Der Contest eines Lebens – Über Identität, Castingshows und eine späte Anerkennung

Mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt wird heute das bessere Reality- und Casting-TV gemacht. Die Krone des Genres geht aber nach Bayern: für eine verkannte Lebensleistung.

 

von Victor Sattler

Als die Literaturwissenschaftlerin bell hooks den Dokumentarfilm „Paris brennt“ (1990) von Jennie Livingston sah – heute ein Meilenstein der LGBTQ+-Bewegung –, hielt sich ihre Begeisterung in Grenzen.

Der Film war der erste seiner Art, weil er New Yorks Drag Queens und trans Personen einer breiten Öffentlichkeit vorstellte. Damit habe man den Protagonist:innen aber keinen Gefallen getan, fand hooks, egal, wie sehr diese sich nach Ruhm sehnten und das im Film bekundeten. Was eigentlich „Rituale“ einer Subkultur waren, mache Livingston zu einem „Spektakel“ für die Mehrheitsgesellschaft.1 Der Philosophin Judith Butler erschien die aus dem Film resultierende Abhängigkeit sogar noch gravierender. Die Kamera agiere hier als ein „chirurgisches Instrument“, das männlich gelesenen Personen eine weibliche Wirkung verleihe. Nur, wer in ihrer Gunst stehe und bleibe, werde von der Kamera zu der angestrebten Geschlechterrolle „gesalbt“.2

Weiter kritisierte hooks, der Film erkläre die Schönheitswettbewerbe der Drag Queens zu ihrem Lebensmittelpunkt und blende private, prekäre Aspekte ihres von Rassismus geprägten Alltags aus. [1] Andererseits ergänzte Butler, ohne darin einen Widerspruch zu hooks zu erkennen, dass das in diesen Contests ausgetragene Wetteifern um „Realness“ der Performance durchaus eine lebensentscheidende Bedeutung besitze. Wer als trans Frau (oder trans Mann) nie „Realness“ erreichte, blieb eine Zielscheibe von transfeindlicher Gewalt, so Butler. Den ultimativen Contest stellte also eine Performance fernab der Bühne dar, bei der es um Leben und Tod gehen konnte. Dass eine Protagonistin von „Paris brennt“ während der Dreharbeiten ermordet wurde, unterstrich Butlers These über den wahren Ernst dieser Wettbewerbe nur. [2]

Dreißig Jahre später steht für ehrgeizige Drag Queens, die sich mit anderen messen wollen, weniger auf dem Spiel, das Schaulaufen ist sogar ein Stück weit im Mainstream angekommen. Bei „RuPaul’s Drag Race“, seit zwölf Staffeln die maßgebliche Castingshow für Drag Queens, wird zwar noch regelmäßig „Paris brennt“ als popkulturelles Vorbild zitiert, doch die Sendung scheint auch die Kritik daran beherzigt zu haben. Vielleicht nicht ebenbürtig, aber deutlich ausgeglichener ist heute das Verhältnis von Teilnehmer:innen und Produzent:innen, von Verlierer:innen und Gewinner:innen, von privaten Leidens- und medialen Erfolgsgeschichten, vom Ritual auf der einen und Spektakel auf der anderen Seite.

Mittlerweile könnte man fast schon sagen, dass es sich bei den queeren Reality- und Casting-Sendungen um die besseren Fernsehformate handele. Drag hat es geschafft, nicht bloß Geschlechtsnormen zu unterwandern (entgegen der Befürchtung, es würde diese Normen aufnehmen und bekräftigen), sondern auch die Regeln des Fernsehens auf den Kopf zu stellen (hier drohte natürlich dieselbe Gefahr). „RuPaul“ ist die solidarischere Castingshow, die keine Kandidat:innen nach Hause fahren lässt, ohne sie in Selbstliebe geschult zu haben. „Queer Eye“ ist das Make-Over, bei dem ein Leben umgekrempelt, aber auf eine Bloßstellung des Ist-Zustands verzichtet wird. Neben neuer Kleidung und Möbel kommt dabei auch einfühlsame Laienpsychologie zum Einsatz, außerdem wird die Nachhaltigkeit des Lebenswandels noch nach Drehschluss überprüft.

Diese Vorteile kann man sich von einem wachsenden Streaming-Publikum, von begeisterten cis und hetero Freund:innen, sowie auch von Institutionen und Jurys bescheinigen lassen. Mit den zahlreichen Emmys für „RuPaul“ und „Queer Eye“ oder dem Grimme-Preis 2020 für „Prince Charming“ wird gerade weniger gewürdigt, dass diese Sendungen, die der LGBTQIAP+-Community eine Bühne geben, ein ersehntes Pendant zu den trashigen Cis-Hetero-Formaten schaffen, sondern im Gegenteil betont, worin und wie sehr sich die neuen Formate von den alten unterscheiden. So schrieb die Grimme-Jury, die schwule deutsche Datingsendung „Prince Charming“ liefere das echtere, unverstelltere Reality-TV.

Wenn ein Genre derartig mit Lob überschüttet wird, regt sich bei vielen die innere Judith Butler oder die innere bell hooks, die widersprechen möchte. Natürlich stimmt die Kritik, dass alle genannten Sendungen auf ihre eigene Art kommerzielle Exzesse sind. Auch die Authentizität, die ihnen zugeschrieben wird, darf man an vielen Stellen in Zweifel ziehen. Und die positiven Emotionen, an denen man sich berauschen kann, wie früher an der Häme der Vorgängerformate? Die haben ebenfalls ihre Kehrseite. Oft ist darauf hingewiesen worden, dass es in einer solch empowernden Get-up-and-fight-Kultur als selbstverschuldet gelten muss, wenn das persönliche Glück dann doch ein Leben lang ausbleibt.

Eigentlich habe ich das, was heute im Fernsehen an Diversität und Repräsentation möglich ist, erst zu schätzen gelernt, als ich vor Kurzem eine Videoarbeit über Lana Kaiser gesehen habe. Lana Kaiser, besser bekannt als “Daniel Küblböck, der Sänger und Entertainer, der im September 2018 von einem Kreuzfahrtschiff verschwand”. Aber richtig ist auch: Lana Kaiser, die erste genderqueere Person, die in Deutschland bekannter als der damalige Bundeskanzler war und die ihre Identität nicht bloß benannte, sondern sie immer wieder öffentlich thematisierte, allen Anfeindungen und Buh-Rufen zum Trotz.

Die Videoarbeit wird im Münchner Haus der Kunst laufen, wegen der Covid-19-Pandemie konnte sie bisher nur in Oslo und Paris gezeigt werden. Titel ist der späte Wahlname, den sich der:die Sänger:in selbst gegeben hat. Der Film macht deutlich, warum die Macht von Kamera und Schnitt kaum zu überschätzen ist. Das Material, an dem sich der Künstler Philipp Gufler bedient hat, kann man längst von RTL und anderen Privatsendern kennen. Der Effekt der Bilder hingegen ist neu.

Seitdem stelle ich mir gern vor, dass Kaiser mit siebzehn Jahren nicht zur ersten Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ gekommen wäre, sondern stattdessen an einer der heutigen Shows teilgenommen hätte, dort auf ein toleranteres Publikum, eine empathische, aufbauende Produktion getroffen wäre, und wie anders alles gewesen sein könnte. Der einzige Schluss, den dieses Gedankenexperiment zulässt, ist, dass Kaiser in jedem einzelnen Format „geslayed“ hätte und mindestens in den Augen des Publikums auch als Sieger:in daraus hervorgegangen wäre. Bei „RuPaul’s Drag Race“ gibt es dafür extra den Titel der „Miss Congeniality“. Er zeichnet eine Teilnehmerin für ihre Persönlichkeit, ihr großes Herz und ihren besonderen Umgang mit den Konkurrent:innen aus.

Diesen Titel muss man Kaiser noch posthum zuerkennen. Die Interviews und Clips aus den Nullerjahren bieten Zeugnis genug für eine ganze Laudatio. Damals waren diese Szenen kleine Portale in die Zukunft, in unsere Gegenwart. Sie liegen etwa auf halber Strecke zwischen „Paris brennt“ und dem Heute. Genauso gut kann man den Portalen heute in die andere Richtung folgen. 

Kaiser, geboren 1985 und aufgewachsen in Niederbayern, war selbstbewusst, redegewandt und vertrat feste Überzeugungen. In einem ORF2-Interview von 2004 erhoffte Kaiser sich von einer Karriere im Fernsehen vor allem eines: jemand zu sein, in dem das Publikum sich wiedererkennen könnte. Nicht der schräge Vogel, den die BILD-Zeitung so gern ausstellte, nicht das Negativbeispiel einer ganzen deutschen Elterngeneration, sondern eine Identifikationsfigur wollte Kaiser sein, ein Vorbild und eine Ermutigung für andere. Dass dieser Plan zumindest ein Stück weit aufging, kann Philipp Gufler heute bestätigen. Ebenfalls aus der bayrischen Provinz stammend, reiste er mit vierzehn Jahren den Konzerten des:der Sänger:in hinterher, dreißig Auftritte habe er insgesamt besucht. Die Videoarbeit soll eine Hommage, ein Dank dafür sein, dass es diese frühe Repräsentation im deutschen Fernsehen gab, als das Internet noch keine Ausflucht bot.

Zu der klaren Mission passt auch die gute Selbstkenntnis, die Kaiser gehabt haben muss, um früh eine Identität formulieren zu können, die man heute als „Nichtbinär“ oder auch „Genderqueer“ bezeichnet – und das, ohne die Fachausdrücke zu benötigen, ohne den Segen der „DSDS“-Jury abzuwarten, geschweige denn eine bessere Zeit. Zu Beginn der Nullerjahre gehörte es noch zum Fernsehbrauchtum, dass Entertainer:innen wie Stefan Raab ihren Vorurteilen über LGBTQIAP+ ganze Beiträge widmeten. Auch bei Raab saß Kaiser 2004 auf der Couch. Wurde Moderator:innen und Interviewer:innen die Genderqueerness erklärt, reagierten sie oft mit mildem Unverständnis, einer gerunzelten Stirn, eine Moderatorin unterbrach Kaiser. Dabei waren diese Coming-Outs, denen man schon 2003 und 2004 auf RTL und ProSieben lauschen konnte, so besonnen und eingängig, dass sie jedes Kind verstanden hätte.

In dem Eggenfeldener Kindergarten, in dem Kaiser vor „DSDS“ ausgebildet wurde, fragten die Kleinsten einfach kurzerhand nach der richtigen Anrede: „Fräulein oder Herr?“, hieß das 2002 in Niederbayern noch, in doppelter Hinsicht ein Relikt der Vergangenheit. Erwachsene tun sich damit bis heute schwerer. Dabei wäre es wünschenswert, die Frage nach der Geschlechtsidentität und den Pronomen einer Person zu normalisieren – auch unter cis Menschen. Als vor zwei Jahren über das Kreuzfahrt-Unglück geschrieben wurde, nahmen die Berichte und Nachrufe, sei es bei BILD oder bei der BBC, keinerlei Notiz von der geschlechtlichen Identität, zu der Kaiser sich mehrmals öffentlich und zuletzt auf Instagram bekannt hatte.

Warum eigentlich nicht? 2018 ließ sich bereits ein Mindestmaß an Aufklärung und Sensibilität von den Redaktionen erwarten. Es wäre ein Leichtes gewesen, wie in diesem Text auch den selbstgewählten Namen „Lana Kaiser“ zu nutzen oder auf ausschließlich männliche Pronomen zu verzichten. Es geht ohne.

Ist es nicht widersprüchlich , wie oft Medien die Androgynie der Person Kaiser ausschlachteten und nach der Kreuzfahrt eine Verbindung zu dem mutmaßlichen Suizid herzustellen suchten, aber gleichzeitig den geringsten Wunsch, der an diese geschlechtliche Identität geknüpft war, ignorierten? Wie viel man also über etwas berichten kann, ohne sich damit auseinanderzusetzen? Im Herbst 2018 wurde ein Tabu der Suizidberichterstattung nach dem anderen gebrochen. Doch unter allen Schnitzern war es vielleicht das erstaunlichste Versäumnis, dass so viele widersprüchliche, haltlose Gerüchte kursierten und ihr Tenor doch immer die gleiche Unterstellung war: Das ganze Leid sei in Kaisers queerer Psyche begründet gewesen.

Wahrscheinlich kam das wenig überraschend. Es entsprach dem Umgang mit Kaiser, den die Presse seit jeher gepflegt hatte. Heute ist es zu spät, um sich deshalb zum Ankläger aufzuschwingen. Ohnehin kam uns da schon längst jemand zuvor. Kaiser machte sich zu Lebzeiten nämlich eigene Gedanken darüber, woraus Privatsender und Regenbogenpresse ihre Macht ziehen und wie sie diese missbrauchen. Zu Gast bei Sat.1 (2006) oder „Spickmich“ (2008) erzählte Kaiser, welch entmenschlichende Wirkung die Presse habe. Dass sie Personen zu „Waren“, „Spielbällen“ und „Puppen“ mache. So stellte es sich jedenfalls aus der Betroffenensicht dar. Eine Analyse, die das Onlinemagazin „Übermedien“ nur bestätigen kann, nachdem es sich 2018 und 2019 mit den Artikeln und TV-Beiträgen über die Kreuzfahrt auseinandersetzte; und ein Vorwurf, den Philipp Guflers Film wieder ins Gedächtnis ruft, indem er Kaiser für sich selbst sprechen lässt.

Daneben erinnert die Videoarbeit auch an all den Camp und Glamour, den Kaiser auf deutsche Mattscheiben und Bühnen brachte: an Luftsprünge und -gitarrensoli, in himmelblau-bauchfreien Outfits oder mit rot glitzerndem Tanga, der aus der Hose ragte, in bunten Sakkos mit bunten Krawatten, langen Roben und Röcken, entweder mit Pferdeschwanz oder wildwehenden Haaren. Das Musikvideo zu dem Song „Be a Man“ spielte sogar mit den Ambivalenzen einer Transition. In stereotyp maskuliner Aufmachung jagt Lana Kaiser darin einer blonden Grazie hinterher, die sich zum Schluss als er:sie selbst mit Perücke entpuppt, oder eben einen frühen Blick auf sein:ihr wahres Ich erlaubt. Vor dem brandenden Ozean stehend singt sie die letzte Liedzeile „Be a Man“.

Der wahre Contest, dem Kaiser sich stellte – und das ziemlich furchtlos –, waren also nicht die sogenannten Mottoshows der ersten Staffel „DSDS“. Man kommt nicht umhin, zu Judith Butlers Gedanken zurückzukehren, dass der Wettbewerb um „Realness“ und gesellschaftliche Anerkennung am Bühnenrand erst richtig anfange. Wer aus der Norm fällt, ist sich der Performativität von Gender in besonderem Maße und rund um die Uhr bewusst. Vielleicht ist es dann kein Zufall, wenn queere Menschen sich von Casting- und Reality-Formaten angezogen fühlen, von der Jury-Bewertung und hoffentlich -Validierung, dem großen Make-Over, der Chance auf Repräsentation und Identifikation, die nach eigenen Aussagen auch Lana Kaiser auf die nationale Bühne lockte.

[1] Hooks, B. (1992). Is Paris burning?

[2] Butler, J. (1993). Gender is burning. Bodies that matter: On the discursive limits of sex.

Beitragsbild: Filmstill eines Auftritts von Lana Kaiser in einer DSDS-Mottoshow

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