„Die unklare Ängstlichkeit vor atmosphärischen Revolutionen“ oder Über das Lesen und Schreiben im Anthropozän

Weil ich Fichtenwälder liebe,
ging ich durch Fichtenwälder
– Franz Kafka

I miss the earth so much
– Elton John

Gegenwartsliteratur, die sich im Rahmen eines epochalen Selbstverständnisses als Literatur im Anthropozän[1] begreift, ist auf die eine oder andere Weise Literatur in Zeiten bzw. im Zeichen der Klimakrise.[2] Im Essay Die große Verblendung konstatiert der indische Schriftsteller Amitav Ghosh indes einen Mangel: „Der Klimawandel [wirft] auf die Landschaften der literarischen Fiktion einen noch wesentlich kleineren Schatten […] als auf die öffentlichen Arenen“.[3] Ghosh macht einen „merkwürdigen Widerstand“ aus, den „der Klimawandel der heute sogenannten ernsten Erzählliteratur leistet“, um zu schlussfolgern: „Die Klimakrise ist auch eine Krise der Kultur und deshalb eine der Imagination.“[4]

Im Deutschlandfunk berichtete die Journalistin Sieglinde Geisel von einer Tagung im Literarischen Zentrum Göttingen, die sich im August 2019 dem Thema „Vom Klima schreiben“ widmete. Ihre Bilanz entspricht Ghoshs Diagnose: „Ich würde sagen, den Roman zum Klimawandel gibt es noch nicht.“ Sie verweist auf in Göttingen anwesende Naturwissenschaftler wie den Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber, der der Literatur Untätigkeit vorwarf: „Der hat gesagt, ihr lasst uns im Stich, wo bleiben die Romane, wo bleibt die Matthäus-Passion, also alle Künste, wir haben die Kunst noch nie so dringend gebraucht wie heute, was ist los mit euch?” Hinsichtlich der zukünftigen Entwicklungen hält Geisel fest: „Das Problem ist ja, dass man diese Literatur nicht bestellen kann.“[5]

Angebot und Nachfrage in Zeiten der Klimakrise

Dieser Satz lässt sich umformulieren: Das Problem liegt nicht darin, diese Literatur nicht bestellen zu können, sondern darin, sie nicht bestellen zu sollen. Mit der Herausbildung einer Marktstruktur inkl. Produzierenden, Distribuierenden und Konsumierenden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die (europäische) Literatur zu einer ökonomischen Angelegenheit geworden.[6] Die Entwicklung setzt sich bis heute fort. Das heißt auch: Wer Literatur als ein exklusiv ästhetisches oder imaginäres Phänomen betrachtet, ist mit Blindheit geschlagen bezüglich der ökonomischen (und sozialen)[7] Bedingtheiten, auf denen eine Idee wie das Schöne oder das Erfundene fußt.[8] Der Ruf nach einer neuen Imagination im Hinblick auf einen terrestrischen Notstand ist an dieser entscheidenden Stelle widersprüchlich: Das Prinzip, das die Klimakrise (mit-)verursacht hat, wird angewendet, um eben diese zu fassen zu kriegen. Die Argumentationen folgen einer Angebot-Nachfrage-Logik, laut der Literatur ein Service-Produkt ist, ein Bildgebungsverfahren, das ins Regal gehört.

An dieser Stelle möchte ich einsetzen, um einen anderen Weg auszuprobieren. Der Vorschlag soll keiner moralistischen Norm der Entsagung Folge leisten, die gerade zu oft zu laut propagiert wird. Es geht nicht darum, analog zum Fleisch- einen Schreibverzicht umzusetzen. Eine Gesellschaft braucht neue Gedanken in neuen Texten – aber auch Verfahren, um alte Texte zu lesen. Es geht um einen devianten Modus, sich mit Literatur im Anthropozän, das auch als „Kapitalozän“[9] zu begreifen ist, auseinanderzusetzen, und dabei die Selbstwidersprüche westlicher Lebensweisen ernst zu nehmen – und sei es nur für die Dauer eines Textes.

Die Relektüre als Möglichkeit einer Emanzipation

Die Relektüre bietet die Möglichkeit, eine Praxis der Literatur einzuüben, die abseits der kapitalistischen Mechanik operiert. Wer Slogans mag: Es geht um die Nachhaltigkeit der Literatur, um Reusing, um Recycling, das als eine „practice of emergency“ betrachtet werden kann. Das Konzept entstammt den sog. Ecopoetics, die sich damit beschäftigen, wie sich Mensch-Umwelt-Beziehungen als künstlerische Konstellationen umsetzen lassen. Der Herausgeber Jonathan Skinner hat den Begriff der Notfallpraxis 2012 vorgeschlagen; die Philologin Margaret Ronda versteht darunter Werke und Tätigkeiten, „that emphasize ecological interrelationality and complicity in environmental destruction, and often explore collective feelings of vulnerability, hopelessness, and dread“.[10]

Die Relektüre ist insofern anti-systematisch, als sie sich dem Produktionsparadigma entzieht. Wer das Anthropozän als Phänomen begreift, das alle lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten auf den Prüfstand stellt, muss schließlich auch die Formen der literarischen Produktion und Rezeption hinterfragen. Eine solche Funktionalisierung ist nicht innovativ; ihr emanzipatives Potential wird längst genutzt, etwa in der feministischen Reihe Re-Reading the Canon, in der maßgebliche Texte der westlichen Philosophie-Tradition unter die Lupe genommen werden. Mit Steffen Richter lässt sich analog dazu festhalten: „Das Anthropozän – und das ist eine zentrale Erkenntnis – ist in literarischer Hinsicht weniger als Epoche interessant, als dass es eine Perspektive auf historische, aktuelle und zukünftige Texte eröffnet.“[11]

Dieser Text plädiert für eine Umkehr der Leserichtung. Die retrospektive Bewegung ist dabei nicht als reaktionär zu erachten, sondern stellt sich in den Dienst einer prospektiven Epistemologie. Hierzu eignen sich wegen ihrer Bedeutungsoffenheit Kunstwerke besonders: Sie lassen sich stets neu begehen. Ein Bonus dieser Methode mag darin liegen, dass die alarmistischen Debatten, die die nüchterne Argumentation zugunsten einer Mobilisierung von Empörung in den Wind schlagen, diesen Zeugnissen nicht eingeschrieben sind. Also: Hat Jules Verne in Der Einbruch des Meeres maritime Effekte der Klimakrise vorweggenommen? Lässt sich Friederike Mayröckers Gedicht [wird welken wie gras] als Drohbild kommender Desertifikationen lesen?

Die kommende Trauerarbeit. Über ein Gedicht Friederike Mayröckers

Das titellose Gedicht (1947) ist inspiriert von Johannes Brahms Ein deutsches Requiem, das ab 1861 entstanden ist und dessen Chorus wie folgt lautet: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras / und alle Herrlichkeit des Menschen / wie des Grases Blumen. / Das Gras ist verdorret /
und die Blume abgefallen.“ (Diese Verse beziehen sich wiederum auf 1. Petrus 1,24.)

Wird welken wie gras – auch meine Hand und die Pupille
wird welken wie gras – mein Fuß und mein Haar mein stillstes Wort
wird welken wie gras – dein Mund dein Mund
wird welken wie gras – dein Schauen in mich
wird welken wie gras – meine Wange meine Wange und die kleine Blume
die du dort weißt wird welken wie Gras
wird welken wie Gras – dein Mund dein purpurfarbener Mund
wird welken wie Gras – aber die Nacht aber der Nebel aber die Fülle
wird welken wie Gras wird welken wie Gras[12]

Alle Verse sind für sich genommen ein Lebens- und Sterbezyklus en miniature: Einem Gegenstand oder einer Tätigkeit wird prophezeit, abzusterben. Mit dem darauffolgenden Vers wiederholt sich die Vorhersage einer Dekadenz, mal ist die Hand gemeint, dann der Mund oder das Schauen, schließlich die Nacht. Das ist der regenerative Clou des Textes: Jeder Vers setzt mit dem Wissen ein, dass es wieder Gras gibt, Gras, das erneut welken kann, nachdem der vorherige Vers es im Rahmen eines Vergleichs hat vertrocknen lassen. Der Text zieht seine Dynamik aus der Idee einer intakten Natur, deren Wirkkraft sich in den Phasen von Blühen und Absterben zeigt. Ohne die Garantie einer solchen zyklischen Vitalität käme das lyrische Sprechen in [wird welken wie gras] zum Erliegen.

An dieser Stelle der Relektüre wird die Trauer, die dem Gedicht eigen ist, für die Leserschaft zur Ressource: Die Trauer bezieht sich nicht nur auf die Vergänglichkeit des Körpers, wie Mayröckers lyrisches Ich sie inszeniert, sondern auch auf die Vergänglichkeit des Verständnisses einer gesund(end)en Natur, das uns blindlings getröstet hat. Dabei spielt die Zeitform des Futurs, die [wird welken wie gras] organisiert, eine wichtige Rolle. Bei Mayröcker wird die Gegenwart im Hinblick auf die kommende Dürre gepriesen: Weil der Körper wie Gras welken wird, müssen wir ihn heute feiern.

Wenn aber die Natur nicht kollabieren wird, sondern im Hier und Jetzt kollabiert, bleibt uns für diese Feier des Lebens keine Zeit mehr. Die Zukunft des Textes ist zur Gegenwart der Leserschaft geworden. Denn die zyklischen Sicherheiten der Natur, in denen wir uns eingerichtet haben, sind nicht mehr unumstößlich. Einer ökologischen Trauer im Anthropozän eignet infolgedessen eine zusätzliche Qualität: „[T]he more radical idea of nature’s end demands an emphasis on what is not, on the negative workings of creative imagination in light of a concept’s withering-away.”[13]

Just dieses Verkümmern eines Konzepts nötigt einen dazu, ein alternatives Naturverständnis zu entwickeln, das anti-regenerative Mechanismen miteinschließt. Anders ausgedrückt: Es geht darum, tipping points in den Blick zu nehmen. Sie sind strukturell betrachtet das Gegenteil dessen, was Mayröckers Gedicht Halt gibt: Es gibt keinen Kreislauf; es ist unmöglich, eine Szene zu reproduzieren oder zu konservieren. Der Begriff ist durch und durch fatalistisch, schließlich trennt er eine Zeitspanne in ein (gutes) Davor und ein (schlechtes) Danach. Wenn die Eiskappen eine bestimmte Schmelzdynamik entwickeln, ist sie unumkehrbar, selbst wenn man nach dem Erreichen des tipping points die Bedingungen herstellt, die erforderlich gewesen wären, um das Abschmelzen vor dem tipping point zu verhindern.

In Juliana Spahrs Gedicht Gentle Now. Don’t Add to Heartache von 2005 gibt es einen solchen Kippmoment. Margaret Ronda stellt das Gedicht, das als Schlüsseltext der ecopoetics gilt, im bereits angeführten Aufsatz vor. Auf den ersten Teil des Gedichts, der ein paradiesisches Leben in der Nähe eines Flusses imaginiert, folgt ein tipping point: Das Sprechen wird elegisch, die Verben stehen nicht mehr in der Gegenwarts-, sondern in der Vergangenheitsform. Dieser zweite Teil entspricht dem biblischen Narrativ einer selbstverschuldeten Vertreibung aus einer Natur, die, zerstört und verschmutzt, wie sie jetzt ist, kein Obdach mehr bietet. Die Lektüre Spahrs ebenso wie die Relektüre von Mayröcker ist nicht ohne Melancholie zu haben, weil beide eine Erfahrung des Verlusts thematisieren. Weder Rettung noch Regeneration sind in Sicht, und es bleibt nichts zu tun, als sich der Elegie hinzugeben: „I did not sing I see, I see. / I did not sing wo, wo!“[14]

„Woher kam dieses Wasser?” Über einen Roman Jules Vernes

In Jules Vernes Roman Der Einbruch des Meeres (L’invasion de la mer, 1905) will ein Konglomerat aus europäischen Händlern, Ingenieuren und Politikern ein Talgebiet in Nordafrika fluten, um das sog. Saharameer anzulegen.[15] Die gesamte Topographie würde sich ändern, was neben ökonomischen auch militärische und politische Veränderungen nach sich zöge. Es war Vernes letzter Roman, zum Zeitpunkt der Niederschrift war er gesundheitlich angeschlagen. (Es wird angenommen, dass sein Sohn Michel an der Redaktion beteiligt war.) Das Buch wartet mit vielem auf, was Vernes Texte beliebt machte: mit einem rigiden Fortschrittsglauben inkl. Lobliedern auf technische Errungenschaften, dem Erfolgsversprechen westlicher Expeditionen, dazu kolonialistischen Portraits indigener Bevölkerungen.

Der Roman ist mittelmäßig, seine trivialen Prinzipien sind von Beginn an einsichtig: Die Europäer bringen die Zukunft, die Einheimischen lehnen sich auf, aber ihre rückständige Revolte lässt sich brechen, am Ende gelingt das zivilisatorische Projekt. Alle dürfen sich freuen, die Ingenieure, die bekehrten Einheimischen, die Leserschaft. Aber schon der erste Satz verspricht, dass hier etwas anderes zu holen ist: „Ja … was weißt du nun?“, fragt ein Stammeskrieger, um zu erfahren, wo der Anführer einer aufrührerischen Touareg-Gruppe festgehalten wird. Es geht immer wieder um Wissenspraktiken, darum, Unwägbarkeiten in den Griff zu bekommen: Wie wird sich das Mittelmeer, das durch einen 150 Kilometer langen Kanal fließen soll, im Tal ausbreiten? Wird das neue Klima die Oasen intakt lassen? Wie verhalten sich die Ansässigen, wenn das Wasser kommt?

Gut ist nur der Schluss. Auf der Suche nach einem Nachtlager bemerkt die Expedition, dass etwas nicht stimmt: „Der Boden wurde immer schlechter. Seine Kruste brach zuweilen unter dem Fuße, und dann glänzte der Sand herauf, aus dem das darin enthaltene Wasser hervorquoll. Manchmal geriet man bis ans Knie in das halbflüssige Gemisch, und es kostete Mühe, sich daraus wieder zu befreien.“ Die Truppe rettet sich auf einen Hügel und verbringt die Nacht in ängstlicher Neugierde. „Es gewann den Anschein, als ob hier plutonische und neptunische Naturkräfte miteinander unter dem Schott im Kampfe lägen und dessen Boden mehr und mehr veränderten.“ Am nächsten Morgen geht das erratische Naturspektakel weiter: Eine Herde Tiere, „reichlich vierhundert Raubtiere und Wiederkäuer, Löwen, Gazellen, Antilopen, wilde Schafe und Büffel“, prescht vorbei. Den Figuren fehlt das Verständnis, um diesen Aufruhr zu begreifen. Sie sind erstaunte und erschreckte Beobachter: „Was, zum Kuckuck, geht denn überhaupt da draußen vor?“… „Ja … was kann da geschehen sein?“ … „ Sollten die Tiere auf uns zugestürmt kommen? “ … „ Und wohin könnten wir dann fliehen? “

Später rollt eine Flutwelle heran, die durch seismische Bewegungen ausgelöst wurde und die Gegend in ein Binnenmeer verwandelt. Selbst das Erdbeben als Naturkatastrophe fügt sich bei Verne in das Narrativ zivilisatorischen Gelingens: Die Expedition überlebt, während das Wasser die fliehenden Touareg-Reiter verschluckt. Später schlängelt sich als deus ex machina ein Dampfer heran, um den Trupp zu retten. Der Chefingenieur Schaller empfiehlt lachend, sich schleunigst Aktien des Saharameers zu sichern. Das Kapital siegt, das Kapitel endet.

Der Einbruch des Meeres wird dann interessant, wenn man den Text gegen den Strich liest. Es gilt heute, den Einbruch des Meeres zu verhindern, nicht herbeizuführen. Es gilt küstennahe Habitate zu schützen, nicht deren Bewohner*innen zu vertreiben. Es gilt solidarische Wissenspraktiken einzuüben, die auf Fragen wie „Und wohin könnten wir dann fliehen?“ oder „Woher kam das Wasser?“ andere Antworten geben. Denn es ist eine miese Fantasie, zu hoffen, später zu denjenigen zu gehören, die auf einem Hügel sitzen, auf Rettung warten und dabei einer Ideologie anhängen, die für jene Krise mitverantwortlich ist, die allmählich alle überall heimsucht.

In Vernes Roman meint der Mensch indes, in einer Landschaft, die eine andere geworden ist, derselbe bleiben zu können. Gespeist wird der Narzissmus von einer technokratischen Imagination: Der Damm, die Bagger, der Kanal, der Dampfer – alles ist zu Diensten. Damit lässt sich die Umwelt dominieren. Gerade wegen ihrer Naivität ist diese idée fixe, die innerhalb der Fiktion belohnt wird, außerhalb derselben zu hinterfragen. Im Anthropozän findet sie ihre Weiterführung im Geo- bzw. Climate Engineering, in der Idee, mit technischen Eingriffen das Klima zu verändern. Dazu zählen Spiegel im All, reflektierende Aeresole oder subterrane CO2-Speicherung. Der Geograph Hans Gebhardt weist auf die Dialektik des Konzepts hin: „Umwelt- und Klimaschutz werden bei Climate Engineering zu einer ,technischenʻ Möglichkeit, um die Folgen von ,Technikʻ zu reduzieren.“[16]

„Ja, wer kann mit Sicherheit in der Zukunft lesen?“, fragt Schaller sich zwischendurch. „ Unser Planet hat ja, das unterliegt keinem Zweifel, schon die außerordentlichsten Ereignisse gesehen, und ich leugne nicht, daß jener Gedanke mich, ohne gerade belästigend zu wirken, doch recht oft beschäftigt.“ Das Anthropozän ist gewissermaßen die zur Metapher gewordene Beschäftigung mit dem Planetarischen. Während Schaller & Co ihre ausbeuterische Tätigkeit noch zur Wohltat verklären konnten, ist die human agency mehr als ein Jahrhundert später problematisch geworden. Welche „außerordentlichen Ereignisse“ stehen bevor? Und wie werden wir ihnen begegnen? Eins steht jedenfalls fest: Die kommenden Naturkatastrophen werden sich nicht fügen in Vorstellungen eines neurotisch fortschrittlichen Plots.

So steht am Ende erneut die Melancholie – und ein letztes Lesen gegen den Strich: In Der Einbruch des Meeres folgten wir fast durchgängig der Perspektive der Überheblichen, Unbekümmerten und Machtversessenen. Aber was ist mit den vielen anderen inner- und außerhalb des Buches? Mit denjenigen, die vor Wassermassen fliehen, vor Dürren flüchten und vor Bränden Reißaus nehmen müssen? Dorthin kann die literarische Tätigkeit im Anthropozän, egal ob sie als eine lesende oder schreibende gedacht wird, ihren Blick im Rahmen einer „practice of emergency“ richten, dort kann sie sich aufrichten:

[1] Vgl. zur Begriffskritik Hans Gebhardt: Das „Anthropozän“ – zur Konjunktur eines Begriffs. In: Heidelberger Jahrbücher Online (1/2016), S. 28-42 sowie Helmuth Trischler: Zwischen Geologie und Kultur. Die Debatte um das Anthropozän. In: Anja Bayer u. Daniela Seel (Hgg.): All dies hier, majestät, ist deins. Lyrik im Anthropozän. Berlin 2016, S. 268-286, hier S. 268f.

[2] Axel Goodbody spricht davon, dass „der Begriff ,Anthropozänʻ über rein Geologisches hinaus zur Chiffre geworden [ist] für sämtliche Herausforderungen planetarischen Ausmaßes, die aus Umweltveränderungen hervorgehen – ob kultureller, ethischer, ästhetischer, philosophischer oder politischer Art“ (Axel Goodbody: Naturlyrik – Umweltlyrik – Lyrik im Anthropozän. Herausforderungen, Kontinuitäten und Unterschiede. In: Bayer u. Seel: All dies hier, S. 287-305, hier S. 288).

[3] Amitav Ghosh: Die große Verblendung. Der Klimawandel als das Undenkbare. Aus dem Englischen von Yvonne Badal. München 2017, S. 16.

[4] Ebd., S. 18 u. 19.

[5] Das Gespräch mit Sieglinde Geisel ist einsehbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/climate-fiction-co-der-klimawandel-als-randthema-in-der.1270.de.html?dram%3Aarticle_id=458378.

[6] Als der Geologe Paul J. Crutzen 2002 den erstmals im Jahr 2000 von ihm und dem Biologen Eugene F. Stoermer vorgeschlagenen Begriff des Anthropozäns in einem Heft von Nature erläutert, schreibt er: „The Anthropocene could be said to have started in the late eighteenth century, when analyses of air trapped in polar ice showed the beginning of growing global concentrations of carbon dioxide and methane.“ (Paul J. Crutzen: Geology of mankind. In: Nature Vol. 415 [03.01.2002], S. 23). Es ist dieselbe Zeitspanne, die für die Entstehung europäischer Literaturmärkte veranschlagt wird, vgl. dazu Thomas Wegmann: „Liebe Kindlein, / Kauft ein!“ Zum bilateralen Verständnis von Literatur und Markt um 1800, einsehbar unter: https://literaturkritik.de/id/20091#_ftnref19.

[7] Katharina Herrmann: Literatur. In: Leander Steinkopf (Hg.): Kein schöner Land. Angriff der Acht auf die deutsche Gegenwart. München 2019, S. 95-120.

[8] Eine beeindruckende Studie dazu, wie stark die Literaturproduktion kapitalistischen Erwägungen folgt, hat der US-amerikanische Literatursoziologe Clayton Childress mit Under The Cover vorgelegt. Vgl. für den deutschen Literaturmarkt Philipp Schönthaler: Schreiben im Zeichen des Geldes. In: Volltext 04/2018, einsehbar unter: https://volltext.net/texte/philipp-schoenthaler-schreiben-im-zeichen-des-geldes/.

[9] Donna Haraway: Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chtulucene. Making Kin. In: Environmental Humanities (6/2015), S. 159-165, einsehbar unter: http://environmentalhumanities.org/arch/vol6/6.7.pdf.

[10] Margaret Ronda: Mourning and Melancholia in the Anthropocene. In: Post45, o. P., einsehbar unter: http://post45.research.yale.edu/2013/06/mourning-and-melancholia-in-the-anthropocene/.

[11] Steffen Richter: Die große Erzählung. Literarische Narrative des Anthropozäns. In: Dritte Natur 1 (01.2018), S. 145-155, hier S. 153.

[12] Friederike Mayröcker: Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main 2003, S. 33.

[13] Ronda, o. P.

[14] Ebd.

[15] Das französische Original ist im PDF-Format einsehbar unter: https://beq.ebooksgratuits.com/vents/Verne-invasion.pdf. Das Zitat im Titel ist dem Roman entnommen. Die zitierte Fassung ist einsehbar unter: https://gutenberg.spiegel.de/buch/der-einbruch-des-meeres-9313/1. Das Bild am Artikelende ist der französischen Erstausgabe von 1905 entnommen.

[16] Gebhardt: Das „Anthropozän“, S. 31. Die Idee eines guten Anthropozäns, in dem das Climate Engineering die negativen Effekte der Klimakrise verhindert, ja sie sogar durch positive Maßnahmen konterkariert, wird äußerst kritisch betrachtet. Die Allmachtsfantasie, die dahinter steckt und die u. a. Vernes Roman speist, ist ein Auslöser, nicht die Lösung des Problems. Vgl. Clive Hamilton: The Theodicy of the „Good Anthropocene“. In: Environmental Humanities (7/2015), S. 233-238, einsehbar unter: http://www.environmentalhumanities.org/arch/vol7/7.14.pdf.


In einer ersten Fassung ist dieser Beitrag erschienen in: Forum (Heft 401), Zeitschrift, für Politik, Gesellschaft und Kultur. (https://www.forum.lu/)

Beitragsbild von Sebastian Unrau über Unsplash

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