Die Freiheit, Last und Unmöglichkeit „Ich” zu sagen – Ein Gespräch über das Schreiben zwischen Identitätsdiskursen und Buchmarkt

Ein Beitrag von Asal Dardan, Berit Glanz und Simon Sahner

Im Frühjahr 2014 startete Florian Kessler mit dem Vorabdruck eines Anthologie-Beitrags eine Debatte in der ZEIT, in der er die Zusammensetzung der Studierendenschaft an der noch jungen Schreibschule in Hildesheim und an dem bereits 1955 gegründeten Literaturinstitut in Leipzig kritisierte und die Studierenden demselben saturierten Milieu” zuordnete. Auch wenn Kessler selbst mittlerweile etwas zurückgerudert ist und seine Thesen als hölzerne Polemik” bezeichnet, so hat die als Arztsohn-Debatte bekannt gewordene Diskussion doch einigen Nachhall erzeugt, stellt sie doch konkrete Fragen nach der Diversität der Autor*innen an Schreibschulen, die als Nachwuchs wesentlich die Gegenwartsliteratur beeinflussen. Eben diese Diversitätsfrage brannte im Juli 2017 wieder auf, als zunächst am Hildesheimer Institut und anschließend  in Beiträgen auf dem Blog der Zeitschrift Merkur eine Debatte zu Sexismus an Schreibschulen begann, die in den sozialen Medien mit dem Hashtag #WriteWhatWeKnow versehen wurde. Anhand dieses Schreibschulmantras, das in zahlreichen Schreibratgebern und Leitfäden eine zentrale Position einnimmt und dementsprechend intensiv diskutiert wird, wollen wir uns zu dritt darüber austauschen, was das Paradigma, nur darüber zu schreiben, was man kennt, für Schreibende bedeutet und welche Auswirkungen es auf Literatur und Buchmarkt hat. Wir haben uns entschieden, dieses Thema als Dialog zu bearbeiten, weil wir uns sicher sind, dass auch Fragestellungen, die eine Meta-Ebene der Literatur- und Literaturbetriebskritik betreffen, am besten aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet werden. Gerade der Austausch untereinander hat erheblich zur Schärfung unserer eigenen Überlegungen beigetragen.

BERIT:
Das Verhältnis der Autor*innenbiographie zu den produzierten literarischen Texten ist im Jahr Zehn nach Knausgaard in aller Munde. Besonders in den identitätspolitisch aufgeheizten Debatten der letzten Monate müssen auch Schreibende es sich gefallen lassen, dass literarische Texte in ein Verhältnis zu ihrer Identität gesetzt werden. Dieses Verhältnis wurde in der Arztsohn-Debatte bereits implizit mitgedacht, könnte man doch auf Kesslers Feststellung eines saturierten Herkunftsmilieus der Schreibschüler*innen auch entgegnen, dass nicht nur die individuelle Identität der Schreibenden, sondern auch das Konzept eines Autors Konstrukte sind, die nicht notwendigerweise Einfluss auf die Rezeption eines Textes haben sollten. Dieser Konflikt zwischen einem identitätsorientierten und einem konstruktivistischen Zugang zu literarischen Texten wurde erst kürzlich im New Yorker diskutiert:

If it is a game, then, does it really matter who wrote it? The old literature-professor response was that authorship, like identity, is a construction, and so it doesn’t. The response of what Miller calls “the new identitarians” is that we should not accept representations of experiences that the author could not have known, and so it does. Both arguments are provocations. They should get us thinking about what we mean by things like authenticity and identity.”
(Louis Menand: Literary Hoaxes and the Ethics of Authorship.” New Yorker, 10.12.2018)

Das Schlachtfeld von Identität, Wirklichkeit, Narration, Rezeption, Authentizität, Wahrheit und dem narrativen Eigentumsrecht von Individuen und Gruppen verdient es also näher betrachtet zu werden, möchte man nicht bei einem schlichten write what you know” verharren.  

SIMON:
Es zeigt sich vor allem deutlich, dass – unabhängig von dem Grund, aus dem eine Person sich selbst oder einen Teil ihrer Identität zum literarischen Thema macht – ein gesteigertes Interesse an vermeintlich authentischen Geschichten besteht und dass es sich bei dem Wunsch nach Authentizität offenbar um ein aktuelles Paradigma des deutschsprachigen Literaturbetriebs handelt, das sich auch in einigen anderen Ländern deutlich wiederfindet. Nicht allein das Phänomen Knausgaard, der offensichtlich autofiktional schreibt – der Untertitel der deutschen Ausgabe Das autobiographische Projekt suggeriert gar eine autobiographische Lesart – sondern auch der große Erfolg, den Elena Ferrante mit ihren Romanen in den USA und Europa erfahren hat, sind ein Beispiel dafür, dass der Wunsch nach Erzählungen, die in Bezug zu ihrem*r Verfasser*in stehen, sehr groß ist. Das zeigt sich gerade bei Romanen wie denen von Ferrante, die anders als die Werke von Knausgaard nicht ganz so offensichtlich eine autofiktionale Lektüre forcieren. Doch obwohl es sich hier deutlicher um einen Roman, einen also per Definition fiktionalen Text handelt, wurde schnell die Vermutung angestellt, es handele sich um die Geschichte der Autorin, was auch damit zusammenhing, dass durch Verschleierung ihrer Identität ein großes Augenmerk auf die Identität der Verfasserin selbst gelegt wurde. Um ein letztes Beispiel zu nennen: auch der Umgang mit dem Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen von Lukas Rietzschel, der im Zuge der Marketingkampagne des Verlags in ein direktes Verhältnis zu seinem Roman gestellt und zum vermeintlichen Experten in der Frage zur Entstehung und Verbreitung rassistischen und neo-nazistischen Gedankenguts in den neuen Bundesländern erklärt wurde, weist auf ein Bedürfnis hin, den literarischen Text durch die Brille der Autor*innenidentität wahrzunehmen. Dieses erkennbare Suchen nach autobiographischen Hintergründen von an sich fiktionalen Texten, wird einerseits vom Literaturbetrieb dankend als Möglichkeit zur Aufmerksamkeitserzeugung aufgegriffen, und andererseits befeuert es das Entstehen von Texten, die eine solche Lesart ermöglichen.

 

Die Freiheit, Ich” zu sagen

In those days, in the late 1970s, nearly all of the children’s literature that was available in Moroccan bookstores was still in French. The characters’ names, their homes, their cities, their lives were wholly different from my own, and yet, because of my constant exposure to them, they had grown utterly familiar. These images invaded my imaginary world to such an extent that I never thought they came from an alien place. Over time, the fantasy in the books came to define normalcy, while my own reality somehow seemed foreign. Like my country, my imagination had been colonized.”
(Laila Lalami: So To Speak, World Literature Today, September 2009)

BERIT:
Diese von Simon angesprochene aktuelle häufig anzutreffende Rezeption von Romanen mit übergroßem Fokus auf die Verfasser*innen zieht einige Fragen nach sich. Im Spannungsfeld aktueller identitätspolitischer Debatten wird oft über das Eigentumsrecht von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen an ihrer Geschichte gesprochen, hierbei geht es vor allem darum, welches Recht Schreibende haben eine Geschichte zu erzählen. Darf beispielsweise ein deutscher Autor eine Geschichte aus der Perspektive einer syrischen Geflüchteten erzählen? Mit welchem Recht können Autor*innen die traumatischen Erlebnisse bestimmter Gesellschaftsgruppen aufgreifen und fiktional verarbeiten? In der Vergangenheit gab zu diesem Problemfeld einer möglichen narrativen Enteignung einige große Skandale. Johannes Franzen schreibt dazu:

Auch die fiktionale Verarbeitung bestimmter Stoffe unterliegt also einem Autorisierungsgebot, das nur durch biographische Betroffenheit erfüllt werden kann.”
(Johannes Franzen:
Indiskrete Fiktionen. S. 333)

Dieses Eigentumsrecht lässt sich insofern um die Forderung erweitern, dass Gruppen von Menschen, die bisher im Literaturbetrieb kaum eine Chance dazu bekamen, ihre Geschichten selbst erzählen sollten. Obwohl einige Autor*innen mit dem Verweis auf die Freiheit der Fiktion das Argument vertreten, dass beispielsweise auch ein weißer männlicher Autor aus der Perspektive einer jungen schwarzen Frau schreiben darf, denke ich, dass es ein starkes Argument dafür gibt, eine Vielfalt an Stimmen direkt zu Wort kommen zu lassen. Das Recht auch literarisch Ich” zu sagen, das Recht auf Nabelschau und auf Thematisierung der subjektiven Identität wurde ja in einem Literaturbetrieb, der lange wesentlich die Texte weißer Männer veröffentlichte und kanonisierte, großen Gesellschaftsgruppen vorenthalten.

SIMON:
Das spricht einen wichtigen Punkt an. Es geht in dieser Frage ja nicht darum, dass alle Ich” sagen, sondern darum, dass Menschen, die Gruppen angehören, die bisher wenig bis gar nicht literarisch zu Wort kamen, ihrer eigenen Geschichte eine Stimme geben. Niemand wird fordern, dass der sogenannte alte weiße Mann endlich seine Geschichte aufschreibt. Im Gegenteil, die Forderung, dass bisher kaum vernehmbare Stimmen mit ihren Erzählungen Ich” schreiben, impliziert auch eine Absage an das Ich” der weißen Männer. Ebenso ist das vermeintliche Verbot, die Perspektive anderer einzunehmen, auch – zurecht – kein ausgeglichenes. Aus dem Blickwinkel einer anderer Person zu schreiben, ist immer eine Machtgeste. Man eignet sich die Gedanken, Emotionen und die Sprache eines anderen Menschen an und äußert gleichzeitig, dass man in der Lage sei, diese adäquat wiederzugeben. Mit Blick auf die Vergangenheit ist eine solche Machtgeste eines weißen Mannes gegenüber eines Menschen, aus einer gesellschaftlich weniger privilegierten Gruppe, problematisch. Aus einer ethischen Perspektive werden damit gerade weißen Männern, also auch mir, berechtigterweise Möglichkeiten des fiktionalen Erzählens genommen – das Spektrum möglicher Geschichten aus der Feder weißer Männer wird kleiner.

ASAL:
Das Spektrum wird in der Tat kleiner, weil nun alle, also auch die weiße, männliche Stimme, die bisher als Autorität für fast alles gelten konnte, auf sich selbst und ihre Limitationen zurückgeführt werden. Das ist verständlicherweise ein schmerzlicher Prozess für den Einzelnen. Doch den Schmerz, nicht immer und überall Gehör zu finden, nicht zu jedem Thema sprechen zu dürfen oder auf das reduziert zu werden, was man ist, den kennen bisher marginalisierte Menschen nur zu gut. Nun teilen wir diesen Schmerz – das ist auch eine Geschichte, die man erzählen kann.

Niemand braucht ein Sprachrohr, stattdessen bedarf es Zugang zu einem Publikum, das hören und lesen möchte. Aber diese Geschichten müssen von jenen, deren Stimmen bisher keinen Raum fanden, auch erst einmal entdeckt werden. Sie müssen ihr eigenes Vokabular finden, neue Bilder entwerfen, andere literarische Wege einschlagen. Das Ich” findet nämlich nicht nur Ausdruck in neuen Geschichten, es muss sich eine ganze Sprache zu Eigen machen und sich von den bestehenden Narrativen befreien. Meine Geschichte lässt sich nicht erzählen wie die von Wolfgang Herrndorf, ebenso wie meine Geschichten sich nicht wie seine anhören werden. Das ist eine immense Herausforderung für die Schreibenden, ebenso wie für den Literaturbetrieb und die Leserschaft, die sich öffnen und umgewöhnen müssen. Sucht der Literaturbetrieb jedoch nur Menschen, die bestimmte neue Kriterien erfüllen, sich aber in die tradierten Marketingmuster und den etablierten Habitus drängen lassen, dann haben wir vielleicht etwas mehr Abwechslung bei den Identitätsentwürfen, aber eine Veränderung der Machtverhältnisse findet damit noch lange nicht statt. Der Markt verleibt sich ja nur zu gern Neues ein, reduziert dabei aber die Komplexität von Themen und Lebenswelten. Diese Gefahr sehe ich derzeit bei all den Büchern, die zu stark auf die Person und Biografie der Autor*innen zurückgeführt werden. Das kann man den Schreibenden nur selten vorwerfen, sie wollen schreiben, sie wollen gehört werden und sie wollen vor allem auch von etwas leben. Die Frage ist, wie viele von ihnen veröffentlicht und gelesen würden, wenn sie sich stärker widersetzten und versuchten, über etwas zu schreiben, das nicht auf den ersten Blick in ihren Gesichtern, Körpern und Biografien abgelesen werden kann.

 

Die Last, Ich” sagen zu müssen

Ein Schriftsteller, der über Dinge schreibt, die er nicht kennt, ist wie ein Stierkämpfer, der die Bewegungen macht, ohne daß ein Stier da ist.”
(William S. Burroughs über Jack Kerouac, zitiert nach Jörg Fauser: „Die Legende des Duluoz.” In: Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten von 1959 – 1987, Berlin 2014, S. 391)

BERIT:
Als Saša Stanišić 2014 seinen Roman Vor dem Fest veröffentlichte, wurde er von Maxim Biller in der ZEIT für seinen antibiografischen Themenwechsel” kritisiert. Am 31. Mai 2016 begründete Biller in der taz seine Kritik folgenderweise:

Weil er keine Ahnung von der Uckermark hat – und wenn, dann nur wie ein Tourist, wie ein siebengescheiter Reiseschriftsteller. Er war natürlich richtig sauer auf mich. Es gibt immer wieder Menschen, die nach Deutschland kommen, und die wollen dann unbedingt dazugehören. Aber wenn sie älter werden, werden sie schon merken, dass das nicht funktioniert. Statt aus der Not eine Tugend zu machen, versuchen sie sozusagen ihre Gesichter weiß zu malen.”

Ich frage mich jedoch inzwischen, ob sich aus diesem Recht an der eigenen Geschichte umgekehrt auch eine Verpflichtung auf das Erzählen eben dieser Geschichten ableitet. Wenn Maxim Biller seine Kritik an Saša Stanišićs Uckermark-Roman damit begründet, dass dieser keine Ahnung von der Uckermark haben könne und stattdessen anerkennen müsse, dass er nicht dazu gehöre, dann wird eben ein Schriftsteller anhand eines sehr engen biographischen Rahmens auf eine Geschichte festgelegt und ihm so letztlich auch die Freiheit genommen, andere Geschichten zu erzählen als die eigene.

ASAL:
Kein Mensch hat bloß eine Geschichte zu erzählen und vielleicht ist jene, die er über sich selbst zu erzählen hat noch nicht einmal die beste. Billers Kritik an Stanišić besteht allerdings aus einer literarisch-ästhetischen und einer politischen Ebene, die nicht unbedingt zusammen gehören. Zum einen steht die Frage im Raum, welche Geschichten man erzählen darf und soll, wie viel von einem selbst in diesen Geschichten sein muss. Was bedeutet es schon, eine Ahnung von der Uckermark zu haben? Wie viele Tage, Jahre, Generationen muss man dort verbracht haben, um etwas über sie schreiben zu dürfen? Auch wenn ich verstehe, dass Biller sich mit seiner Kritik lange vor der Publikation von Max Czolleks Desintegriert Euch! (2018) gegen die Anpassung an die dominante Kultur wehrt, erscheint mir sein Ansatz recht deutsch, deutscher als ich es ihm zugetraut hätte. Es steckt doch schon eine extreme Mythologisierung und Romantisierung darin, so auf die Beziehung eines Menschen zu einem Ort, zu einer Herkunft, zu blicken. Und das ist die zweite Ebene der Kritik, nämlich die Frage nach der gesellschaftlichen Verortung eines Menschen, der nicht in diesem Land geboren wurde. Er spricht von Zugehörigkeit, als sei Gleichheit ihre Voraussetzung und übernimmt damit die Idee, dass das konservative Leitkultur-Wir eine Entsprechung in der Realität hätte. Aber es ist ein Konstrukt, das man eben nicht nur dadurch auflösen kann, indem man als Marginalisierte von der eigenen Marginalisierung spricht, sondern auch, wenn man wie Stanišić sagt, ich schreib mal  über eure Uckermark, weil es auch meine Uckermark ist. Es gibt einen Unterschied zwischen write what you know” und write what you are”, und der ist in dieser Frage gravierend.

BERIT:
Genau deswegen finde ich es so spannend, wenn marginalisierte Stimmen nicht nur auf die eine Geschichte festgelegt werden, für die sie mit ausreichend autobiographischem Kapital bürgen können. Wenn man für jede erzählte Geschichte biographischen Rückhalt haben muss, also qua Identität auf ein Alleinstellungsmerkmal festgelegt wird, dann wird einem eben auch der Raum genommen sich mit Fiktionen an der Realität abzuarbeiten. Vielleicht bin ich aus diesem Grund skeptisch, wenn es um die autofiktionale Bearbeitung biographischer Traumata geht, besonders dann, wenn Autor*innen aufgrund ihrer Identität auf diese Narrative festgelegt zu werden scheinen. So werden seelische Verwundungen auf ein Reservoir für literarische Bearbeitungen reduziert, begründet durch beinahe fetischisierte Vorstellungen von Authentizität und mit einem voyeuristischen Beigeschmack. Für mich kommt das überspitzt gesagt einer Art narrativer Selbstausbeutung gleich, bei der die Teilhabe am Literatur- oder Kulturbetrieb mit dem Leiden der Schreibenden legitimiert werden muss. Es liegt eine subversive Kraft darin, die eigene Geschichte erzählen zu können, nicht sprachlos bleiben zu müssen, aber was passiert, wenn man nur auf diese eine Geschichte festgelegt wird? Wird dann die Identität zu einem Korsett für das eigene Schreiben?

ASAL:
In einem sehenswerten Gespräch mit Günter Grass erzählte der erst kurz zuvor aus der DDR ausgereiste Thomas Brasch, wie deprimierend er es als Dissident und Autor finde, dass solange man die Erwartungen der Öffentlichkeit bediene, niemand sage lieber Freund, da ist der Stil nicht gut.” Ich möchte dir also zustimmen, nicht zuletzt weil ich immer wieder merke, wie mir dieses Korsett angelegt wird oder ich es mir selbst anlege. Aber ich zögere auch, weil ich mich frage, ob man die Werke von Jeanette Winterson von der Armut in Manchester und die von Derek Walcott vom postkolonialen St. Lucia trennen kann oder ob Audre Lorde nicht immer wieder darauf hätte hinweisen sollen, dass sie eine Schwarze lesbische Poetin ist? An welcher Realität soll man sich abarbeiten, wenn nicht an der eigenen? Aber es stimmt, ohne identitätspolitische Schubladen kommt man heute nur sehr schwer weiter. Sie haben eine wichtige politische Funktion, von der sie allerdings nicht getrennt werden sollten. Sonst werden sie schnell zu einem Instrument der Reduktion anstelle der Weitung. Die Selbstausbeutung, von der du sprichst, ist eine von außen auferlegte. Was soll man tun, wenn man schreiben will und muss, wenn man das geschriebene Wort gewählt hat, um in die Welt zu treten? Das Dilemma ist, gehört werden zu wollen, aber auf Ohren zu treffen, die nur gewisse Klänge wahrnehmen möchten. Und selbst, wenn man es schafft, daraus auszubrechen, kommt einer um die Ecke und sagt, schreib doch lieber über dich selbst, du bist doch hier nur Tourist*in.

SIMON:
Die Anforderung an eine*n Autor*in, über sich selbst zu schreiben, ist in diesem Fall ja meist eine Forderung, die eigenen Traumata literarisch aufzuarbeiten. Daher auch die Ansicht, dass jemand wie Stanišić eben über seine Rolle als Kriegsgeflüchteter aus Bosnien-Herzegowina schreiben solle, auch wenn er vermutlich genauso über anderes aus eigener Erfahrung schreiben könnte – auch über die Uckermark, wenn er eine zeitlang dort verbracht hat. Es handelt sich hierbei, denke ich, um einen Blick auf das Schreiben, der das Erzählen der eigenen Geschichte zum Einen als Verarbeitung eines belastenden Ereignisses denkt, zum Anderen aber auch als politisch oder gesellschaftlich wichtigen Akt, im Sinne einer Forderung nach Aufklärung durch die Betroffenen. Im ersten Fall ist es auch der Wunsch des Publikums und des Literaturbetriebs sich selbst mit dem erfahrenen Leid, das nun vermeintlich literarisch verarbeitet wird, zu schmücken, indem man es honoriert. Der Nachweis der Bedeutung dieser Texte ist dann – wie Du, Asal, das mit dem Zitat von Brasch ja auch gesagt hast – nicht die literarische Qualität, sondern ihre Authentifizierung durch eigenes  Leid. Es ist die vermeintliche Nähe zum Leben einer anderen Person, die Leid erfahren hat, an dem man durch das Lesen dieser Erzählung teilnimmt. Die Honorierung dieser Geschichte ist dann gleichzeitig wieder in gewisser Weise ein selbstnobilitierender Vorgang.

BERIT:
Natürlich kann Literatur auch eine politische und gesellschaftliche Funktion erfüllen, es ist jedoch ein Problem, wenn bei den Texten bestimmter Autor*innen immer diese Funktion dominieren muss. Dann kommt es beinahe zwangsläufig zu einer Gleichförmigkeit sowohl in der Narration, nur bestimmte Themen und Erzählmuster werden diesen Autor*innen vom Literaturbetrieb gestattet, als auch in der Rezeption, indem jeder Text auf Bezüge zur Autor*innenbiographie heruntergebrochen und nicht mehr als vieldeutiger ästhetischer Texte rezipiert wird. Und die sehr eng abgesteckte Nische, die dann bestimmten Gruppen zum Publizieren ermöglicht wird, limitiert dann eben auch die Möglichkeiten dieser Autor*innen eine genuin eigene Stimme zu entwickeln. Es soll schon politisch sein, aber gleichzeitig muss es auch gefällig sein, nicht zu wütend, nicht zu bitter und schon gar nicht desillusioniert. Es ist beispielsweise kein Zufall, dass Anke Stelling, eine der Autorinnen mit wirklich eigener Stimme zum Thema Mutterschaft, die sich in ihren Romanen mit der ganzen emotionalen und sozialen Komplexität der Angelegenheit befasst, es schwer hatte, für diese Texte einen Platz in einem Literaturbetrieb zu finden, der diesem Thema viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt:

“In den Ablehnungen ging es nie um den literarischen Wert, erzählt Stelling. Stets war von Aufhängern die Rede, die man für Buchhandlungen, Kritik, Leserinnen finden müsse. Für die Verlage war die Inzestgeschichte offenkundig ein absolutes no-no gewesen. Aber auch Mutterschaft als Thema schien ein Problem, jedenfalls dann, wenn die Erzählung die negativen Seiten, freundlich gesagt, nicht verschweigt.”
(Ekkehard Knörer: Fata, Libelli. Literaturkolumne. 20.2.2018)

Ich bin oft überrascht, wie abwesend Kinder und Mütter in vielen Romanen sind und wenn sie überhaupt als Nebenfiguren auftauchen dürfen, wie stereotyp dann über sie geschrieben wird. Dabei würde die Erfahrung von Elternschaft, in all ihrer großartigen Ambivalenz, der intensiven Liebe, der gehirnzerfressenden Langeweile und der körperlich wahrnehmbaren Erfahrung des Würgegriffs gesellschaftlicher Strukturen, ein großartiges und spannungsreiches Erzählfeld bieten. Doch dazu bedarf es einer Stimmenvielfalt, die weit über die Grenzen der bürgerlichen Kleinfamilie hinausgeht, deren Rahmen noch das Erzählen von Elternschaft dominiert. Gerade am Beispiel der Erzählung von Mutterschaft wird sehr deutlich, wie dominante Narrative eine Komplexität und Vielfalt, die dem Thema angemessen und dringend nötig wäre, unterdrücken.

 

Die Unmöglichkeit, weiter so  Ich” zu sagen, wie bisher

„Mein Ziel ist eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit. Sartre hat gesagt, engagierte Literatur, das ist die Freiheit, sich zuzuwenden. Ich möchte etwas anderes. Ich möchte eine Literatur der Konfrontation, die es dem Leser verbietet, sich abzuwenden von der Wirklichkeit, in der er lebt.”
(Édouard Louis im DLF Kultur 23.7.2018)

SIMON:
Wenn ich an meine Jugend denke, die sich größtenteils in einer südwestdeutschen Kleinstadt in den Nullerjahren abgespielt hat, tauchen sofort bestimmte Bilder auf: Sommernächte an Flussufern, heiße Augustnachmittage auf Wiesen, weite Felder in der Sommerhitze, vertrödelte Nachmittage nach der Schule. Die gleichen Bilder kenne ich aus Romanen – vorrangig von Männern, die in den 80er und 90ern ihre Jugend erlebt haben – wie Wolfgang Herrndorfs In Plüschgewittern und Thomas Klupps Paradiso. Diese beiden Romane sind nur die ersten, die mir einfallen, aber Erzählungen von Männern, die zwischen 1965 und 1985 geboren wurden und über eine Jugend schreiben, die ihre sein könnte, sind in den letzten zwanzig Jahren unzählige erschienen, flankiert von Filmen, die ähnliche Geschichten erzählen (beispielsweise Schule (2000)). Diese Romane affirmieren das Bild einer heilen Kindheits- und Jugendwelt in den 80er und 90er Jahren. Insbesondere durch Rückblicke der inzwischen erwachsenen Erzähler, die meist im gleichen Alter und Umfeld wie die Autoren sind, werden diese westdeutschen Idyllen aufgerufen:

In meiner frühsten Erinnerung läuft meine Mutter mit nackten Füßen durch den Garten auf mich zu. Sie trägt ein gelbes Kleid aus Leinen und um den Hals eine Kette aus rotem Gold. Wenn ich an diese ersten Jahre meines Lebens zurückdenke, ist immer später Sommer, und es kommt mir vor, als hätten meine Eltern viele Feste gefeiert, auf denen sie Bier aus braunen Flaschen tranken und wir Kinder Limonade, die Schwip Schwap hieß.
(Takis Würger: Der Club (Kein & Aber 2017)

Durch die Omnipräsenz dieser Geschichten, die einem ganz bestimmten Schema einer idealisierten Jugend und Kindheit in einer vermeintlich sicheren Umwelt folgen, habe ich das Gefühl, dass meine eigenen Erinnerungen in diese angelesenen, kollektiven Erinnerungen eingebettet werden, sie werden in gewisser Weise zu einem Teil einer großen Erzählung einer Mittelstandsjugend in Westdeutschland. Das führt in meiner Wahrnehmung zu zwei Phänomenen: Zum Einen führt es dazu, dass ich mir teilweise meiner eigenen Erinnerung nicht mehr sicher bin – spielen Felder in der Sommerhitze wirklich eine so große Rolle in meiner Jugenderinnerung oder ist das eine Verklärung anhand von angelesenen, vergleichbaren Erzählungen? Zum Anderen führt es dazu, dass das Erzählen meiner eigenen Geschichte beinahe unmöglich wird. Sie ist schon x-mal erzählt worden. Der erste Kuss auf einer Party im Sommer, während die anderen um das Lagerfeuer sitzen – das könnte auch Benjamin von Stuckrad-Barre erzählen, man würde es ihm glauben. Ist das noch meine Geschichte oder ist es einfach eine mögliche von tausenden ähnlichen?

ASAL:
Mir kommen diese Bücher und Filme und diese westdeutschen Urbilder, die sie kreieren, ebenfalls vertraut vor, wenngleich meine eigene Kindheit und Jugend an den Rändern dessen stattfanden, was dort beschrieben wird. Eben deshalb habe ich geschrieben, dass es einer neuen Sprache bedarf, nicht nur neuer Erzählender.

Für mich, die ja auch in Hildesheim Kulturwissenschaften studiert hat, steckt hier eine doppelte Erdrückung. Zum einen, weil mir als Heranwachsende meine Lebenswelt nirgends gespiegelt wurde, ich mich in keinen Büchern, Filmen und anderen Darstellungen wiederfand. Ich fühlte mich nicht gesehen und sah auch niemanden, dem ich mich nah fühlen konnte. In Hildesheim bewarb ich mich mit einem Text über einen politischen Häftling im Iran, der einen Brief an eine geliebte Person schreibt. Er erzählt darin, wie er immer wieder eine Waffe an den Kopf gehalten kriegt und jedes Mal wünscht, es möge nun doch endlich vorbei sein. Vermutlich alles etwas melodramatisch, aber ich war zwanzig Jahre alt und hatte fast ein Jahr in der internationalen Nachrichtenredaktion von CNN.com gearbeitet, wo die Berichterstattung über den Tschetschenienkrieg zu meinem täglichen Job gehörte. Ich wollte über meinen Vater schreiben, aber das hätte ich damals noch nicht geschafft. Der Prüfer sagte mir dann, es klinge alles ein wenig wie Peter Maffays Über Sieben Brücken Musst Du Gehen. Ich wurde dennoch angenommen, geweint habe ich an dem Tag aber nicht aus Freude. Ich war eine wütende Studentin, aber ich war auch gut. Und obwohl ich das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören, saß ich mit den Leuten, die Florian Kessler in seinem Artikel erwähnt, in denselben Räumen und habe meistens innerlich, ganz selten auch öffentlich, gezetert über diese bürgerlichen Geschichten, die immer wieder wie Variationen der gleichen Geschichte wirkten. Irgendwann blieb ich diesen Schreibseminaren fern und konzentrierte mich auf jene, wo ich gehört und gefördert wurde. Im Anschluss an mein Studium in Hildesheim habe ich viele Jahre nicht geschrieben. Es ging einfach nicht. Erst mit Florian Kesslers Artikel, den ich sehr befreiend fand, und den ich ganz und gar nicht als hölzerne Polemik empfinde, wurde in mir eine Tür geöffnet. Ja, ein weißer, bürgerlicher Jungautor hat das für mich gemacht, weil meine eigenen Worte in der Zwischenzeit verschüttet wurden. Es hätten vielleicht meine sein können. Heute finde ich den Text von Selim Özdogan, der vor kurzem hier auf dem Blog veröffentlicht wurde, wesentlich wichtiger und dringlicher. Inzwischen schreibe ich auch wieder. Und werde schreiben und schreiben.

BERIT:
Es bedarf dann jedoch nicht nur einer neuen Sprache, wie du es ausführst Asal, sondern auch eines Literaturbetriebs, der sich solchen Schreibweisen öffnet und die Vermittlung neuer Ästhetiken unterstützt. Eine solche Öffnung kann jedoch nicht nur darauf basieren, dass neuen Stimmen wieder ähnlich festgelegte Narrative aufgedrückt werden, wir also der Erzählung einer westdeutschen Vorortkindheit nur einige neue statische Muster an die Seite stellen.

Es spricht im übrigen ja gar nichts dagegen, dass bestimmte gehäufte Weltzugänge und -wahrnehmungen sich auch in zahlreichen Texten wiederfinden, schwierig wird es dann, wenn Literatur zunehmend die Funktion einer Weltsichtbestätigung der Leser*innen erfüllt und es nicht mehr vermag diese zu Durchbrechen. Natürlich ist eine Bestätigung der eigenen Weltdeutung durch konventionalisierte Erzählverfahren und inhaltliche Stereotype etwas, das den Bedürfnissen vieler Menschen entspricht. Nicht zufällig verkaufen sich bestimmte Genreromane, die immer wieder die gleichen Erzählmuster mit kleinen Abweichungen durchspielen, hervorragend. Das ist auch nicht grundsätzlich negativ, manchmal möchte man eben einfach ausgelatschte Hausschuhe tragen oder sich in seine Lieblingskuscheldecke wickeln, nicht jeder literarische Text muss aufrütteln oder verstören. Texte können uns durch Vorhersehbarkeit auch ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln, von einer Welt die nach geordneten Regeln funktioniert, in der die Guten gewinnen, die Bösen bestraft und die armen Stieftöchter zu Prinzessinnen werden können. Auch die Realitätsflucht durch Immersion in eine spannende Erzählung erfüllt eine Funktion für die Lesenden. Dennoch ist es zu kritisieren, wenn ein verstärkt unter ökonomischen Druck geratener Buchmarkt immer mehr auf wahlweise solche Kuscheldeckenliteratur setzt oder auf Romane, deren Autor*innen uns autobiographisch rückkoppelbar die Welt erklären sollen, weil solche Bücher ein größeres Marktpotenzial haben. Dieser durch Marktlogiken begründete Fokus äußert sich dann eben einerseits inhaltlich, indem bestimmte Geschichten wieder und wieder erzählt und Autor*innen qua ihrer Identität auf bestimmte Erzählmuster festgelegt werden, aber auch ästhetisch, beispielsweise in der Dominanz realistischer Erzählverfahren.

SIMON:
Es bleibt noch die Frage im Raum stehen, was weiße Mittelstandsmänner dann aktuell noch schreiben können, ohne wiederholt in die gleichen Muster einer westdeutschen Kleinstadtkindheit und -jugend zu fallen oder sich die Erzählungen von Menschen aus marginalisierten Gruppen anzueignen. Für mich sind an dieser Stelle die Romane und die darin angewendeten Erzählverfahren von Jakob Nolte eine mögliche Variante, sich neue Inhalte und Strategien des Erzählens zu erschreiben. Der Roman Alff (2014) erschien zunächst frei zugänglich auf der digitalen Leseplattform fiktion.cc und erst später im Verlag Matthes & Seitz. Mit parataktischer Sprache und filmischer Erzählweise, die die schnellen Schnitte amerikanischer Kinder- und Jugendserien der 80er und 90er Jahre imitiert, wird die Geschichte einer Mordserie an einer US-amerikanischen Highschool erzählt. Der Text ist beinahe überladen von Referenzen an die Popkultur der letzten dreißig Jahre und entfernt sich deutlich von realistischen Erzählmustern. Damit schafft Nolte einen Verweisraum, der sich zwar auf seine eigene Kindheit und Jugend bezieht, sich jedoch deutlich abkoppelt von den Schreibweisen und Zugängen der oben genannten Autoren und auch nicht im wiederholten Nacherzählen der eigenen Kindheitsidylle verharrt. Der zweite Roman Schreckliche Gewalten (2017) erweitert diesen Verweisraum auf die durch Hyperlinks geprägten Gedankensprünge und Querverweise im digitalen Raum. Diese und ähnliche Romane – auch die letzten beiden von Clemens Setz würde ich an dieser Stelle nennen – sind Beispiele für Auseinandersetzungen weißer, männlicher Autoren mit ihrer Lebenswelt und ihrer Jugend, die neue Wege suchen, diese literarisch umzusetzen.

ASAL:
In dem, was du schreibst, Simon, zeigt sich, dass es sich hier nicht bloß um eine Umkehrung handelt, in der nun jene Autor*innen verdrängt werden sollen, die bisher dominierten. Vielmehr geht es in dem, was wir hier gemeinsam herausgearbeitet haben darum, wie  wichtig es auch im Literaturbetrieb ist, eine Vielfalt herzustellen, in der so viele Stimmen wie möglich Platz haben.

BERIT:
Dafür bedarf es einer wirklichen Bibliodiversität nicht nur in der Verlagslandschaft, sondern auch in den Verlagsprogrammen, den Förder- und Stipendienstrukturen und den Zielgruppen der Literaturvermittlung.

 

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Das Team von 54books: wenn sie nicht die Literaturkritik retten - wer dann?

7 Kommentare zu “Die Freiheit, Last und Unmöglichkeit „Ich” zu sagen – Ein Gespräch über das Schreiben zwischen Identitätsdiskursen und Buchmarkt

  1. – „was weiße Mittelstandsmänner dann aktuell noch schreiben können“ – na, was anderes zB? Ich bin 1962 geboren, und meine Kindheit bestand durchaus nicht aus dem, was da in gleich mehreren Büchern gefeiert wird. Mit Arbeiterhaushaltshintergrund wird schon die Stoffauswahl eine andere. Und selbst eine durchschnittliche deutsche noch-nicht-multikulturelle Stadt kann ein spannendes Buch liefern – muß man eben schreiben können. (und verlegt werden, das bitte überall dazudenken.)

    – „das Paradigma, nur darüber zu schreiben, was man kennt“ – schränkt also den Gesprächsgegenstand schon ein, es geht also nicht um Genrefiktion wie SF, Fantasy, Krimi, auch nicht um literarisch überhöhte Gegenwart. Was bleibt denn dann, und wie wollen wirs nennen? Dokufiktion?

    – Das Problem, anderer Menschen Geschichten zu erzählen, vor allem, wenn es Leidensgeschichten sind: ich tus einfach nicht, würde mich dabei unwohl fühlen, ginge höchstens, wenn direkt beauftragt. Ansonsten ist das aber legitimer Stoff seit Menschengedenken, diskussionswürdig wären Identifizierbarkeit (durch biografische Nähe, Entschlüsselung), Wahrhaftigkeit/Wahrheit, Umformung, Marketinggründe, politische/andere Agenda, … und obs ein gutes Buch ist.

    – Das Problem, die eigene Geschichte zu erzählen: wie geht man mit den darin verstrickten anderen Menschen um? Juristisch sicher wäre nur eine posthume Veröffentlichung 70 Jahre nach dem Tod der letzten vorkommenden Person.

  2. Ich habe gestern dieses Gespräch mit großem Interesse gelesen, es beschäftigt mich weiter – dafür erstmal herzlichen Dank! Davon unabhängig bin ich über vieles darin gestolpert, bin ich in vielem anderer Meinung.

    Zum Beispiel kommt es mir ein bisschen seltsam vor, die These Max Billers über Stanisics „Fest“ ernsthaft zu diskutieren, er habe keine Ahnung von der Uckermark und solle über seinen „Bürgerkriegshintergrund“ schreiben. Überhaupt stört mich die Selbstverständlichkeit, mit der ihr über „Schreibverbote“ diskutiert, also darüber, wer legitimerweise noch über welche Themen oder Personen/Figuren schreiben dürfe. Es sei immer eine Machtgeste, aus dem Blickwinkel einer anderen Person zu schreiben: „man eignet sich die Gedanken, Emotionen und die Sprache eines anderen Menschen an und äußert gleichzeitig, dass man in der Lage sei, diese adäquat wiederzugeben“. Aber genau darum geht es doch, wenn wir schreiben, wenn wir erfinden – dass wir uns vorstellen, wie es wäre, jemand anderes zu sein. Und wenn es uns gelingt, ermöglichen wir wiederum auch genau das unseren Leser*innen: In die Köpfe anderer schauen zu können.

    Mich stört auch, dass der Eindruck entsteht, es sei immer eindeutig und klar zu bestimmen, wer oder was „anders“ ist. Ich habe vor Jahren für einen Wettbewerb zum Thema „Spielsucht“ geschrieben, aus der Perspektive eines Mannes. Ich bin eine Frau und ich habe keine Erfahrung mit Spielsucht, aber ich hatte dennoch aus Gründen, die hier unerheblich sind das Gefühl, ich schreibe da über etwas Eigenes, über etwas, womit ich mich auskenne. Frauen und Männer leben doch nicht in jeder Hinsicht auf unterschiedlichen Planeten. Es gibt Männer, denen ich mich in Teilen meines Erlebens ähnlicher fühle, als manchen Frauen. Darf ich über diese Männer schreiben, über die anderen aber nicht? Oder darf ich als Frau über Männer schreiben, aber Männer nicht mehr über Frauen? Zementieren wir damit nicht die Unterschiede, die wir doch eigentlich überwinden wollen?

    Ich sehe jedenfalls nicht, wie sich das in eine allgemeinen Regel formulieren lässt: Gelten die „Schreibverbote“ nur für die Ich-Perspektive oder für das gesamte Personal eines Romans? Darf man für Nebenfiguren eine Ausnahme machen? Ich glaube, es ist wie fast immer und wir müssen uns die Mühe machen, über konkrete Texte zu reden. Gerade wird ja viel unter genau diesem Aspekt über Tarek Würgers „Stella“ geschrieben und nach allem, was ich gelesen habe, könnte das ein gutes Beispiel dafür sein, dass jemand sich eine Erzählposition angemaßt hat, die er nicht legitim einnehmen kann. Aber das lässt sich eben am konkreten Text nachweisen, an seiner mangelnden Komplexität usw.
    Mir begegnen auch in Schreibwerkstätten manchmal Texte, bei denen ich in ähnlicher Weise finde, dass es so nicht geht: so unbedacht, so einfach mal drauflos geschrieben, voller Klischees, ohne eigene Erfahrung oder Recherche – obwohl es um etwas Gravierendes geht, wie z. B. eine Vergewaltigung.

    Ich bin unbedingt dafür, dass wir uns selbst und andere dazu befragen, ob es eine gute Idee ist, ob wir das Recht haben, eine bestimmte Geschichten zu erzählen. Aber ich halte es für keine gute Idee, die Antwort darauf von äußeren Merkmalen (dem Geschlecht, dem Kontostand, der Krankenakte oder der Nationalität) abhängig zu machen. Und dann, auch diese wunderbare Möglichkeit eröffnet uns Literatur ja immer, haben wir ja die Möglichkeit, über unsere Lektüren zu diskutieren, uns auszutauschen. So, wie jetzt …

  3. Simon Sahner

    Vielen vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar, genau diese Art der Auseinandersetzung haben wir gehofft, zu erreichen, als wir das Gespräch geführt haben.

    Es ist uns wichtig, klarzustellen, dass wir niemandem Schreibverbote aussprechen wollen, grundsätzlich darf natürlich jede*r über das schreiben, was ihr*ihm am Herzen liegt, ob das die eigene Geschichte ist oder eine andere. Ich möchte auf Deine Abschnitte einzeln eingehen, damit das übersichtlich bleibt:

    Ich bin mir nicht sicher, ob ich das richtig verstanden habe, aber falls ja, dann würde ich sagen, dass man Billers These in jedem Fall diskutieren kann, warum sollte Stanisic nicht über die Uckermark schreiben? Sollte das nicht deutlich geworden sein, möchte ich das hier, betonen, wir sind – ich denke, ich kann da für Berit und Asal mitsprechen – in jedem Fall der Meinung, dass Stanisic auch über die Uckermark schreiben kann! Und natürlich soll man sich beim Schreiben in andere hineinversetzen, aber es ist auf der anderen Seite immer eine Frage, wer sich in wen hineinversetzt. Um ins Extrem zu gehen: Bin ich als weißer Mann aus einer deutschen Mittelstandsfamilie aus lauter studierten Lehrer*innen in der Lage die Geschichte einer jungen weiblichen PoC zu erzählen, die als Geflüchtete nach Deutschland kommt? Warum sollte ausgerechnet ich diese Geschichte erzählen? Warum nicht eine Person, die in dieser Situation ist. Hier sehe ich durchaus eine problematische Machtgeste. In anderen Situationen, ist diese Aneignung weniger problematisch, auch wenn es eine Machtgeste bleibt. Es ist ein aushandeln dieser Situation innerhalb der Gesellschaft und der historischen Situation, in der ein Text entsteht.

    Dieses Beispiel, das Du gibst, halte ich für ein sehr gutes, um zu zeigen, warum diese Perspektive weniger problematisch ist. In der aktuellen Situation, in der wir uns in Bezug auf Gender befinden, ist es weniger problematisch, wenn eine Frau, die Perspektive eines Mannes einnimmt als umgekehrt, gleichzeitig wäre es weniger problematisch, als Mann die Perspektive einer Frau, aus demselben Umfeld einzunehmen als die einer weniger privilegierten. Es darf kein Schreibverbot geben, aber es darf eine Aushandlung und eine Diskussion geben, wer welche Perspektive einnehmen sollte.

    Dem dritten Punkt stimme ich vollkommen zu, es geht immer auch um die konkrete Situation und genau darauf wollten wir hinweisen. Andere Perspektive sind je nachdem um welche es sich handelt sehr sensible Felder, auf denen man sich bewegen können muss – gerade wenn es um solche Bereiche wie den Roman von Takis Würger geht oder um die von Dir angesprochene Schilderung einer Vergewaltigung und auch da, natürlich darf ein Mann eine Vergewaltigung thematisieren, aber die Frage ist wie, in welchem Kontext, in welcher Sprache, in welcher Erzählform und so weiter.

    Das alles unter dem großen Credo, dass ein Schreibverbot nicht geben darf, eine Frage, wie mit verschiedenen Aneignungen von Geschichten umzugehen ist, aber geben muss.

    Ich hoffe, ich konnte, im Namen von uns dreien, unsere generelle Sichtweise (bei allen Unterschieden unserer Perspektiven) deutlich machen.

    Nochmal vielen Dank für Deinen Kommentar!

  4. Für mich war bei eurem Gespräch nicht immer gut zu unterscheiden, wo ihr Positionen referiert und wo ihr sie wiedergebt – da sehe ich jetzt klarer.
    Mir war auch vor deiner Erwiderung klar, dass ihr nicht ernsthaft für „Schreibverbote“ plädiert, aber ihr bindet die mögliche Legitimation eines Textes an Autor*innen-Merkmale. Ich finde das nicht abwegig, ich finde auch, dass es solche Fälle gibt (für mich ohne jede Frage Texte, die von Auschwitz oder anderen Vernichtungslagern erzählen), aber ich würde es eben nur auf einen engen Kreis von Texten begrenzen und in der Regel dafür plädieren, dass es der Text ist, an dem sich alles entscheidet.
    Vielleicht noch ein Gedanke: Ich halte es für einen Irrtum, dass wir Texten ohne weiteres ansehen können, ob und falls ja „wie sehr“ sie autobiographisch sie sind, wie sehr Autor*innen sie durch eigene Erfahrungen beglaubigen können. Jonathan Franzen hat das als schönes Paradox formuliert: „Je größer der autobiographische Gehalt im Leben eines Schriftstellers, desto geringer die oberflächliche Ähnlichkeit mit seinem Leben.“ Ich habe das in meinem Schreiben sehr bestätigt gefunden …
    Vielen Dank auch von mir sowohl für deine Erläuterungen/Klarstellungen aber auch nochmals für dieses wirklich sehr anregende Gespräch!

  5. sorry, im ersten Satz muss es natürlich heißen, „teilt“ statt „wiedergebt“ …

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