Ein bitterer Geschmack – Erzählungen von Queerness

von Eva Muszar

CN: Suizid, (sexualisierte) Gewalt

 

‚Du darfst mich nicht so liebhaben, Manuela, das ist nicht gut. Das muß man bekämpfen, das muß man überwinden, abtöten.‘ […]

 ‚Liebes, geliebtes Fräulein von Bernburg! Nicht – […] Sie wissen doch, Sie wissen es ja – ich kann das nicht überleben! Das ist ja der Tod.‘“

 

Kurz nach diesem Wortwechsel stürzt sich Manuela, die Hauptfigur von Christa Winsloes Roman Mädchen in Uniform (1933), in den Tod. Ihr Suizid ist kein Einzelfall. Das Phänomen hat einen zynischen Namen bekommen: „Bury your gays“ (in etwa: „Begrabe deine schwulen/lesbischen Figuren“). Und es zieht sich hartnäckig durch die Literatur- und Filmgeschichte: In 22 der 28 amerikanischen Filme, die zwischen 1962 und 1978 offen von Homosexualität handeln, sterben lesbische oder schwule Figuren gewaltsam oder durch Suizid. Von 1976 bis 2020 sterben mindestens 214 Lesben und bisexuelle Frauen in TV-Serien.[1] Grausam ergeht es meist auch den wenigen Figuren, die trans sind. Eine Auswertung von US-Serien zwischen 2002 und 2012 ergibt: In 40 Prozent der Fälle sind sie Opfer und in 21 Prozent Mörder:innen oder Antagonist:innen.

Das narrative Muster, das hinter den Zahlen steckt, beschreibt der Schauspieler Tucké Royale, Mitinitiator des #actout-Manifests, in dem sich zahlreiche Schauspieler:innen outeten, so: „Ich komme aus einer Welt […], die mir nicht von mir erzählt hat. Und wenn ich […] von der Möglichkeit, ich zu sein, gehört habe, dann nur unter zwielichtigen Umständen oder in Verbindung mit Kriminalität, Gewalt oder Tod.“ In einer Realität, in der homo-, bisexuelle und trans Jugendliche vier bis sechs Mal häufiger einen Suizidversuch begehen als hetero/cis Gleichaltrige,[2] ist dieses Narrativ nicht nur schrecklich wirklichkeitsnah, sondern gefährlich. Es romantisiert und individualisiert das Leiden, als gäbe es kein Entkommen.

Woher kommt dieses Narrativ? Im Europa des 19. Jahrhunderts wird Homosexualität auf  bestimmte Weisen schreib- und sagbar: verwissenschaftlicht und voyeuristisch, pathologisierend und psychologisierend. In psychoanalytischen Fallstudien, Medizinlehrbüchern, Manifesten, Skandalblättern, Gerichtssälen äußert sich die „Lust an der Wahrheit der Lust“, am Geständnis, an der Analyse, um es mit Foucault zu sagen.[3] Eines der bekanntesten Beispiele bis heute ist der Prozess gegen Oscar Wilde. Während Wildes Werke oft auf ihren queeren Subtext hin gelesen werden, war es sein Leben, das dafür den tragischen Rahmen in der Wirklichkeit bot: Skandal, Verachtung, Verurteilung, Zuchthaus, Tod.

Auch in der Literatur wurde es nun möglich, in unterschiedlichen Graden von Offenheit über Homosexualität zu schreiben. Hier zeigt sich zum ersten Mal der enge Zusammenhang zu Leid, Tod und Verbrechen. Für die Figuren ist meist kein gutes Ende vorgesehen, oft handeln sie moralisch fragwürdig, teils verabscheuungswürdig. Die Jugendlichen in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), die ihren Mitschüler Basini foltern und vergewaltigen, kommen ohne Strafe davon; Basini, der sich in Törleß verliebt, stellt sich aus Furcht um sein Leben und wird der Schule verwiesen. Im selben Jahr erscheint Unterm Rad (1906) von Hermann Hesse, eine weitere Internatserzählung. Darin zerbricht der Protagonist Hans Giebenrath in erster Linie an Leistungserwartungen. Doch es ist der Kuss seines rebellischen, künstlerischen Freundes Heilner, der Hans‘ Abrutschen aus der protestantisch-kleinbürgerlichen Welt symbolisch einleitet. Am Ende treibt er tot unterm Mühlrad, mutmaßlich Suizid. In Thomas Manns Tod in Venedig (1912/13) erkrankt und stirbt Aschenbach an der Cholera, nachdem er sich seine Gefühle zu dem vierzehnjährigen Tadzio eingesteht. Um nicht von ihm getrennt zu werden, warnt er ihn nicht vor der Seuche. Dass Der Tod in Venedig eine Apologie der Pädophilie ist, aber bis heute oft als Beispiel für Homosexualität in der Literatur genannt wird, zeigt nicht nur den narrativen Zusammenhang von Homosexualität und „Perversion“, sondern auch, wie sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche normalisiert wurde und wird.

Queerness wird als Transgression erzählt, als Überschreitung, auf die eine Strafe folgt: Leid, Ausgestoßenwerden, Krankheit, Tod. Darin entdeckt man schnell ein Grundmuster einer moralischen Erzählung, wie wir es aus Fabeln oder Märchen kennen. Vielleicht ist es um die Jahrhundertwende kaum möglich, anders davon zu erzählen, geprägt von Stigmatisierung von Homosexualität und Transidentität, von verinnerlichten Vorurteilen und Lebenswirklichkeiten voller Angst. Die Erzählung von Queerness als Überschreitung hat drei Teilnarrative: Zuerst das offensichtliche, dass es kein Happy End gibt für Menschen, die die Normen des Begehrens oder der Identität überschreiten. Daneben gibt es zwei weitere, symbolhaftere: Überschreitung entwickelt sich zum Code für Queerness und Verbrecher:innen werden queer codiert.

Ausweglosigkeit

Das Suizid-Stereotyp entsteht am Ende des 19. Jahrhunderts und gelangt vor allem in Deutschland zu Prominenz. In ihren Kampagnen gegen den Homosexualität kriminalisierenden §175 StGB machen Magnus Hirschfeld und andere das Problem von Suiziden homosexueller Männer öffentlich und zitieren aus Abschiedsbriefen, um Mitgefühl zu wecken. Hingegen verklären maskulinistische rechtsnationale Kreise um die Zeitschrift Der Eigene den Todeswunsch als Teil einer betont maskulinen Homoerotik. In der Weimarer Zeit vermischt sich schließlich beides zu einem dominanten düster-romantischen Narrativ wie bei Klaus Mann, der viele seiner Figuren Suizid begehen lässt.[4] Aufsehen erregt der unter Hirschfelds Mitwirkung entstandene sogenannte Aufklärungsfilm Anders als die Andern. Der in den zensurfreien Monaten 1919 veröffentlichte Film erzählt von einem fiktiven homosexuellen Musiker, der erpresst wird und sich daraufhin das Leben nimmt.

Einen kleinen Lichtblick bietet Leontine Sagans Verfilmung von Mädchen in Uniform (1931). Im Film verhindern die Mitschülerinnen Manuelas Suizid, im Gegensatz zu dem Theaterstück, das als Vorlage diente, und der zwei Jahre später veröffentlichten Romanfassung. Mädchen in Uniform stellt die emotionale und körperliche Nähe der Internatsschülerinnen einer autoritären Erziehung gegenüber. Die Gute-Nacht-Küsse von Bernburgs für ihre Schülerinnen wiederum wären aus heutiger Sicht völlig inakzeptabel. Wenngleich Sagan und Winsloe noch zwei Männer an die Seite gestellt bekommen, ist der rein weiblich besetzte Film hauptsächlich das Werk von Frauen. Er hat an den Kinokassen und auch international Erfolg.

In den USA wird Mädchen in Uniform nur stark zensiert gezeigt. Dort macht der Production Code gut drei Jahrzehnte lang im Film vieles unmöglich, von Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen über Homosexualität bis hin zu politischen Themen. Entsprechend bedienen Filmemacher:innen homoerotischen Subtext und queere Codes. Als in den Sechzigern der Einfluss der Regeln aufweicht, setzen sich Filme auch mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen auseinander, gute Enden gibt es selten. Ein Beispiel, um noch einmal in ein Internat zurückzukehren, ist The Children’s Hour (1961). Die eng befreundeten Lehrerinnen Karen (Audrey Hepburn) und Martha (Shirley MacLaine) werden beschuldigt, eine Affäre zu haben, woraufhin sie alles verlieren. Als Martha erkennt, dass sie tatsächlich in Karen verliebt ist, erhängt sie sich. Karen kehrt nach der Beerdigung nicht zu ihrem Verlobten zurück, sondern macht sich allein in ein neues Leben auf.

„It is not a lie that destroys Martha; it is the awful truth“, kommentiert der Filmhistoriker Vito Russo.[5] Nicht Ächtung oder die Angst vor Strafen treiben Manuela und Martha in den Suizid, sondern die inneren Qualen, sündig, krank, falsch zu sein, das Gefühl, dass Glück unmöglich sei. Das Suizid-Narrativ sät beständig das Korn des Zweifels: Vielleicht ist es doch nicht die Gesellschaft, vielleicht bin es doch ich? Es individualisiert das Leiden bis zu dem Punkt, wo die Überschreitung des Suizidtabus weniger schlimm erscheint als die der Normen des Begehrens.

Verstecken

Da Queerness mit Überschreitung gleichgesetzt wird, dauert es nicht lang, bis die Formel auch andersherum funktioniert: Überschreitung selbst entwickelt sich zum Code für Queerness. In dem Stück Salomé inszeniert Oscar Wilde die Lust an der Überschreitung: Das Anschauen des Verbotenen. Blicke sind Transgressionen, sie gefährden Macht, objektifizieren, können töten, lösen Verlangen aus, das im Verderben endet, wie Salomés Begehren nach dem Propheten Jochanaan. Der male gaze wird umgedreht zum female gaze. Werke wie Salomé werden von Anfang an queer gelesen (auch wenn es diesen Begriff noch nicht gab), öffnen Räume für subversive Interpretationen; Codes entstehen, um die Zensur zu unterlaufen. Über die Stummfilmversion von Salomé (1923), von und mit Alla Nazimova, einer der damals bekanntesten Schauspielerinnen, hält sich die Legende, dass nur homo- und bisexuelle Schauspieler:innen beteiligt waren. Der gesamte Film ist queerer Code. Drag, Art-Deco-Kostüme (von Nazimovas Partnerin Natacha Rambova), überbetontes Spiel – und ein tragisches Ende. Salomé trifft nicht den damaligen Publikumsgeschmack und beschädigt Nazimovas Filmkarriere.

Queerness wird zum Versteckspiel: Wer die Codes von Symbolen, kulturellen Verweisen, Andeutungen, Kleidung, Verhalten deuten kann, gehört dazu. Queerness wird halb verborgen, halb enthüllt, was zwar einen gewissen Reiz verleiht, aber auch Leere hinterlässt und Sehnsucht nach dem, was nur halb besprochen und halb gelebt werden kann, weil sonst, siehe oben, Leid und Tod folgen.

Bedrohung

Wo Homosexualität ein Verbrechen ist, ist eine weitere Gleichsetzung nicht weit: Verbrecher:innen sind homosexuell. Auch sie überschreiten Grenzen – Gesetze oder die körperliche Unversehrtheit anderer –, sie sind minderwertig, abnormal, Außenseiter:innen: die Diskurse über Kriminalität, Homosexualität und Transidentität im 19. und 20. Jahrhundert weisen große Parallelen auf. Es überrascht nicht, dass Queerness in Horror und Thriller zu einem Code für Verbrechen und Gewalt wird.

Vampire symbolisieren die ultimative Transgression. Sie kommen zurück von den Toten, töten und verwandeln Menschen, verbreiten Seuchen, leben tabuisierte Erotik aus: Beißen und Bluttrinken. In dieser Kombination ist es kein Wunder, dass Vampire, insbesondere weibliche, queer geschrieben oder gelesen werden. Unzählige Filme wie Dracula’s Daughter (1936), die wie Et mourir de plaisir (1960) oft auf Sheridan le Fanus Novelle Carmilla (1872) basieren, stellen sie als gefährliche lesbische oder bisexuelle Frauen dar. Die (Blut-)Lust einer Vampirin ist queer, weil sie Frauen begehrt und/oder – wie auch Salomé – Geschlechterrollen umkehrt, wenn ein Mann von ihr überwältigt wird oder sich ihr hingibt. Vampire und Queerness gehören so fest zusammen, dass selbst Nosferatu (1922) als Parabel auf F. W. Murnaus Homosexualität gedeutet wird.[6]

Ein Meister darin, Homosexualität mit Verbrechen und Psychopathie zu verbinden, ist Alfred Hitchcock. In Rebecca (1940) verstärkt er den Subtext gegenüber Daphne du Mauriers Roman und deutet an, die Haushälterin Mrs. Danvers habe ihre verstorbene Arbeitgeberin obsessiv geliebt. Am Ende zündet sie das Haus an und stirbt in den Flammen. In Strangers on a train (1951), nach dem Roman von Patricia Highsmith, die ab 1955 mit Tom Ripley eines der bekanntesten Beispiele für den queeren Verbrecher schafft, sind die Andeutungen vage: Der Mörder trägt extravagante Kleidung, tritt ein wenig feminin auf, entwickelt eine Obsession mit einem Tennisspieler und ermordet dessen Frau. Rope (1948) ist deutlicher: Zwei Männer, die zusammen wohnen, wollen das perfekte Verbrechen begehen. Zweideutige Dialoge und Blicke deuten an, dass sie ein Paar sind – was im Gegensatz zu dem Theaterstück, auf dem Rope basiert, nicht ausgesprochen werden darf. Die bisexuellen Schauspieler wissen, welche Codes sie bedienen. Beide Filme unterstellen: Schwules Begehren führt zu Mord.

Die Verknüpfung von trans Figuren mit Mord und Verbrechen setzt sich in den siebziger Jahren durch, wie in dem Actionfilm Freebie and the Bean (1974) oder dem Thriller Dressed to kill (1980). Auch im Tatort sind von den siebziger bis zu den neunziger Jahren queere Figuren oft trans Frauen oder „Crossdresser:innen“, die sich prostituieren, morden oder ermordet werden. Doch die Kritik erstarkt. Als 1991 Das Schweigen der Lämmer zu einem großen Erfolg wird, protestieren LGBT-Gruppen gegen die erneute kriminalisierende Darstellung einer trans Figur als Serienmörderin. Doch überwunden ist dieses Ressentiment nicht. Ganz aktuell lässt es der Wiener Tatort Die Amme vom 28. März 2021 wieder aufleben. Zwar ernten die Verantwortlichen dafür auch schlechte Kritiken. Gleichzeitig schwärmt aber der Rezensent der Welt von „blankem, herrlichem Horror“ und entmenschlicht, sich voyeuristisch gruselnd, den:die Mörder:in als „Nachtmahr“, „Wesen“, „monströs und mitleiderregend“.

In seiner offensichtlichen Abwertung nimmt das Verbrechens-Narrativ am stärksten eine Außenperspektive ein. Es bezieht sich weniger auf die Ängste queerer Personen als auf die Ängste heterosexueller/cis Personen: Queerness bedroht die herrschende Ordnung. Auf der anderen Seite befriedigt dieses Narrativ die Angstlust der Zuschauer:innen an der Überschreitung. Das Bedrohliche hat oft etwas Anziehendes. Es birgt gar die Gefahr, darin eigene unterdrückte Gedanken und Gefühle zu erkennen, die das Selbstbild oder das Fremdbild in Frage stellen könnten. Je stärker die Dämonisierung, desto leichter scheint es, eine Auseinandersetzung damit zu vermeiden. Man glaubt, die Irritation, die Unsicherheit, die Erregung im Dunkel des Kinosaals oder im stillen Leseeck zurücklassen zu können.

Verlockungen

Aber man lässt sie nicht zurück. Ob man sich nun das erste Mal repräsentiert sieht, selbst wenn es als extravaganter Betrüger oder verzweifelte Schülerin ist; oder ob man alles als ein Grundrauschen von „Wissen“ über „Andere“ aufnimmt; oder ob man sicher Geglaubtes in Frage stellt. Kulturelle und mediale Repräsentationen haben Gewicht. Lange gab es nur zweieinhalb Typen queerer Figuren, die man noch dazu mit der Lupe suchen musste: flach wie ein Pappkarton, wahlweise überdreht (Schwule und trans Frauen) oder langweilig (Lesben) – oder eben düster, suizidal, verbrecherisch. Und weil leidende queere Figuren immerhin wie echte Menschen mit Gefühlen und Leidenschaften daherkommen, findet man sich leichter in ihnen wieder, kennt und versteht ihre Sehnsucht, ihre Angst, ihre Aussichtslosigkeit, wie sie etwa Salomé gegenüber Jochanaans abgeschlagenen Kopf auf dem Silbertablett in Worte fasst: „es war ein bitterer Geschmack auf deinen Lippen. […] Sie sagen, daß die Liebe bitter schmecke … Allein, was tut’s? Was tut’s?“

Zu einer Zeit, als Homosexualität gerade so sagbar war, verarbeiteten lesbische, bisexuelle und schwule Autor:innen ihre eigenen Ängste. Doch sie haben auch Werke geschrieben, die Freude und ein glückliches Ende für ihre queeren Figuren vorsehen. Bloß war für diese Erzählungen kein Platz, solange die Gesellschaft darauf bestand, dass Queerness eine unmoralische Transgression darstellte. Sie blieben unbekannt wie Bryhers autofiktionaler Roman Two Selves (1923), in dem sie erzählt, wie sie ihre Partnerin, die modernistische Schriftstellerin H. D., kennenlernt.[7] Oder sie wurden erst postum veröffentlicht wie H. D.s Romane Paint it today (geschrieben 1921, veröffentlicht 1992), Asphodel (1921-22/1992) und Her (1927/1981) oder E. M. Forsters Maurice (1913-14/1971). Forster hielt den Roman zurück wegen des Happy Ends seiner Protagonisten Maurice und Alec, die noch dazu eine Klassengrenzen überschreitende Beziehung führen. Beides schien undenkbar im Großbritannien der Zwischenkriegszeit. Werke wie diese hatten nicht die Möglichkeit, das Narrativ zu ändern. Das Glück war anstößiger als das Unglück.

Stattdessen brachten dann (mutmaßlich) heterosexuelle Regisseure queeres Leid einem großen Publikum näher – auch auf Basis von Werken queerer Autor:innen – oder beuteten homo- und transphobe Vorurteile für den Thrill aus. Vergessen wir nicht, dass viele, die heute Krimis oder Serien schreiben, mit Vorbildern wie Hitchcock und unter dem Eindruck einer Filmästhetik und Produktionskultur aufgewachsen sind, die vor und hinter der Kamera Männerbünde, sexualisierte und psychische Gewalt, nun, zelebriert. Seit Jahrzehnten fordern queere Künstler:innen Abwertungen und Ausschlüsse heraus, kämpfen sich aus der Nische ins Rampenlicht, versuchen Geld oder Publikationsmöglichkeiten für Geschichten zu bekommen, die immer noch als too much (oder vielleicht als zu wenig unglücklich?) gelten.

Es verändert sich etwas, von der Dokumentation Disclosure: Trans Lives on Screen (2020), die die Repräsentation von trans Menschen in hundert Jahren Film analysiert, bis zu den vielen Serien, die sich heute einen oder mehrere queere Subplots leisten. Doch gestorben wird immer noch oft. Derzeit ist der plötzliche Tod nach einem kurzen Augenblick des Glücks im Trend, wie in Years and Years (2019), gerne auch, um Platz zu machen für eine heterosexuelle Liebesgeschichte, wie in der dritten Staffel von Babylon Berlin (2020). Denn geübte Serienschauer:innen ahnen, dass Charlotte Ritter irgendwann mit Gereon Rath zusammenkommen muss. Die Frau, mit der Charlotte eine schöne Nacht verbringt, wird praktischerweise ermordet.

Das Leid-und-Queerness-Narrativ ist verlockend. Viel Kunst baut auf der menschlichen Erfahrung von Leid, Anderssein, tragischer Liebe auf. Queere Lebenserfahrungen sind nicht immer eitel Sonnenschein. Aber zu dreidimensionalen Geschichten gehören die schönen, hellen Seiten wie die schwierigen, dunklen. Weder das Leben noch die Liebe schmecken ausschließlich bitter.

 

[1] Vito Russo: The Celluloid Closet. Homosexuality in the movies, New York 1981, S. 52.

[2] Ester di Giacomo et al.: Estimating the Risk of Attempted Suicide Among Sexual Minority Youths: A Systematic Review and Meta-analysis, in: JAMA Pediatrics 172 (2018), 12, S. 1145–1152. https://doi.org/10.1001/jamapediatrics.2018.2731

[3] Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/Main 1983, S. 91 und S. 88f.

[4] Samuel Clowes Huneke: Death Wish. Suicide and Stereotype in the Gay Discourses of Imperial and Weimar Germany, in: New German Critique 136 (2019), 46, S. 127–166, https://doi.org/10.1215/0094033X-7214709; Heike Bauer: Death, Suicide, and Modern Homosexual Culture, in: Dies.: The Hirschfeld Archives. Violence, Death, and Modern Queer Culture, Philadelphia 2017, S. 37–56, https://www.jstor.org/stable/j.ctt1wf4dmd.6

[5] Vito Russo: The Celluloid Closet. Homosexuality in the movies, New York 1981, S. 139.

[6] Thomas Elsaesser: Das Weimarer Kino – aufgeklärt und doppelbödig, Berlin 1999, S. 185.

[7] Joanne Winning: Lesbian Modernism. Writing in and beyond the closet, in: Hugh Stevens (Hrsg.): The Cambridge Companion to Gay and Lesbian Writing, Cambridge 2010, S. 50–64, https://doi.org/10.1017/CCOL9780521888448.004

Wenn du Suizidgedanken hast, sprich darüber mit jemandem. Du kannst dich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/111 0 111 oder 08 00/111 0 222) oder www.telefonseelsorge.de besuchen.

 

Photo by Elvin Ruiz on Unsplash

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