einkommensschere der deutschen Gesellschaft nachdenken und sich fragen, inwieweit diese ausgesprochen separaten Vermögensverhältnisse Einfluss auf den Zugang zur Bildung – wenn sie denn in Form von Schmuckausgaben und Editionen einhergehen soll – haben. Genau aus dieser Perspektive ist es doch befremdlich, dass gerade zentrale Figuren aus dem Umkreis des Stroemfeld-Verlags und der Verlag selbst in der Vergangenheit so eifrig gegen Open Access, also die digitale Zugänglichmachung von Literatur für eine Allgemeinheit verschiedenster Einkommensgruppen, vorgegangen sind und sich auch ansonsten den sich abzeichnenden Möglichkeiten und Folgen technischer Innovation versperrt haben.

In Norwegen wird beispielsweise zur Unterstützung der Verlagslandschaft eine Mindestabnahme von Büchern durch den Staat mit anschließender Verteilung an die Bibliotheken des Landes garantiert, dazu gehören auch feste Abnahmegarantien für eBook-Lizenzen und ehrgeizige Digitalisierungsprogramme der Nationalbibliothek. Wir brauchen jedoch keine Bibliotheken fördern, die keine Leser haben, in denen die Bücher nur in Regalen aufbewahrt werden. Zu einer vernünftigen Förderung der Literaturlandschaft gehört daher unbedingt auch eine weiträumige Lese- und Bibliotheksförderung und eine nachhaltige Finanzierung von Modernisierungs- und Digitalisierungsvorhaben der Bibliotheken. Die Rezeption von anspruchsvoller, oftmals nicht direkt zugänglicher oder zur Immersion anregender Literatur ist eine Form der Lesekompetenz, eine Fähigkeit, die man sich erwerben kann, analog beispielsweise zu den Sehkompetenzen für zeitgenössische Kunst oder den Hörkompetenzen für die Rezeption klassischer Musik. Hier wird in Zukunft die Rolle der öffentlichen Bibliotheken angesiedelt sein, als Informationszentren und Austauschstellen zwischen digitalem und analogem Raum, als Begegnungsort für alle Einkommensschichten, an dem Angebote zur Schulung von Lesekompetenz gemacht werden, kollektiv in Lesekreisen gelesen und über Literatur gesprochen wird.

Auf Medienwandel sollte der Buchbetrieb und die deutsche Kulturlandschaft nicht mit Angst reagieren, nicht wie Flaubert jaulend im Zugabteil sitzen, sondern offen auf Veränderungen zugehen, Stellschrauben da drehen wo es notwendig ist, Strukturen die erhaltenswert sind erhalten, aber nicht bloß aus einem reinen Selbstzweck oder zur Besänftigung von Statusängsten oder jaulenden Kulturpessimisten. Wir lesen, und wir werden weiterhin lesen. Was das für die Literatur bedeuten wird, wie die spezifischen Möglichkeiten und Kommunikationsformen literarischer Ästhetik sich verändern werden, das wird sich herausstellen, spannend wird es allemal! Dabei bedarf es durchaus einer ideologiekritischen Perspektive auf die neue Technik, die Antwort ist jedoch kein nostalgischer Traum von einer guten alten Zeit, sondern eine klare und scharfe Analyse der digitalen Verblendungszusammenhänge – um mal einen Begriff von Adorno auf den Tisch zu werfen – und leidenschaftliche Plädoyers für Literatur und Theorie, authentisch vorgetragen und zwar nicht nur in buchkitschiger Realitätsflucht zwischen Kaffeetassen am Bootssteg, sondern als Möglichkeit geistiger Schärfung und pluralistischer Meinungsbildung. Diese Position wird gegenwärtig von den etablierten Verlagen im und für den digitalen Raum in weiten Teilen leergelassen, hoffen wir darauf, dass sie gefüllt wird, bevor es dem Buchbetrieb so geht wie den Videotheken der 80er Jahre.

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