Ein sehr fälschbarer Künstler – der Fall Modigliani

von Christina Dongowski

 

London, August 1919: Der Weltkrieg geht noch zu Ende. In der Mansard Gallery, tatsächlich ein Mansarden-Geschoß im Kaufhaus Heale, findet aber bereits wieder eine Ausstellung aktueller französischer Kunst statt. Organisiert und finanziert von den Brüdern Osbert und Sacheverell Sitwell, Weltkriegsveteranen, die mit der Ausstellung ihre Karriere als Kunst- und Literaturkritiker, Schriftsteller und exzentrische Figuren des englischen Kulturbetriebs beginnen. Ausgestellt werden fast alle französischen, oder besser Pariser Künstler*innen, die heute zum Kanon der Modernen Kunst und der Avantgarde(n) gehören. In den Londoner Zeitungen und Zeitschriften wird ausführlich über die Ausstellung berichtet.

Die Meinungen sind geteilt: Während sich Roger Fry und Arnold Bennett, zwei der führenden Literatur- und Kunstkritiker Londons, enthusiastisch äußern, blicken andere Kritiker nach wie vor ratlos bis überfordert auf diese neue Bildwelt. Wutentbrannte Rezensionen, man habe es hier mit Dekadenz und Müll zu tun, Barbarei und dem Ende des christlichen Abendlandes, wie sie noch Roger Fry für seine Ausstellungen zur post-impressionistischen Malerei in 1910 und 1912 lesen musste, bleiben aber aus. Der Untergang des Abendlands ist auf den Schlachtfeldern in Europa und anderswo vom Feuilleton-Frisson zur Realität geworden. Nur in den Redaktionen der Zeitungen stapeln sich noch die Briefe aufgebrachter Leser*innen, die sich darüber beschweren, dass solchen Nichtskönnern und Zerstörer*innen der großartigen Tradition der abendländischen Kunst und Verderber*innen der englischen Jugend so viel Platz eingeräumt werde.

Ein Maler ärgert die Leserbriefschreiber*innen besonders: Amedeo Modigliani und seine überlängten Akte mit den langen Hälsen. Hundert Jahre später erscheinen die wütenden Reaktionen auf die sich dekorativ-lasziv im relativ klassisch aufgefassten Bildraum räkelnden Akte ziemlich unverständlich. Ein Grund für die Aufmerksamkeit der Philister*innen: Modigliani wird sowohl von Arnold Bennett als auch von Roger Fry besonders hervorgehoben. Sein Name steht in den Zeitungen. Man kann sich aufregen, ohne einen Fuß in die Ausstellung gesetzt zu haben. Den Kunstkritikern fällt er auf, weil er einer der wenigen wirklich neuen Namen in der Ausstellung ist – und erst seit ein, zwei Jahren seine schwanenhalsigen Schönen malt. Im Vergleich zu dem, was Georges Bracque und Pablo Picasso gerade auf ihren Bildern mit den traditionellen europäischen Vorstellungen von Perspektive, Bildraum, Differenz von Motiv und Grund veranstalten, oder zu Matisse, der sich vom Bildraum komplett verabschiedet hat und Leinwand als Stoff behandelt, den er mit Farben und Formen dekoriert, sind Modiglianis junge Frauen harmlos. Ihr Maler will die europäische Akt-Tradition weiterführen, nicht, wie Picasso mit den Demoiselles d’Avignon, zerstören. Bennett und Fry arbeiten in ihren Texten diese Besonderheit Modiglianis heraus. Der Klassizismus dieser Akte, Modiglianis im Grunde  konservative Auffassung von der Aufgabe der Malerei, markieren seine Differenz zu Kubismus und Fauvismus. Das macht ihn wiederum interessant für Kritiker und Händler, die schon auf der Suche nach dem Next Big Thing sind.

Für Amedeo Modigliani ist seine Teilnahme an der Ausstellung in der Mansard Gallery und seine hohe Sichtbarkeit der erste wirklich große Erfolg als Künstler. Zu verdanken hatte er das auch seinem Händler Leopold Zborovski. Der war Kontaktmann der Sitwells in Paris und übernahm für die anderen an der Ausstellung beteiligten französischen Kunsthändler die Organisation und Logistik. So kommen für einen bisher in London weitgehend unbekannten Maler erstaunlich viele Modiglianis in die Ausstellung. Im Pariser Kunsthandel ist Zborovski trotz dieses Vertrauensbeweises noch ein kleines Licht. Sein Ausstellungsraum befindet sich in seiner winzigen Wohnung. Er vertreibt seine Künstler*innen hauptsächlich, in dem er versucht, in den Cafés und Entertainment-Betrieben von Montmartre und Montparnasse mit potenziellen Sammler*innen in Kontakt zu kommen. Ein durchaus übliches Vertriebs- und Marketing-Modell, das auch von vielen Künstler*innen, auch Modigliani selbst, quasi als Direktvertrieb, genutzt wird. Das Galeriewesen, das wir heute als primäre Vertriebsform für zeitgenössische Kunst kennen, steckt 1919 immer noch in den Anfängen. Die großen Kunsthändler der Moderne, Vollard, Bernheim Jeune und der junge Kahnweiler, experimentieren erst seit wenigen Jahren damit, wie man aktuelle Kunst überhaupt attraktiv präsentieren und verkaufen kann. Und die nötigen finanziellen Ressourcen, um in einem angesagten Pariser Viertel attraktive Räume mit gutem Licht anzumieten oder zu kaufen, müssen auch erst einmal vorhanden sein. 

Zborovski lernt Modigliani 1916 kennen, als er, mitten im Krieg, beginnt, seinen eigenen Kunsthandel aufzubauen. Zbo, wie ihn seine Künstler*innen und Freund*innen nennen, versteht sich, wie eigentlich alle Händler, die zu der Zeit überhaupt mit aktueller Kunst handeln, vor allem als Förderer  der Künstler. Mit zeitgenössischer Kunst zu handeln heißt selbst in der Pariser Kunstszene der 1910er Jahre noch, potentielle Käufer*innen überhaupt erst mal davon zu überzeugen, dass man es hier tatsächlich mit Kunst zu tun habe, und nicht mit irgendwelchen Schmierereien. Eine gute Generation nach den Skandalen um die Impressionisten gibt es zwar bereits einige etablierte Sammler, die bereit sind, Gegenwartskunst zu kaufen. Zumal es sich auch außerhalb der Insiderkreise herumgesprochen hat, dass mit ein bisschen Glück aus den günstig erworbenen Bildern eines seltsamen Typen mit anti-bürgerlichem Auftreten bedeutende Kunstwerke werden können, über die sich auch noch die eigenen Enkel finanziell freuen werden. Aber immer noch weigern sich staatliche französische Kunstinstitutionen, Impressionisten und Post-Impressionisten auszustellen, oder gar anzukaufen. Selbst bei großzügigen Schenkungen wie der des Malers und Unternehmers Gustave Caillebotte, die heute den Grundbestand der Sammlung des Musée d’Orsays ausmacht, zierten sich die Behörden und lehnten unter anderem Bilder von Manet, Degas und Cézanne ab. Kunsthändler wie Zborovski haben deswegen ein professionelles Selbstverständnis, das dem vieler Künstler entspricht: Man steht an der vordersten Front und räumt der Modernen den Weg frei. Man ist Avantgarde.

Selbst in relativ prekären finanziellen Verhältnissen lebend, versucht Zborovoski Modigliani durch die Finanzierung einer kleinen Wohnung und dem Bereitstellen eines Ateliers ein einigermaßen stabiles Umfeld zu schaffen, damit der endlich dazu kommt, kontinuierlich an seinen Bildern zu arbeiten. Denn Modigliani lebt zwar seit 1906 in Paris, hat es aber trotz seines enormen technischen Talentes, im Gegensatz zu Picasso oder den Fauves, nicht geschafft, eine einigermaßen konstante künstlerische Praxis zu entwickeln. Stattdessen hat er sich den Ruf des ultimativen Bohemien erarbeitet: Gut aussehend und flamboyant in auffälligen Farbkombinationen gekleidet, gehört er bald zum Inventar der Kneipen, Cafés und Bistros in Montmartre und Montparnasse. Er wechselt bis zum Eingreifen Zborovskys ständig von einer heruntergekommenen Atelierwohnung zur nächsten, lebt obdachlos oder kriecht bei Freund*innen unter. Intensive Arbeitsphasen wechseln mit Phasen ab, in denen er durch die Szenekneipen zieht, säuft, kifft, Dante und D’Annunzio deklamiert und sich am Ende des Abends mit den Gästen, dem Wirt, den Rausschmeißern oder allen zusammen prügelt. Diese Auftritte machten ihn zu so etwas wie einer Touristen-Attraktion: Neuankömmlingen in der Pariser Kunst- und Literaturszene oder Besucher*innen aus der Provinz wird der „Prinz der Bohème“, wie auch heute noch manche Biographie Modigliani betitelt, regelrecht vorgeführt. Man wartet in den entsprechenden Lokalen auf sein Erscheinen oder versucht auf den Straßen und Plätzen von Montparnasse und Montmartre einen Blick auf seine prekär-glamouröse Erscheinung zu erhaschen. Seinen Signature Look aus Cordhose, farbigem Hemd und kontrastfarbigem Halstuch kennen bis 1919 deutlich mehr Leute als die Kunst, die er macht.

Wie stark Modigliani sein Auftreten tatsächlich selbst als „Personal Brand“ strategisch gestaltet hat oder ob hier im Nachhinein sozialer Abstieg und ökonomische Prekarisierung von anderen romantisiert und kultur-ökonomisch verwertbar gemacht wurde und wird, bleibt eine Streitfrage der Modigliani-Forschung. Für den Durchbruch bei Sammler*innen zeitgenössischer Kunst war seine Art Bekanntheit zu Lebzeiten möglicherweise kontraproduktiv. Kunsthändler schätzten ihn als unzuverlässig ein, auch weil er selbst einige Mal die Preise unterbot, die Händler bereits mit potenziellen Käufern ausgemacht hatten, und das Bild oder die Zeichnung deutlich billiger direkt verkaufte. Zumindest gehören solche Geschichten seit Anfang zur Künstlerlegende Modigliani; genauso wie die von den zahlreichen Skizzen und Zeichnungen, die der von seinen Modellen enthusiasmierte Künstler denen auf der Stelle im Café oder Bistro überreichte, ohne dafür Geld zu akzeptieren.

Zborovski glaubt an das Potenzial Modiglianis. Und er scheint es dadurch geschafft zu haben, den Künstler selbst einigermaßen zu stabilisieren. Vielleicht hat ihm der große Krieg, der das Künstlerleben in Paris drastisch veränderte, auch dabei geholfen – und dass Modigliani jetzt in einer festen Partnerschaft mit der jungen Malerin Jeanne Hébuterne lebte und Vater geworden war. Ab 1917 jedenfalls beginnen die Stilmerkmale Modiglianis Bilder zu dominieren, die wir heute als typisch ansehen: reduzierte, aber perspektivisch entschlüsselbare Hintergründe, vereinfachte Körperformen, reduzierte intensive Farbpalette, überlängte Gestalten und Gliedmaßen, Mandelaugen, sehr lange Hälse. Immer mehr Menschen gefällt das. Zborovski trifft nun öfter auf Interessent*innen für einen Modigliani, trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage im Krieg. Es gibt Porträt-Aufträge. Für Modigliani ergeben sich neue Marktmöglichkeiten: Viele Maler sind an der Front, mussten zurück in ihr Herkunftsland oder sind vor den deutschen Bomben auf Paris nach Südfrankreich geflüchtet. Zborovski nutzt das geschickt – und bringt Modigliani damit in eine gute Position für den Re-Start der Kunstszene nach dem Waffenstillstand. Die Teilnahme an der großen wichtigen Ausstellung in London ist der Lohn dieser Anstrengungen.

Es beginnt in Modiglianis Leben vieles gut zu laufen. Bis alles katastrophal schief läuft: Die Spanische Grippe, die ihn im Sommer 1919 erwischt, überlebt er zwar, den Wiederausbruch seiner Tuberkulose in Form einer Hirnhautentzündung Ende des Jahres aber nicht. Als er, nach mehreren Tagen im Koma, von Freunden endlich in ein Krankenhaus geschafft wird, ist es zu spät. Die Pflegerinnen und Ärzte können ihm nur noch mit Morphium das Sterben erleichtern. Er stirbt am 24. Januar 1920, mit 35 Jahren. 48 Stunden später ist auch Jeanne Hèbuterne tot. Sie hat sich, im achten Monat schwanger, aus einem Zimmer im fünften Stock gestürzt. Sie wurde 22 Jahre alt.

Für den Künstler Modigliani ist diese Tragödie der endgültige Durchbruch. Schon das Begräbnis, organisiert von Zborovski und engen Freunden Modiglianis, wird zu einem Großereignis der sich nach dem Krieg wieder neu sortierenden Kunstszene Paris. Angeblich Tausende begleiten den mit Blumen bedeckten Sarg zum Père Lachaise oder stehen am Wegrand Spalier. Picasso geht in der ersten Reihe. Selbst die Polizisten des Reviers, die Modigliani mehrfach wegen Ruhestörung und Schlägereien in Gewahrsam genommen hatten, salutieren, komplett in Parade-Uniform, dem von vier Pferden gezogenen Leichenwagen. Finanziert wird das aufwändige Begräbnis durch Spenden, die großzügige Finanzierungszusage von Modiglianis italienischer Familie – und durch den Verkauf von Modiglianis. Die haben ihren Wert mit dem Tod des Malers nämlich vervielfacht. Noch während des Begräbnisses eröffnet die Galerie Devambez, ein seriöses Haus, eine Ausstellung mit rund 20 Werken Modiglianis, vor allem wohl Zeichnungen, wahrscheinlich aus dem Besitz von Paul Guillaume, seinem allerersten Sammler und Händler. Freund*innen und Bekannte des Malers müssen sich noch auf dem Friedhof mit Leuten auseinandersetzen, die von ihnen wissen wollen, ob sie Modiglianis besitzen und was sie dafür haben wollen. Zborovski schafft es, obwohl selbst krank, die meisten Bilder, die in Modiglianis Wohnung und Atelier lagerten, für sich zu sichern. In den wenigen Tagen, die zwischen Modiglianis Einlieferung in die Klinik und seinem Begräbnis verstreichen, verschwinden aber auch Werke aus dem Atelier und der Wohnung, genauso wie persönliche Gegenstände des Malers und Malutensilien, unter anderem seine Palette.

Und ziemlich genau hier beginnt dann auch das zentrale Problem der Modigliani-Forschung: Niemand kann heute auch nur abschätzen, wie viele Modiglianis es zum Zeitpunkt seines Todes überhaupt gab – und auch zum Zeitpunkt seines Todes konnte das schon niemand mehr. Während viele seiner Mit-Bohemiens, zum Beispiel Picasso, von Anfang an versucht haben, ihre Werke und deren Verbleib irgendwie zu dokumentieren, hat Modigliani an die Selbst-Dokumentation keinen Gedanken verschwendet. Gleichzeitig gibt es genug einigermaßen glaubwürdige Zeug*innen für seine Angewohnheit, Werke, sogar Skulpturen, zu verschenken oder beim teilweise fluchtartigen Verlassen seiner Atelierwohnungen zurückzulassen. Eine ideale Situation für alle, die einen Modigliani auf den Markt bringen möchten – bis heute.

Selbst Zborovski, ohne dessen Engagement Modigliani wahrscheinlich in den hinteren Reihen der Klassischen Moderne verschwunden wäre, ist keine wirkliche zuverlässige Provenienz.: Zumindest einige der Bilder, die Zborovski aus Wohnung und Atelier holte, waren wohl nicht fertig oder entsprachen nicht mehr dem, was sich rasend schnell als Style Modigliani etablierte. Zborovski datierte Werke deswegen nicht nur entsprechend um – also in die Zeit ab 1917. Kunstexperten gehen auch davon aus, dass Freunde Modiglianis, die seine Malweise extrem gut kannten wie Chaim Soutine und Moïse Kisling, das vorhandene Material marktfähig machten und im Style Modigliani überarbeiteten. Immerhin zu einem guten Zweck: Zborovski finanzierte aus dem Erlös auch die Betreuung von Jeanne Modigliani, die beim Tod ihrer Eltern gerade mal 15 Monate alt war und bei einer Amme auf dem Land lebte, während sich die italienischen und französischen Behörden monatelang Zeit ließen, die Übertragung des Sorgerechts an die in Livorno lebende Familie Modiglianis zu genehmigen. Die Familie Hébuterne wollte von dem unehelich geborenen Kind nichts wissen.

Ab dem Januar 1920 bis heute tauchen also kontinuierlich Werke Modiglianis auf, deren Grad an Authentizität unklar ist. Man kann zwar durch naturwissenschaftliche Untersuchungsverfahren Bilder, die auf Malgründen und mit Farben gemalt wurden, die es zu Lebzeiten Modiglianis noch gar nicht gab, sicher aus dem Corpus ausschließen. Das wirkliche Problem der Modigliani-Forschung sind aber die Werke, die auf historisch authentischem Material gemalt wurden – und bei denen man sich trotzdem nicht sicher sein kann, dass sie von ihm selbst gemalt wurden. Dass das Malen eines Modiglianis eine lukrative Beschäftigung sein würde, war bereits an seinem Todestag klar. Und die Maler*innen, die sich darin versuchten, arbeiteten zum Teil bis in die 1950er Jahre mit historisch authentischem Material. Die von Händlern und Fans von Beginn an liebevoll gepflegte Legende vom edlen, von seinen Dämonen gequälten letzten echten Bohemien tut ihr übriges. Der echte Lebenslauf Modiglianis ist in weiten Bereichen allerdings undokumentiert. Die wichtigsten und seriösesten Quellen sind das Tagebuch und die für die Familie verfassten Erinnerungen seiner Mutter, die Briefe an und von seiner Familie sowie das wenige, was er an seine Freunde schrieb und die auch aufhoben. Was wir über ihn zu wissen meinen, stammt weitgehend aus den mehr oder weniger genauen Erinnerungen von Menschen, die zu Teil Jahrzehnte nach seinem Tod verfasst wurden. Und von Menschen, die ein Interesse daran hatten, Modigliani angeblich einmal sehr gut gekannt zu haben, weil man damit Geld verdienen konnte.

So machte bereits in den 1920er Jahren die Stadt Paris mit einer Broschüre international für sich als Reiseziel Werbung, in der die massiv legendarisierte Vita Modiglianis das zentrale Element ist – Paris, Hauptstadt der Kunst und der Avantgarde, beglaubigt durch Leben und Leiden des Heiligen Modi. Was an den Geschichten vom Maler, der seinen Weg durch die Bars und Cafés der Stadt und die Herzen seiner zahllosen „Musen“ mit verschenkten, verlorenen oder schlicht vergessenen Meisterwerken förmlich pflastert, wahr ist, ist aber schon wenige Jahre nach seinem Tod vollkommen unklar. Immerhin stammen die Anekdoten für die Broschüre und weitere sich als biographisch verstehende Texte zu Modigliani von Leuten, die ihn tatsächlich gut kannten – oder das zumindest glaubten oder glaubhaft vorgaben. Seinem Modigliani eine schöne Provenienz zu verleihen, war (und ist) also gar nicht so schwer. Was man braucht, ist ein Kontaktpunkt zu einem Freund, Hauswirt oder einer Geliebten Modiglianis, die das Auftauchen eines Konvoluts von Zeichnungen, eines Gemäldes oder einer Skulptur einigermaßen glaubwürdig erscheinen lässt. Dass so etwas tatsächlich nicht unwahrscheinlich ist, zeigt das Auftauchen von um die zwanzig Modiglianis aus dem Besitz von Paul Alexandre, die dessen Erben erst 1988 bekannt machten. Dr. Alexandre hatte Modigliani bald nach dessen Ankunft in Paris kennen gelernt und ihn zeitweise in seiner Künstlerkommune Unterschlupf gewährt. Als Alexandre als Armeearzt 1914 eingezogen wurde, löste sich das enge Verhältnis auf.

Für eine seriöse kunsthistorische Forschung sind das Werk und auch der Künstler Modigliani eigentlich ein einziger Alptraum. Kein gesicherter Korpus, noch nicht einmal zentrale Werk- und Lebensdaten lassen sich zweifelsfrei feststellen. Das gilt auch für Werke, die sich in renommierten Museen oder Sammlungen befinden. Die Chance, das man vor allem in einem amerikanischen oder asiatischen Museum einen Modigliani betrachtet, der nicht von ihm gemalt wurde, ist nicht gering. Und auch in europäischen Sammlungen und Museen kann man sich, – ohne Nachweis des Erwerbs in den 1910er Jahren –, nicht sicher sein, was man da eigentlich besitzt. Das Einzige, was man sicher weiß: Modigliani gehört zu den Top 3 der am meisten gefälschten Maler der Klassischen Moderne. (Die beiden anderen sind Dali und De Chirico.) Und das unter tätiger Mithilfe von Experten: Die Verfasser zweier früher Werkverzeichnisse entpuppten sich bereits in den 1920ern und 1950ern als nicht besonders zuverlässig. Beide waren außerdem in dubiose Geschäfte mit gefälschten Modiglianis verwickelt. 

Aktuell gibt es fünf Werkverzeichnisse, deren Verfasser von sich behaupten, sie hätten – durch privilegierten Zugang zu bisher nicht veröffentlichten Archivmaterialien – den definitiven Korpus abgegrenzt. Bis heute sind drei davon wegen Verwicklungen in Betrug, Urkundenfälschung, Steuerhinterziehung und Insolvenzverschleppung rund um Werke von Modigliani und anderer Künstler*innen verurteilt oder stecken noch in Verfahren. Die ehrenamtlich arbeitende Forscher*innengruppe um Kenneth Wayne, einem der renommiertesten Modigliani-Forscher, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein seriöses Korpus aufzustellen, kommt nicht wirklich vom Fleck. Wahrscheinlich auch, weil sich die Bereitschaft von Modigliani-Besitzern, ihren Schatz einer solchen Untersuchung auszusetzen, in Grenzen hält. Dazu kommt das Risiko, von Sammlern verklagt zu werden, weil man die Authentizität ihre Modiglianis in Zweifel zieht. So weist selbst die Tate Modern, die für ihre große Modigliani-Ausstellung 2018 einige Werke einer gründlichen Untersuchung inklusiver aufwändiger Dokumentation unterzogen hat, darauf hin, dass man nicht „in the business of authentication“ sei. Man versuche nur endlich eine realistische Vorstellung davon zu bekommen, wie Modigliani tatsächlich gearbeitet hat. Natürlich werden die Ergebnisse der Tate für die zukünftige Bewertung anderer Modiglianis, sobald sie in den Verkauf kommen, grundlegend sein. Jedes Abweichen von den zeichnerischen und malerischen Techniken, die als typisch für einwandfrei identifizierte Modiglianis erkannt worden sind, wird in Zukunft Verdacht erregen: Für den Handel mit Modiglianis wird das eine Entlastung sein. Die großen Auktionshäuser, die sich aufgrund der desaströsen Provenienz-Lage bisher sehr mit der Versteigerung von Modiglianis zurück hielten, haben nun Kriterien in der Hand, Einlieferungen unabhängig von deren angeblicher Provenienz zu bewerten. Aber gleichzeitig wissen so auch Profis mit Ambitionen, einen echten Modigliani zu malen, was zu tun ist.

An der Popularität der Marke Modigliani, dessen mandeläugige, schwanenhalsige Nackte Postkarten, Poster, Notizbücher, Tassen etc. zieren und dessen Legende jedes Jahr in einem neuen Roman, in einer neue Biographie recycelt wird, wird das alles nichts ändern. Eine attraktivere, leichter konsumierbare Form hat die Legende vom verkannten Genie, der sein Leben für die Kunst gab, noch nicht mal in Van Gogh gefunden.

 

 

Photo by Elena Mozhvilo on Unsplash

 

 

 

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