Ein schöner Tod

von Susanne Wedlich

Mein Vater ist am 31. Oktober 2020 um 16.34 Uhr gestorben. Es war ein schöner Tod. Für ihn, davon bin ich überzeugt, aber auch für uns. „Das war genau richtig so“, sagte meine Tante. „Das war schön“, sagte meine Schwiegermutter, nur um sich gleich zu verbessern: „Schön“ sei natürlich das falsche Wort. „Das war eine schöne Zeit“, sagte meine Mutter, brach in Tränen aus und bekräftigte dann: „Doch, es war schön.“ Das zu schreiben fühlt sich morbide an, aber es stimmt. Der Tod meines Vaters war schön, auch wenn das Wort zu kurz greift, zu flach, beliebig und alltäglich ist. Sein Tod war dunkel und voll Schmerz, aber auch existenzieller und intensiver als alles andere, was ich zuvor je erlebt hatte. 

„Ich lernte, dass Sterben, aus nächster Nähe, nicht das ist, was man sich vorstellt“, schreibt die britische Palliativmedizinerin Rachel Clarke. „Denn die Sterbenden sind am Leben, wie alle anderen. Das ist die Quintessenz des Lebens – des schönen, bittersüßen, zerbrechlichen Lebens…”[1] Es geht nicht um Ästhetik oder darum, einen schrecklichen Verlust zu verklären, auch wenn das möglich ist, wie der Journalist Bartholomäus Grill anhand der Reaktionen auf den Doppel-Selbstmord zweier Teenager beschreibt: „Der Tod wurde zum Verbündeten, zum schönen, süßen Tod, wie ihn die Romantiker glorifiziert hatten.“ Es geht auch nicht um die Kunst des Sterbens, eine auf das Jenseits gerichtete, aber lange aus der Mode gekommene Ars moriendi

Uns als Familie fehlt der Bezug zur Religion, auch wenn sich eine Assoziation unvermutet aufdrängte. „Er sieht wie ein geschundener Heiland aus“, dachte ich, als ich meinen Vater Tage vor seinem Tod reglos liegen sah. Fast nackt, weil er keinen Stoff auf der Haut ertrug, eingefallen und, ja, blutig geschunden, weil er unablässig Pflaster abriss, Nadeln aus dem Arm zog und selbst im Schlaf mit den Fingern im Gesicht kratzte, um sich vom Sauerstoffschlauch in der Nase zu befreien. 

Der gemarterte Körper allein war es aber nicht, es ging noch mehr um die Würde, die mein Vater ausstrahlte. Mehr Würde, als die Gesellschaft und wohl auch wir ihm wie allen gebrechlichen Alten bis dahin zugestanden hatten. Nie war er offenkundig älter und kränker, fragiler und hilfloser gewesen als in diesen Tagen. Nie kam er mir stärker, stolzer und über jedes Urteil erhaben vor. Gabriele von Arnim hat die Würde ihres Mannes bewundert, der fast über Nacht zum schweren Pflegefall wurde. Seine Würde konnte er auch in scheinbar entwürdigenden Situationen behalten. Es sei seine „innere Unabhängigkeit“ gewesen, sagt von Arnim in einem Interview. 

Kann das auch gelten, wenn Menschen nur dahindämmern? Würde hängt zum Glück nicht von äußeren Umständen ab. Mehr noch, zum ersten Mal verstehe ich nicht nur intellektuell, sondern auch emotional, wie machtvoll das Bild sein kann von einem Gottessohn, der jämmerlich am Kreuz verreckt. Zumindest in Gesellschaften und bei Menschen, die Siechtum und Tod nicht so entfremdet sind wie ich. Ich erlebe diese existenzielle Krise zum ersten Mal mit fast 50 Jahren. 

„In der heutigen entwickelten Welt ist es möglich, eine ganze Lebenszeit lang zu leben, ohne jemals den Tod direkt zu Gesicht zu bekommen…”, schreibt Clarke. „Vor weniger als einem Jahrhundert war diese Entfernung vom Sterben unvorstellbar. Unweigerlich schieden wir so aus der Welt, wie wir in sie hineingekommen waren, inmitten unserer Familien, hautnah und persönlich, nicht von Krankenhauslaken umschlungen, sondern von der Intimität unseres eigenen Zuhauses.” [2]

Ich war nicht vorbereitet, habe mir den Tod meiner Eltern als eine Art Orkan vorgestellt, der unweigerlich über mich hinwegziehen wird. Meine passive Rolle: Ducken, warten und dann den Rest meines Lebens notdürftig mit der Verwüstung leben. Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass ich das Sterben meines Vaters als lebensbejahend erleben werde. Wenn es diese Geschichte gibt, so kenne ich sie nicht, nur den Tod als Erlösung aus unerträglichen Schmerzen oder als Ansporn für die Hinterbliebenen, das eigene Leben bewusster zu leben.

Das macht aber noch keinen schönen Tod aus. Eine Voraussetzung dafür ist sicher ein guter Tod, den ich als Abwesenheit von Faktoren definiere, die das Sterben unerträglicher und den Verlust unverzeihlicher machen können. Die Sollbruchstellen – oder eher Mussbruchstellen – waren auch bei uns offenkundig: die Umgebung, die Nähe, der Körper. Wir hatten Glück. Mein Vater ist nicht im Krankenhaus gestorben, sondern daheim. Er war nicht allein, sondern in unserer Mitte. Er musste keine unerträglichen Schmerzen leiden. 

Der schöne Tod war aber noch mehr als eine Abwesenheit, auch wenn mir die Worte dafür fehlen. Vielleicht hilft ein Bild: Es war eine Welle wie eine Naturgewalt, die uns mitgerissen und über unseren Schmerz getragen hat. Es tat und tut immer noch sehr weh, natürlich, aber wir sind nicht zerbrochen oder mussten uns erst wieder zusammensetzen. Wir haben überlebt mit einer empfindlichen Narbe. Fast als ob die klaffende Wunde seines Verlustes so schnell verheilt wäre wie sie geschlagen wurde. Anders: Wir haben den Verlust meines Vaters erlebt und erlitten und gleichzeitig ihn ertragen gelernt. 

Vielleicht habe nur ich als Tochter gespürt, dass sich ein Kreis zwischen uns geschlossen hat, auch weil ich mich in seinen letzten Tagen um ihn wie um ein Kind gekümmert habe. Ganz selbstverständlich gehörte zur Pflege eine ungewohnte Körperlichkeit. Ein Geschenk. Rachel Clarke hat dies ähnlich nach dem Tod ihres Vaters erfahren: „Dass ich meinen Vater waschen kann, so, wie er mich einmal gewaschen hat, ist eine Ehre, ein Geschenk, ein letzter Liebesbeweis, ein Moment unübertroffener Intimität.“ [3]

In seinen letzten Tagen war Kommunikation mit meinem Vater kaum mehr möglich. Wir sind trotzdem zusammengewachsen, haben Reibungspunkte und Konflikte ohne viele Worte wegfallen lassen. „Zwischen uns eine Stille, eine sanfte Stille und darin eine überraschende Harmonie, ein Einklang zwischen ihm und mir. Was im Leben so oft gefehlt hatte, schien uns im Sterben zu gelingen“, schreibt von Arnim über ihren so lange leidenden Mann. 

Die Vorgeschichte meines Vaters war weniger drastisch und ist schnell erzählt: Vorerkrankungen, auch eine Herzschwäche, dann ein schwerer Infarkt und OP, Rippenbrüche und eine Lungenentzündung. Ganz alltäglich in Deutschland, aber eben auch nicht: Im Jahr 2020 war jede Krankheit, jedes Sterben, jeder Tod im Krankenhaus von Corona überschattet. Nur eine Stunde pro Tag durfte meine Mutter in die Klinik, ich habe mit meinem Vater telefoniert. Oft war er hellwach, manchmal auch verwirrt oder weggetreten. Aus der zeitlichen Distanz scheint mir, sein Organismus war schon damals möglicherweise unaufhaltsam ins Trudeln gekommen. 

Zunächst ging es ihm aber so viel besser, dass er fürs Krankenhaus nicht krank, fürs Pflegeheim aber auch nicht stabil genug war. Ein versorgerisches Niemandsland. Sein geistiger Zustand war ein Problem, wenn ein paar fest in seinem Kopf verankerte Ideen die Wirklichkeit überlagerten. Seit einer nicht plangemäß verlaufenen Operation vor Jahren fühlte er sich von der deutschen Ärzteschaft verfolgt, überwacht und kontrolliert. Und davon ließ er sich nicht abbringen. Ich vermute, dass das eigentliche Problem tiefer lag: Er war als Patient nicht richtig aufgeklärt worden, fühlte sich als Mensch übergangen und seiner Würde beraubt. 

Seine selbstgewählte Mission bestand darin, die Öffentlichkeit vor Ärzten zu warnen, die über die Köpfe ihrer Patienten hinweg schwerwiegende Entscheidungen treffen. Was ich hiermit übernehme: Ob sie ihn nicht heimnehmen wolle, wurde meine Mutter von einem Arzt gefragt. In Ermangelung anderer Optionen stimmte sie zu, ahnte aber nicht, dass ihr von einem Tag auf den anderen ihr schwerkranker Mann vor die Füße gelegt werden würde. Bewegungsunfähig und mit tropfendem Blasenkatheter. Ohne Ausstattung, ohne Krankenbett, ohne Unterstützung. 

Nur meine Mutter, Mitte 70 und mit kaputter Hüfte. Um meinen Vater zur Couch zu bringen, habe sie ihn halb auf dem Rücken tragen und halb ziehen müssen, erzählte sie mir später. Seine Beine hochlegen? Daran sind sie trotz gemeinsamer Anstrengung gescheitert. „Ich dachte, wir legen uns jetzt beide auf den Boden und sterben“, sagte sie. 

Meine Mutter lebt ihr Leben nach zwei Grundsätzen: „Wir schaffen das schon“ und „Das wird schon wieder“. Hier habe sie aber die Koordinatorin der Klinik (welche Koordination?) so angeschrien, dass die sich nur noch den Ton verbitten konnte. Ich bin sehr stolz auf meine Mutter. 

Und mein Vater kam wieder in die Klinik, wo sich dann plötzlich doch eine neue Option auftat. Eine Einrichtung, die auch ältere Menschen mit unzuverlässiger Bodenhaftung in der Realität aufnimmt. Für uns war das die Rettung und für mich eine Art Unterwasserwelt. Die Zimmer gingen links und rechts vom Gang ab, auf dem unablässig Patienten im gedämpften Licht drifteten, langsam ihre Runden drehten, schlurften und trippelten. 

Der Alt-Rocker mit Lederjacke und Stahlwollbart bis auf die Brust war völlig in sich versunken. Der Herr, der mit steifem Kreuz im Rollgestell steht, beäugte mich nur aus den Augenwinkeln. Die zierliche Dame mit den weißen Haaren lachte immer alle freundlich an. Einmal traf sie mich mit verweinten Augen an, blieb stehen, lächelte ihr strahlendstes Lächeln und sagte: „Wäre es nicht schön, wenn wir alle schon im Himmel wären?“

Von bizarren Begegnungen abgesehen blieb hier aber alles ruhig. Die Fürsorge für meinen Vater und auch für uns war greifbar. Wir wussten nicht, dass Pflege in Deutschland so aussehen, so zugewandt und respektvoll sein kann. Das hat mit dem Personal zu tun, vor allem aber mit der Arbeitssituation. Hier ist Zeit für jeden Menschen, für die im Bett und für die auf dem Stuhl daneben. An einem besonders schweren Morgen brachte eine Schwester meiner Mutter Frühstück und führte sie untergehakt eine kleine Runde durch den Garten. 

Trotzdem war es schwer, meinen Vater so zu sehen. Kälte schien er nicht mehr zu spüren, tolerierte weder eine Bettdecke noch ein Laken oder Nachthemd. Pflaster kratzte er sofort und selbst im Schlaf ab. Schläuche riss er sich aus der Nase und Nadeln aus dem Arm. Zerschunden sah er aus, übersät mit Kratzern und Blutergüssen. An seinem Unterarm, der flach auf dem Bett lag, war der rote Pegel bis zur Hälfte gestiegen. Hier hatte er eine Nadel gezogen, das Blut musste ins Gewebe gesickert und es gesättigt haben. „Die Haut wird ihm zu eng“, sagte meine Schwiegermutter. Ich dachte trotzdem nicht, dass er sterben könnte.

Wir lernten mit wenigen Worten und Gesten Wesentliches zu sagen. Er legt mir schwer die Hand auf den Kopf und streicht über mein Haar: „So stolz.“ Als mein Mann seine Hand hält, lacht er verschmitzt und sagt etwas, das wir erst im zweiten Anlauf verstehen. „Mein Wunschkandidat“ nennt er den Schwiegersohn von fast einem Vierteljahrhundert. Keine Missverständnisse mehr, nur tiefe Zuneigung.

Einmal dürfen die beiden Enkel aufs Zimmer. Sie wollen den Opa sehen, er sie auch. Lange schaut er sich die beiden Kerle an. Tischtennis? Das war seine Leidenschaft in der Jugend. Die Jungs haben den Sport übernommen und sind noch begeistert dabei. Schule? Alles gut, Opa, sagen sie und erzählen von den guten Noten, die sie nur ein klein wenig schönrunden. Dem Opa zuliebe und der ist zufrieden. 

Das war ein Abschied, aber ich dachte noch immer nicht, dass er sterben könnte. 

Dazu brauchte es eine weitere oder wiedergekehrte Lungenentzündung, die auf die Therapie nicht ansprach. Die Ärzte sind ratlos, wissen nicht, ob die Behandlung versagt oder gar nicht ankommt, weil mein Vater keine Nadeln toleriert. Es gebe nur zwei Optionen: Zurück in die Klinik, sedieren und künstlich beatmen, um das Antibiotikum zuverlässig verabreichen zu können. Oder Palliativpflege. Meine Mutter und ich sollen entscheiden. Wir brechen zusammen. 

Jetzt sind wir allein im medizinischen Niemandsland. Seit vielen Jahren recherchiere ich beruflich jeden Tag komplexe Fragen. Nun kann ich diese Lungenentzündung nicht entschlüsseln, weiß gar nicht, wo anfangen. Ist das eine akute Infektion? Oder Symptom eines Systems in Schieflage? Mein Vater wollte nie im Krankenhaus an Maschinen angeschlossen enden. Aber jetzt? Wir können das nicht entscheiden, weil wir eine emotionale Antwort auf eine medizinische Frage suchen. Oder eine medizinische Antwort auf eine emotionale Frage. 

Vielleicht gibt es auch gar keine Antwort, weil schlicht die Wegweiser fehlen. Jeder Versuch von „Wenn ja, dann links“ und „Wenn nein, dann rechts“ führt uns in den Systemfehler. Das ist, also ob ich mit dem Kopf unter Wasser Rettungsringe auf ihre Tauglichkeit hin prüfen sollte. Welcher wird das Ertrinken am wenigsten schlimm machen?

Ich kann mich nur entlanghangeln an dem, was ich weiß, und sehen, wohin uns das führt. Ich weiß, dass mein Vater in der Klinik menschenunwürdig behandelt wurde, anders als jetzt. Ich weiß, dass er uns braucht, auf der Intensivstation aber allein, orientierungslos und dann betäubt wäre. Besuche wären verboten. Und ich weiß, dass ihm schon ein Pflaster unerträglich ist. Soll ich diesem Menschen die Gewalt einer Betäubung und Beatmung antun? So bleibt nur die Palliativpflege. 

Das entscheiden wir, nur um sofort wieder zu zweifeln, nur um uns in der Entscheidung zu bestärken, nur um wieder zu zweifeln. Wir sind so entsetzlich allein, dass jeder Strohhalm herhalten muss. Als eine junge Schwester, die wahrscheinlich weder Erfahrung noch tiefe Kenntnis von der Krankengeschichte meines Vaters hat, anmerkt, dass alles andere nur Quälerei für ihn gewesen sei, klammere ich mich an diesen Satz, als ob er Substanz hätte. 

Ab jetzt liegt mein Vater im Einzelzimmer und wir dürfen ihn rund um die Uhr besuchen. Meine Mutter, meine Schwiegermutter, mein Mann mit mir: Wir wechseln uns ab, er soll nicht mehr allein sein. Und so unerwartet wie uns die resistente Lungenentzündung in tiefste Verzweiflung gestürzt hat, werden wir wenig später in die Stratosphäre katapultiert. Ihrem Mann gehe es erstaunlicherweise besser, ob sie ihn heimbringen möchte, wird meine Mutter von einem Arzt gefragt. 

Dieses Mal ist alles anders, wir müssen erst ein Krankenbett und Equipment besorgen, auch den medizinischen Dienst informieren, der helfen soll. Meine Mutter will die letzten 24 Stunden bei ihm in der Einrichtung verbringen, kommt aber wenig später aufgewühlt wieder nach Hause. Sie sei heimgeschickt worden: Einzig unser Landkreis ist erneut im Lockdown. Es ist die schlimmste Phase im Sterben meines Vaters, noch heute macht mir die Erinnerung an die Angst oder ihr Echo das Herz schwer. Ich fürchtete, er könne ohne uns körperlich oder geistig abbauen, für den Transport am nächsten Tag zu schwach oder verwirrt sein. Ich fürchtete, wir könnten ihn nie wiedersehen. 

Wir werden uns wirklich viel verzeihen müssen, heißt es, wenn es um die Pandemie geht. Das gilt sicher besonders für jene, die sich nicht von ihren Liebsten im Krankenhaus verabschieden konnten. Uns bleibt das erspart. Aber das weiß ich noch nicht.

Die verbleibende Zeit rüste ich für die Versorgung meines Vaters auf. Wir müssen ihn nicht nur heimbringen, sondern auch daheim behalten können. Es ist die Angst, dass wir scheitern könnten, er doch noch in ein Heim mit für uns verschlossene Türen kommt. Die Schwestern auf der Station haben mich angelernt im Waschen und Wenden, dem Wichtigsten aus der Pflege. Das ist nicht viel in der kurzen Zeit, aber genug, um zu verdeutlichen, dass zwei Leute nötig und alle paar Stunden im Einsatz sein werden. Wie soll ich diese Dauerbelastung und schwere körperliche Arbeit mit meiner Mutter bewältigen? Denn mein Mann muss mit den Kindern zurück zu uns nach Hause, ist jetzt mehrere hundert Kilometer entfernt.

Ich versuche, eine Pflegekraft zu organisieren, stolpere durch ein Dickicht von Corona-Bestimmungen, Einreise-Vorschriften und anderen Regeln. Ich komme nicht einmal so weit, mich wegen der Finanzierung zu sorgen. Der erste Haken: Pflegekräfte haben Anspruch auf acht Stunden Nachtruhe. Das ist an sich verständlich, hilft uns aber nicht. Tagsüber würde uns der mobile medizinische Dienst unterstützen. Die Nächte sind das Problem.

Dann aber kommt mein Vater, wird durch den Garten bis zum Haus getragen, wo ich auf ihn warte. Ich weiß nicht, welche Version meines Vaters ich vor mir habe. Krank vor Schmerz? Verwirrt? Weggedämmert? Er rührt sich nicht, nimmt nur alles mit kleinen und sehr wachen Vogelaugen in sich auf. „Papa“, sage ich, „wie geht´s Dir?“ Ich warte und habe Angst. „Bier“, sagt er. Ich bin erleichtert. Im Haus wird er konkreter: „Bier. Helles. Paulaner“. Später dann: „Breze“ und „Mandarine“. 

Ich sehe, was ich sehen will und das ist mein Vater, der zurück ins Leben will. Den ich aufpäppeln werde. Ich sehe nicht, dass er nur einen Schluck Bier aus der Schnabeltasse trinkt und nie mehr als zwei Löffel voll isst. Ich sehe nicht, dass er seine Erinnerungen schmecken will, sein Appetit ein Abschied ist. Er baut ab, während ich eine Mauer hochziehe aus Babybrei in Gläsern, energiereiche Getränke für Senioren in Flaschen und Protein-Pulver in der Dose. Ein Bollwerk und Bunker im Kampf gegen die Welt da draußen. 

Ich weiß, dass dieser gebrechliche Mann sein Bett aus eigener Kraft nicht mehr verlassen wird. Seine Beine sind nur Haut und Knochen. Könnte er ein Leben im Liegen ertragen? Immerhin hat er Jahre ohne echte eigene Mobilität nach einem Leben voll Sport ausgehalten. Wo verläuft die Grenze zwischen gerade noch gut genug und zu wenig? Wo fängt Leben an, unwürdig zu werden? Gibt es das überhaupt? Gabriele von Arnim zitiert in ihrem Buch einen Freund, der wie sie mit ihrem Mann schon lange mit seiner kranken Frau lebt: „Es gibt viele Arten zu leben.“

Die Frage stellt sich nicht mehr. Über den Tag und die folgende Nacht hinweg zieht sich mein Vater immer mehr zurück, wird stiller, isst und trinkt noch weniger. Der Leiter des mobilen Palliativteams kommt vorbei, sitzt am Bett meines Vaters und schaut ihn lange an. „Das sind aber schon sehr lange Atempausen“, sagt er dann. Und: “Sie wissen ja selbst, dass er diese Reise angetreten hat.“ 

Unter der Haut an der Schulter soll ein Morphinzugang gesetzt werden, der kaum zu spüren ist. Eine Mitarbeiterin erklärt mir, wie ich das Gerät bedienen und die Dosis bei Bedarf erhöhen kann. Ich fange an zu weinen und versuche zu erklären, dass wir vor kurzem noch auf eine Besserung gehofft hatten. „Da war diese falsche Hoffnung“, sage ich. Sie lässt mich ausreden und beruhigen und erwidert dann: „Das war keine falsche Hoffnung. Das war einfach nur Hoffnung.“ 

Das ist vielleicht der Zeitpunkt, an dem ich akzeptiere, dass mein Vater wirklich sterben wird. Und ich werde ganz ruhig. Ich entdecke eine innere Stärke, die ich bis dahin nicht kannte. Ich weiß, dass ich das, was kommt, überstehen kann. Erst Wochen später versuche ich diese unerwartete Quelle der Kraft und das Hochgefühl zu ergründen, lese viel über den Tod. Seit Jahren steht The Still Point of the Turning World in meinem Regal, ungelesen, weil ich mich zu sehr als Voyeur fremden Leids gefühlt hätte. Emily Rapp erzählt darin das Sterben ihres Sohnes Ronan an Tay-Sachs, eine unfassbar grausame Krankheit. 

Jetzt trauere ich auch. Ist es vermessen, das friedliche Ende eines langen Lebens mit dem Tod eines kleinen Jungen zu vergleichen? Hier hallt das Gespräch am Bett meines Vaters in mir nach: Wenn Hoffnung einfach Hoffnung ist, dann ist Trauer vielleicht einfach Trauer. “Wie jede tiefgreifende menschliche Erfahrung ist Verlust nicht quantifizierbar – gäbe es einen Trauerwettbewerb, wer würde ihn gewinnen wollen?”, schreibt Rapp dazu.

Ihr Buch hilft mir, weil sie ebenfalls von schönen Momenten berichten kann: “Auch fühlte ich mich aufgedreht, elektrisiert und gewahr, als ob ich brennen würde oder Feuer schlucken oder Funken sprühen könnte, etwas niederbrennen … Ich spürte eine ungezähmte Klarheit, eine unaufhaltsame Trauer und, manchmal, ein Aufblitzen von Traurigkeit wie eine trübe Erinnerung, als ob ich in eine Höhe des Rauschs emporgestiegen wäre, die ich noch nie erlebt hatte.” [4]

Das war es oder kommt in der Beschreibung dem am nächsten, was den schönen Tod meines Vaters ausmachte: wilde und ungebändigte Klarheit oder auch Klarsichtigkeit und nicht zu erklärende euphorische Augenblicke. Nie hatte ich weniger Zweifel an mir und meinem Tun. Nie habe ich Entscheidungen leichter getroffen und leichter mit ihnen gelebt als in dieser Zeit. 

Spät am Abend prüfe ich die Morphinpumpe und mein Vater, der weder sehen noch sprechen kann, packt mich und zieht mich in seine Arme. Es ist das letzte Mal. Nur einmal reagiert er noch: Nachts trete ich an sein Bett und sage ein paar Worte. Er macht die Augen auf und wendet mir sein Gesicht zu. Dann war er für uns nicht mehr zu erreichen. 

Nur manchmal und ohne erkennbaren Anlass reißt er plötzlich die Augen auf und reckt die Arme hoch. Mich erinnert sein Schrecken an meine Kinder, den startle reflex der Babys, die wie panisch zu schreien beginnen, wenn sie schlafend ins Bett gelegt werden. Als ob sie etwas sehen könnten, das uns verborgen bleibt. Immer wieder nehme ich meinen Vater in die Arme. „Ich halte Dich fest“, sage ich. „Ich lass Dich nicht los. Ich lass dich nicht fallen.“ Auch wenn es genau das ist, was ich machen muss. Der Autorin Karen Fisher wird ein Satz zugeschrieben, dessen Kontext ich nicht kenne: „Du musst alles fallen lassen, was fallen will.“ [5]

Im Lauf der nächsten Stunden zieht sich mein Vater weiter in sich zurück und doch nimmt er uns mit. Noch gehen wir dieses Stück Weg mit ihm. Er ist mein Fokus und ich bin fast erleichtert, dass mein Mann und die Kinder nicht mehr da sind. Ich würde mich in jede ihrer Regungen verstricken, mich um sie kümmern. Ich kann ahnen, was sie gerade bei uns daheim machen. Trotzdem sind sie nicht nur eine Tagesreise entfernt, sondern in einem anderen Universum. Meine Welt hat sich auf ein Zimmer reduziert. Es gibt nur noch meinen Vater, meine Mutter, mich und die Menschen, die uns begleiten. 

Unfassbar, dass sich der Planet da draußen weiterdreht. Das Gefühl kenne ich, schon einmal habe ich diese Isolation in einem anderen Still Point of the Turning World erlebt. Eines unserer Kinder musste nach der Geburt zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, wir aber wurden ohne Baby, aber mit unserer Verzweiflung entlassen. Mehrmals täglich fuhren wir zwischen Wohnung und Klinik hin und her, abgekapselt vom Rest der Welt. Staunend sah ich vom Auto aus den Menschen in den Straßen zu. Wie konnten sie lachen? Wie Kaffee trinken? Wie ihr normales Leben abspulen lassen, wenn doch nichts normal war? 

Schon einmal habe ich einen Tod in der Familie erlebt, stand damals aber vor der geschlossenen Zimmertür, hinter der dieser Orkan wütete. Meine Großmutter starb bei uns daheim wenige Tage nach meinem 17. Geburtstag. Der Schmerz darüber war viele Monate später noch genauso frisch wie am ersten Tag. Ich hielt mich deshalb über Jahrzehnte für zu schwach, um mit einem solchen Verlust umzugehen. Heute denke ich, dass mir ein Abschied vielleicht geholfen hätte.

Am nächsten Morgen kommen mein Onkel, meine Tante und meine Kusine, um meinen Vater ein letztes Mal zu sehen. Er liegt unerreichbar im Bett und ist doch der Magnet, an dem wir uns ausrichten. Jahrzehnte gemeinsamer Geschichte mit Nähe und Distanz, mit Zuspruch und Auseinandersetzung verkürzen sich auf das Band, das ihn mit jedem von uns verknüpft. 

Da ist mein Onkel, der dem großen Bruder über viele Stunden die Hand hält und sie wortlos streichelt. 

Da ist meine Tante, die sechzig Jahre mit dem Schwager geteilt hat. Als sie hochschwanger war und die Wehen überraschend einsetzten, war mein Onkel nicht da. Mein Vater fuhr sie in die Klinik und sagte den Satz, der nun zur Familienfolklore gehört: „Lass Dir ruhig Zeit, es pressiert nicht.“ Pressiert hat es dann aber doch. Meine Kusine konnte mit Glück gesund geboren werden. Sie verabschiedet sich nach mehr als einem halben Jahrhundert von ihrem Onkel.

Als sie gehen muss, bleiben wir zu fünft zurück. Meine Mutter. Meine Tante. Mein Onkel. Ich und mein Vater. Wir wachen an seinem Bett. Wir sprechen und wir erinnern uns. Wir lachen. Am späten Nachmittag dann, das Gespräch der anderen plätschert dahin, höre ich seinen Atem aussetzen. Oder vielleicht ahne ich es auch nur, habe ein Gespür dafür entwickelt. Seine Hand nehme ich nicht, auch wenn es schwerfällt, ich möchte ihn nicht halten. Aber ich blicke wie so oft in den letzten Tagen auf seinen Hals und die Ader, die da pocht. Einmal, zweimal, dreimal, eine Pause. Noch ein Pochen, noch eine Pause. Noch ein leichter Schlag. Stille. 

Wir verabschieden uns. Ich danke ihm. Wir waschen ihn und ziehen ihn an, nicht verkleidet im Anzug, sondern in der leicht ausgebeulten Cordhose und einem Karohemd mit Jacke. Vielleicht friert er nun ja wieder. Meine Schwiegereltern kommen. Noch ein schwerer Abschied. Mehr Familie kommt. Weitere Abschiede. 

All das nimmt uns mit, aber wir halten durch. Meine Stärke bricht nicht. Sie bringt mich nach seinem Tod durch das Treffen mit dem Arzt, der den Totenschein ausstellt. Ich ertrage die Bestatter. Ich komme durch die Nacht und die nächsten Tage. In den Tagen danach tasten meine Mutter und ich uns gegenseitig mit Blicken und Worten ab, aber es ist noch alles dran. Der Orkan ist über uns hinweggezogen. Wir stehen noch.

Ein Leben muss ein gut gelebtes Leben sein, wenn die Druckwellen seiner Implosion weit und bis zurück in die Zeit reichen. In den folgenden Tagen und Wochen melden sich alte Bekannte und Freunde, entfernte Familie, alle sind erschüttert, rufen immer wieder an. Eine langjährige Freundin beendet ein Gespräch: „Entschuldigung, jetzt muss ich ein bisschen weinen.“ Das ist unerwartet für uns, mein Vater hatte schließlich aus eigenem Antrieb lange schon zurückgezogen gelebt. „Sie wussten, dass er ein lauterer Mensch war“, sagt meine Mutter.

Die wilde Klarheit, wird sie bleiben? Nein, mit der Rückkehr zu meiner Familie und in mein normales Leben bin ich auch wieder mein gewohnt verzagtes und von Selbstzweifeln geplagtes Selbst. Was nicht schlecht sein muss. Im täglichen Leben ist die wild clarity verdammt nah dran am Bullying. Nie habe ich weniger darüber nachgedacht, was andere über meine Entscheidungen denken könnten. 

Mein Vater ist einen schönen Tod gestorben. Schön für ihn, denke ich, aber ganz überraschend auch für uns Angehörige. Wir sind mit ihm im Reinen, wir sind mit uns im Reinen, haben unseren Frieden gemacht. Ich kann nicht erklären, nur beschreiben, was war. Und für die unerwartet euphorischen Gefühle die Worte von Emily Rapp borgen, die sie beschreibt als „Momente des strahlendsten, ausgedehntesten und alle Logik erschütterndsten Glücks”, die sie je erlebt habe. [6]

Trotzdem bin ich nicht dieselbe nach dieser Erfahrung, muss mich an ihr abarbeiten. Mein Unterbewusstsein scheint aber weniger mit dem Sterben und dem Tod meines Vaters zu hadern als mit unserer Hilflosigkeit angesichts unmöglicher Entscheidungen. Nacht für Nacht träume ich mich in bizarre Szenarien hinein, die nur eines gemein haben: Ich muss ein unlösbares Rätsel lösen, eine Frage ohne Antwort beantworten, eine überwältigende Aufgabe bewältigen. Immer ahne ich, dass eine perfekte Lösung, Antwort und Strategie vor mir liegt, aber ich kann sie nie greifen. 

Dann stehe ich etwa auf einem Berg in Japan und kann den Heimweg nicht finden. Die Schilder lassen sich nicht entziffern und meine Adresse kenne ich auch nicht. Oder ich träume, dass meine Mutter schwer erkrankt. Nur ein experimenteller Wirkstoff könnte sie retten, aber sie möchte nicht an der Studie teilnehmen. Ich rekrutiere Barack Obama und er spricht geduldig auf sie ein. „Das wird schon wieder“, sagt meine Mutter und lächelt. „Das kriegen wir schon wieder hin”. 

Das nächste Mal versuche ich aus einem Wald zu entkommen, der mit einem Fluch belegt ist. In letzter Not springe ich auf ein Schiff, aber der Fluss führt über Berge und Täler immer wieder in den Wald hinein, der bei jeder Runde dunkler und bedrohlicher wird. Und wenn meinem Kopf die Ideen ausgehen, versetzt er mich einfach in den Krimi, den ich vor dem Einschlafen beiseitegelegt habe. Pech für die Mordopfer: Ich kann den Täter nicht entlarven, irre über Stunden durch die leeren Gänge eines verlassenen Hauses. 

Der, um den es eigentlich gehen müsste, lässt sich nur kurz blicken. Ich bin weinend eingeschlafen, weil ich dachte, mich nicht an den Händedruck meines Vaters erinnern zu können. Im Traum taucht eine Gestalt auf, das Gesicht verschattet, drückt mir im Vorbeigehen die Hand und ist gleich wieder verschwunden. Das macht nichts, ich bin ja ohnehin damit beschäftigt, eine wichtige Frage nicht zu klären oder ein einfaches Rätsel nicht zu lösen. 

Diese Träume kommen jede Nacht und zwar über Wochen. Am Ende bin ich so zermürbt, dass mir vor dem Einschlafen graut. Ich wünsche mir fast den Klassiker der Albträume zur Entspannung zurück: Matheabitur, ob mit oder ohne Kleidung ist egal. Immerhin wird mir jetzt klar, warum mich ausgerechnet die zu Schulzeiten so geliebte Mathematik über die Jahre immer wieder heimsucht. Wenn schon gymnasialer Horror, dann müsste mich eigentlich Caesar über schiefe Ebenen jagen. 

Latein und Physik taugen aber nicht so gut zum Albtraum. Es ist die Mathematik mit ihrer rätselhaften Sprache, die nur Kundigen elegante Wege zur Lösung eröffnet. Wer die Sprache nicht spricht, bleibt auf der Strecke. Kann ich mir nicht verzeihen, dass wir uns gegen die Hightech-Medizin entschieden haben? Fürchte ich, dass wir meinen Vater zu früh aufgegeben haben? Nein, ich denke, er ist den Tod gestorben, den er sterben sollte. Vielleicht ist das eigentliche Problem, dass wir in höchst emotionalen Situationen vor medizinische Entscheidungen gestellt werden, die uns an unsere Grenzen bringen.

Allen kritischen Eingriffen zum Trotz hat die Medizin meinem Vater zusätzliche Jahre geschenkt. Er hatte ein langes Leben und einen schönen Tod. Ich würde mir und meinen Angehörigen und jeder und jedem anderen auch ein solches Sterben wünschen. Das lässt sich nur nicht planen. Aber mich tröstet das Wissen, dass ein lebensbejahender Tod möglich ist. Und vielleicht muss das genug sein. „Ich hatte eigentlich immer Angst vor dem Tod“, sagte mein Mann nach einem Besuch bei meinem Vater in der Klinik. „Aber wenn das Sterben so sein kann, dann fürchte ich mich nicht mehr.“ 

Englische Originaltextstellen, alle ins Deutsche übersetzt von Peter Hintz:

[1] “I learned that dying, up close, is not what you imagine”, ”For the dying are living, like everyone else. It is the essence of living – beautiful, bittersweet, fragile life…” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[2] “In today’s developed world it is possible to live an entire lifetime without ever directly setting eyes on death…” , “Little more than a century ago, this distance from dying was inconceivable. We invariably departed the world as we entered it, among our families, close up and personal, wreathed not in hospital sheets but in the intimacy of our own homes.” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[3] “That I can wash my father, as once he washed me, is an honour, an offering, a last act of love, a moment of unrivalled intimacy.” (Rachel Clarke: Dear Life. A Doctor’s Story of Love, Loss and Consolation, 2020.)

[4]“Loss, like any profound human experience, is not quantifiable – if there did exist a competition for grief, who would want to win it?”, “I also felt switched on, electrified and aware, as if I were on fire or could eat fire or spit sparks, burn something down…I felt a wild clarity, an unstoppable grief and, sometimes, a flash of sadness like a dim memory, as if I had climbed a ladder into a realm of ecstasy I had never experienced before.”(Emily Rapp: The Still Point of the Turning World, 2013.)

[5] “You must let everything fall that wants to fall.“

[6] „moments of the brightest, most swollen and logic-shattering happiness” (Emily Rapp: The Still Point of the Turning World, 2013.)

Foto von George Hiles

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