„Everything Everywhere All at Once“ – Der Film, der das Internet versteht

von Titus Blome

Ohne es zu erwähnen, zeichnet Everything Everywhere All At Once ein buntes doch pessimistisches Bild des Internets – und ist glorreich darin. Der SciFi-Film des Regieduos »Daniels« (Daniel Kwan und Daniel Scheinert) gibt sich als Kaleidoskop unterschiedlichster Szenerien, Charaktere und Emotionen. In rasanter Abfolge ist der Film tragisch, lustig, eklig, flach und tiefgründig. Um die halsbrecherische Geschwindigkeit und absurde Ästhetik des Films zu genießen, darf man sich nicht dagegenstemmen: Es heißt zurücklehnen und mitreißen lassen.

Zentrum der Handlung ist Evelyn Wang, gespielt von der längst legendären malaysischen Schauspielerin Michelle Yeoh (»Der Morgen stirbt nie«, »Tiger and Dragon«). Evelyn ist eine chinesische Immigrantin in Kalifornien, gescheiterte Waschsalonbesitzerin, Ehefrau des dümmlich-liebevollen Waymond (Ke Huy Quan) und strenge Mutter ihrer zunehmend entfremdeten Tochter Joy (Stephanie Hsu). Das Publikum begegnet der Familie am Tag eines wichtigen Termins im Finanzamt, der über die Zukunft ihres Geschäfts entscheidet. 

Der Film besteht aus drei Teilen: ›Everything‹, ›Everywhere‹ und ›All At Once‹. Der erste Part nimmt sich das gebotene Minimum an Zeit, die Charaktere und ihre Beziehungen zueinander zu präsentieren, bevor er ruckartig auf Warpgeschwindigkeit beschleunigt. Waymond wird im Aufzug des Finanzamts von seinem Ich aus dem »Alphaverse« übernommen und erklärt Evelyn wie auch sie die Erfahrungen und Fähigkeiten ihrer alternativen Versionen in Paralleluniversen anzapfen kann. Sie sei die Einzige, die ›Jobu Tupaki‹ aufhalten könne – die »Alphaverse«-Variante ihrer Tochter Joy, die die Erfahrungen des gesamten Multiversums absorbiert und darüber ihre Menschlichkeit verloren habe.

Everything

Die einzelnen Plotpunkte von Everything Everywhere All At Once (EEAAO) aufzuzählen, ist ein sinnloses Unterfangen. Zu schnell, zu absurd, zu chaotisch ist die Handlung – den Film muss man sich selbst anschauen. Wer viel Zeit im Internet verbringt, ist bereits an das Schnellfeuer der Seltsamkeiten gewöhnt, welches »Daniels« auf einen abschießen. Die rapiden Wechsel zwischen emotionalen Dialogen, ernsten Momenten und Dingen wie Buttplug-Kung-Fu, einem Ratatouille-Waschbär oder dem Universum, wo alle Menschen Hot-Dog-Finger haben, ist im Internet Alltag. Auch die Timelines unserer sozialen Medien funktionieren nach demselben wirbelnden Prinzip: das Bild eines süßen Kätzchens, das GoFundMe einer Krebspatientin, ein absurdes Meme, Kriegsbilder aus der Ukraine. Alles auf einmal, alles am gleichen Ort.

Auf diese und auf andere Weisen fängt der Film die digitale Erfahrung ein. Nach der Anleitung von »Alpha«-Waymond, versetzt sich Evelyn in eine alternative Version ihrer selbst. Ein grob geteilter Splitscreen zeigt sie gleichzeitig vor dem Schreibtisch der Wirtschaftsprüferin Deirdre Beaubeirdra (großartig gespielt von Jamie Lee Curtis) und in der Besenkammer eines Paralleluniversums, wo sie vor dem Ende der Welt gewarnt wird.

Das Multiversum spaltet sie. Zwei komplett unterschiedliche Situationen, die beide ihre Aufmerksamkeit verlangen und die sie gleichzeitig navigieren muss. »Nothing could be more important than this right now«, sagt Waymond in der Besenkammer. »I cannot imagine anything mattering more«, meint Deirdre im Finanzamt. Das Dilemma ist bekannt. Seit wir in der Form von Smartphones all unsere Freunde, Kolleginnen und Verpflichtungen in der Tasche tragen, verteilen wir uns ständig über mehrere Situationen gleichzeitig – vollkommen raumunabhängig. »Sozialer und physischer Ort werden getrennt«, beschreibt der Medienwissenschaftler Joshua Meyrowitz diese Grundeigenschaft elektronischer Medien. Öffnet sich die Sicht in die unendliche Ferne der Welt, kann der Blick auf die unmittelbare Umgebung verloren gehen. Die Spannung zwischen lokaler Körperlichkeit und globaler Medialität strapaziert das Individuum – wir haben »No Sense of Place« (um sich hier eine Formulierung Meyrowitz’ zu leihen).

Diese Fragmentierung wird in EEAAO wörtlich genommen. Ähnlich wie wir bei unseren ersten Schritten im Netz, lernt Evelyn zügig diesen Zugang zu neuen Welten als Ressource zu nutzen. Sie absorbiert das Können ihrer alternativen Versionen und setzt es unmittelbar ein: eine Hibachi-Köchin, eine Kung-Fu-Kämpferin, eine blinde Sängerin. Mit unzähligen Paralleluniversen hinter sich wird sie zu mehr, als sie es vorher war – gleich unserem Gedächtnis, wenn wir es an Google koppeln oder wenn wir unsere Fähigkeiten als Heimwerker*innen durch ein Youtube-Tutorial verbessern.

Allerdings zeigen sich zügig die dunklen Seiten eines solchen Zugriffs: Evelyn merkt, dass keine ihrer alternativen Versionen so unglücklich und gescheitert ist wie sie. Der Vergleich mit den unendlichen Möglichkeiten des Multiversums verweist auf ihre eigenen Unzulänglichkeiten und weckt den Wunsch, alles anders gemacht zu haben.

Hier weitet sich erneut der Blick des Films. Jobu Tupaki, die »Alphaverse«-Variante von Tochter Joy, betritt die Bühne. Eine gottgleiche Gestalt in wilden Kostümen. Während Evelyn je nach Bedarf einzelne Universen anzapft, um sich bestimmter Fähigkeiten zu bedienen, erfährt Joy alle Paralleluniversen gleichzeitig – sie ist allwissend, vollständig eingeklinkt. Diese Überladung mit Eindrücken, Möglichkeiten und ganzen Lebenswegen hat sie zu einer nihilistischen Figur werden lassen, gleichgültig in ihrer Allmacht. »Nothing matters«, haucht sie Evelyn zu.

Es scheint kein Zufall zu sein, dass dieser multiverselle Krieg als Generationenkonflikt gezeigt wird. Evelyn nutzt das Multiversum als Ressource, die sie anzapft, um ihr Ziel zu erreichen. Sobald alles vollbracht ist, möchte sie es hinter sich lassen. Jobu-Tupaki-Joy hingegen ist untrennbar damit verbunden, sie hat sich darin aufgelöst. Zwischen den beiden liegen wortwörtlich Welten. Trotz ihrer Blutsbande sind sie auf eine Weise entfremdet, die nicht überbrückbar scheint.

Das Setting des Films verschärft diesen Unterschied weiter. Evelyn ist eine asiatische Amerikanerin erster Generation, fokussiert auf den Respekt ihres überkritischen Vaters und überfordert von der Homosexualität ihrer Tochter. Joy ist zweite Generation und zerrissen zwischen dem Individualismus ihrer Heimat und der Tradition ihrer Wurzeln. Sie hat das Gefühl, zwischen den beiden Welten wählen zu müssen – ein Konflikt, der zuletzt in Pixars »Rot« (2022) feinfühlig aufbereitet wurde.

Everywhere

Die Überforderung der jungen Generation, ständig in sämtliche Erfahrungen einer ganzen Welt eingeklinkt zu sein, beschrieb bisher der Comedian Bo Burnham am besten. In seinem Lied »Welcome to the Internet« singt er: »Can I interest you in everything all of the time? A little bit of everything all of the time?« Burnham, 1990 geboren, war einer der ersten reinen internet celebreties, lange bevor die Infrastruktur, die ihm diese Karriere erlaubte, barrierefrei zugänglich wurde. Bereits als er 16 Jahre alt war, sammelten seine ersten Videos Millionen Klicks auf dem damals neuen YouTube – heute ist das einigermaßen normal, damals war es ein Alleinstellungsmerkmal.

So war Burnham auch der erste, der von der Performativität überfordert wurde, welche die ständige Präsenz eines digitalen Publikums verlangt. »Es ist ein Gefängnis. Es ist schrecklich. Darsteller und Publikum sind vollkommen verschmolzen«, warnte er in seinem Comedy-Special »Make Happy« (2016), kurz bevor er sich wegen regelmäßiger Panikattacken und Depression von der Bühne zurückzog. In einem Interview berichtete er später, dass seine Warnung bei Menschen seines Alters auf Unverständnis gestoßen sei. Wer sich davon verstanden fühlte, so Burnham, waren vor allem jüngere Mädchen, für die dieser Zustand längst Alltag war: Mitglieder der volldigitalen Generation Z.

Denn was in EEAAO als Moment der Entmenschlichung dargestellt wird, ist für viele junge Menschen längst Dauerzustand. Ein Leben der ständigen Selbstbeobachtung, ein Dasein unter den Bedingungen des was-wäre-wenn und die ständige Spannung zwischen dem Wunsch nach Besonderheit und der annähernden Unmöglichkeit, sie im globalen Vergleich zu erreichen. Es sind nicht vornehmlich Cyberbullying oder ein Rabbit Hole, das die digitale Existenz vergiftet: es sind die alltäglichen Strapazen eines vernetzten Lebens.

All At Once

Auch Jobu Tupaki gefällt dieser Zustand nicht. Sie will Evelyn nichts Böses, sondern sucht jemanden, die (wie sie) die schiere Informationsflut aushalten kann, everything everywhere all at once zu sehen. Jemand, die verstehen kann, was sie durchmacht und vielleicht eine neue Perspektive darauf bietet: eine Mutter. Doch als Evelyn unter Jobu Tupakis Anleitung die Erfahrung aller Paralleluniversen gleichzeitig aufnimmt, wird auch sie davon gebrochen. Sie verfällt in denselben Zustand zynischer Gleichgültigkeit und stimmt zu: »Nothing matters«.

Das Heilmittel, das der Film für diesen Zustand anbietet, ist so enttäuschend wie realistisch. Evelyn löst sich nicht dauerhaft von den Paralleluniversen. Stattdessen rettet sie Joy und sich selbst, indem sie sich auf die kleinen Dinge besinnt: Familie, Freund*innen, das Unmittelbare. Sie tut dies nach dem Vorbild ihres Ehemanns, des albernen Waymond, der selbst in einem multiversellen Krieg seine Menschlichkeit nicht aus dem Auge verliert.

Das ist unbefriedigend und nicht nur, weil die Moral eines Films mit brillanter weiblicher Hauptrolle ist, dass sie mehr auf ihren Ehemann hören soll. Die digitale und die analoge Welt sind längst untrennbar verflochten. Eine Auflösung der Handlung in einem simplen Abkehren von den endlosen Verführungen des Multiversums produziert eine individualisierte Lösung im Konflikt mit der wortwörtlichen Gesamtheit des Seins – ein ungleicher Kampf. Und ein vertrauter.

Die toxischen Aspekte des Digitalen wenden unfassbare Mittel auf, um in unserem Leben zu bleiben. »Da findet ein ganzer Dialog zwischen diesen Tech-Firmen und Kindern statt, von dem die Eltern nichts mitbekommen«, umschreibt es Bo Burnham. Hunderte Leute pro App, die alle erdenklichen Tricks aufwenden, sich die Aufmerksamkeit einer ganzen Generation zu sichern, um diese weiterzuverkaufen. Das Multiversum klebt an uns wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle.

Das Internet, obwohl bunt und lustig und auf so viele Weisen ein wunderbarer Ort ist letztendlich die »Produktion des Sozialen [gekoppelt] an Prozesse der Kapitalproduktion«, wie der Literaturwissenschaftler Joseph Vogl es ausdrückt. Und während Baby-Boomer und Millennials den Weg ins Internet noch selbst finden mussten, sind die folgenden Generationen dem von klein auf ausgeliefert. Mit Folgen, die in EEAAO zwar überzeichnet werden, doch in Realität letztendlich noch immer nicht vollständig absehbar sind.

Forever

In der letzten Szene erkennt Everything Everywhere All At Once dieses Kräfteungleichgewicht erneut an. Evelyn, Joy und Waymond sind sich nach allem was sie erlebt haben näher denn je. Evelyn ist eine empathischere, vollständigere Person geworden. Doch wie sie für einen neuen Termin im Finanzamt sitzen, driftet ihr Blick in unbestimmte Ferne. Man hört das Flüstern, Lärmen, Schallen hunderter Paralleluniversen im Hintergrund. Das Multiversum fordert weiterhin nach Aufmerksamkeit: Evelyns Lösung ist keine finale, sondern ein ständiger Kampf.

Das letzte Bild ist noch einmal der Titel, unterlegt mit der gleichen Kakophonie, nur viel lauter. Der Film endet, der Lärm nicht.

Beitragsbild von Steve Johnson auf Unsplash

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