Der Bürger am Ende der Welt – Zwei Bücher über unsere hartnäckige Normalität

von Leo Schwarz

„Danke, dass ihr unseren Selbstbetrug offen legt!“, sagte der Theaterregisseur Volker Lösch im April vor einer Menschenmenge in Berlin. Der selbsterklärte „Boomer“ sprach vor dem Brandenburger Tor auf einer Demo der Letzten Generation – jener Umweltgruppe, die es mit Straßenblockaden und beschmierten Kunstwerken immer wieder in die Nachrichten geschafft hat. Für sie hielt Lösch eine Dankesrede. Der Kampf der Letzten Generation sei ein „Kampf gegen die gesellschaftliche Verdrängung“ und den „Wahnsinn des Alltags“. Die Gruppe zeige, dass man nicht „an der destruktiven Normalität festhalten“ müsse.

Wie auch immer man Löschs Worte beurteilt: Das Gefühl, dass etwas Grundlegendes mit unserer Normalität im Argen liegt, beschleicht in letzter Zeit nicht nur ihn. Wie ist es eigentlich möglich, dass unser Alltag so hartnäckig bleibt wie er ist, trotz der drückenden Ahnung einer kommenden Katastrophe? Wieso scheinen die großen Krisen unserer Zeit in unserer Lebenswelt oft so weit weg und warum ist das Leiden vieler Menschen so selten in unserem Alltag präsent?  

Gefühlslagen und Vorstellungswelten

Zwei Bücher aus jüngerer Zeit suchen nach Antworten: Die Philosophin Henrike Kohpeiß denkt über Bürgerliche Kälte nach, der Soziologe Stephan Lessenich hält unsere Gegenwart für Nicht mehr normal. Es sind zwei grundverschiedene Bücher, bei Kohpeiß eine umfangreiche und komplexe Doktorarbeit – bei Lessenich ein thesenstarkes Sachbuch zur Lage der Welt. Und dennoch interessieren sich beide für eine ähnliche Problemlage: „Wie ist es möglich, dass wir die strukturellen Widersprüche unserer gesellschaftlichen Existenz wahrnehmen, in unserem Alltag aber doch durch die Bank so tun, als ob nichts wäre?“, fragt Stephan Lessenich. Und Henrike Kohpeiß staunt darüber, „wie erfolgreich die bürgerliche Gesellschaft ihr Überleben organisiert, obwohl ihre Überwindung politisch und kulturell geboten scheint“.

Für beide liegt die Antwort irgendwo in uns selbst, in unserer Subjektivität, unserem eigentümlichen Weltzugang. Für die Philosophin geht es hier um eine komplexe soziale Gefühlslage, die sie in Anlehnung an Theodor W. Adorno „bürgerliche Kälte“ nennt. Gemeint ist damit eine Art Technik oder Strategie, sich mit der Realität in Beziehung zu setzen und zugleich vor ihr zu schützen. In die bürgerliche Kälte können „die unmittelbaren Folgen vieler Katastrophen nicht vordringen.“ Lessenich wiederum interessiert sich für das „gesellschaftliche Imaginäre“ (nach Cornelius Castoriadis). Der Begriff beschreibt Bedeutungs- und Vorstellungswelten, die Gesellschaften selbst hervorbringen und die dann als selbstverständlich angesehen werden. Also kurz gesagt: was normal ist und was nicht.

Ganz normale Leute

Normal, das ist nach Lessenich in Deutschland seit der Nachkriegszeit die Idee von immer weiter steigendem Wohlstand, ständig erweiterter Konsumversprechen und (als Bedingung dafür) ewigen wirtschaftlichen Wachstums. Als ebenso normal gelte der Nationalstaat als eine natürliche Einheit mit klar geregelter Mitgliedschaft samt natürlicher Grenzen. Normal sind außerdem innerhalb dieser Grenzen dann vor allem normale (weiße) Menschen in normalen Lebensformen, also in normalen Arbeitsverhältnissen (unbefristet, Vollzeit) und normalen (heterosexuellen) Familien.

Nichts von dieser Vorstellungswelt entsprach jemals vollständig der sachlichen Wirklichkeit, aber Abweichungen und Nebenkosten hätte man, so der Soziologe, einigermaßen erfolgreich ausblenden können. Schließlich habe Deutschland tatsächlich irgendwie einen „Platz an der Sonne des globalhistorischen Geschehens“ eingenommen. Damit ist für Lessenich aber seit einiger Zeit Schluss. Die großen Krisen der letzten zwei Jahrzehnte und der Gegenwart setzten diese konstruierte Normalität immer mehr unter Druck. Die Finanzkrise rief in Erinnerung, dass die Steigerungs- und Verwertungsspiralen des Kapitalismus nicht unbedingt Wohlstand für alle bedeuten. Die „Flüchtlingskrise“ gemahnte daran, wie willkürlich und brutal die Zugehörigkeit zu nationalen Gemeinschaften geregelt ist. Die sich entfaltende ökologische Katastrophe entlarvt das ressourcengetriebene Wachstum als selbstmörderisch. Und im Streit um die Identitätspolitik bröckelt zuletzt auch die gesellschaftliche Dominanz weißer, heterosexueller Männlichkeit. Die verbreitete Vorstellungswelt von der Normalität – sie gerät ins Wanken. Und das bewirkt nach Lessenich eine zunehmende soziale Nervosität.

Ausmaß des Selbstbetrugs

Henrike Kohpeiß teilt viele Thesen mit dem Soziologen. Auch für sie lebt der westliche Bürger in seiner eigenen Vorstellungswelt, dessen Grenzen gewaltvolle Ausschlüsse mit sich bringen. Und auch für sie ist er Profiteur einer ungleichen Welt. Aber damit ist nach Kohpeiß noch nicht das volle Maß des Selbstbetrugs beschrieben. Der Bürger bringe das Kunststück fertig, sich trotz seiner Indifferenz für humanistisch, aufgeklärt und vernünftig zu halten. Daher müsse er sich in einer noch anspruchsvolleren Weise über sich selbst und seine Beziehung zur Welt täuschen.

Grundlegend für Kohpeiß Analyse ist ihre Annahme einer engen historischen Verbindung von bürgerlicher Subjektivität mit dem Kolonialismus sowie dem transatlantischen Sklavenhandel. Bürgerliche Gesellschaft und Kolonialismus seien „gleichursprüngliche Großprojekte“,  Sklaverei ein „irreduzibler Teil der westlichen Zivilisation“. Daraus folgt für sie, dass die europäische Bürgerlichkeit in ihrem gesamten Selbstverständnis auf dem Ausschluss von kolonisierten und versklavten Menschen beruht. Freiheit für die einen verweise auf radikale Unterwerfung für die anderen, die Vernunft verweise auf die Unvernunft, Eigentum und Bürgerrechte auf radikale Besitzlosigkeit und Entrechtung. Im Kern liege der europäischen Kultur eine „rassiale Differenz“ zugrunde, die auf Besitzergreifung, Herrschaft, Überlegenheit und Ausschluss basiere.

Hier liegt die faszinierende Provokation von Kohpeiß‘ Studie. Gerade in seinen edelsten Idealen –  Rechtsstaatlichkeit, persönliche Autonomie und, ja, auch Vernunft und Aufklärung  – ist der Bürger für Kohpeiß „hochverdächtig“. Ein sich selbst transparentes, sich selbst besitzendes, sich in Selbstkritik übendes Subjekt, dass seine Vernunft für eine universelle Währung hält, ist für Kohpeiß der Kern des Problems. Als „erkaltetes Wesen“ sei der Bürger ungnädig gegenüber allem, was nicht seinem eigenen Ideal entspricht.

Diesen sich selbst zur Krone der Schöpfung hochschwindelnden weißen Bürger kann man dann nach Kohpeiß auch nicht mit eigenen Waffen schlagen. Und das hat Konsequenzen für ihre philosophische Herangehensweise. Wenn die „Vernunft selbst zum Gegenstand“ des Verdachts wird, dann bleibt für Kohpeiß lediglich eine „dekonstruktive Begriffsarbeit“, die „nur auf den Zerfall der problematischen Anteile“ hoffen kann. So arbeitet sie bewusst ohne Definitionen und Ideengeschichte.

Wer ist der Bürger?

Das hat seinen Preis. Besonders, wenn sie die Begriffe mit ihren „historischen Bezügen stetig kippeln lässt“, zugleich aber historische Großthesen von schwindelerregender Allgemeinheit vertritt. Kann man bei der großen Vielfalt rassistischer Ausgrenzung wirklich behaupten, dass  „Antiblackness“ das Fundament ist, „auf dem alle stehen“? Oder wenn Kohpeiß schreibt, dass der Humanismus „als Ganzes faul“ ist, müsste sie dann nicht genauer bestimmen, was mit dem Begriff gemeint ist? Und dann ist da noch die Frage nach dem Bürger. Wie kann man Bürgerlichkeit „transhistorisch“ fassen und gleichzeitig auf ihrem Ursprung mit der neuzeitlichen Sklaverei und dem Kolonialismus bestehen? Bürger bedeutet eben vieles auf einmal – aber bildet der Begriff dann noch ein adressierbares Ganzes, dessen „Merkmale man in unterschiedlichen historischen Konstellationen“ auffinden kann?

Das Problem, wer eigentlich genau gemeint ist, beschäftigt auch Lessenich. Als Soziologe weiß er natürlich um die tiefe Ungleichheit auch innerhalb westlicher Gesellschaften. Aber für ihn ist es eben nicht nur das „berühmt-berüchtigte eine Prozent“ der Superreichen, das in die Verantwortung genommen werden muss. Auch „die oberen und mittleren Mittelschichten“, also die Gruppe „der zu erwartenden Leser- und Leserinnenschaft“ seines Buches (und wohl auch dieses Artikels), die mit ihren Aktiendepots und ihren Eigentumswohnungen nicht nur Spielball, sondern auch Spieler*innen des Kapitals sind. Und letztlich seien sogar „alle heute lebenden Bürger und Bürgerinnen der reichen Gesellschaften“ in ihren Lebensentwürfen an Erhalt und Steigerung eines materiellen Wohlstands orientiert, dessen ökologische und soziale Kosten unhaltbar sind. „Tief in unserem Inneren sind wir Wachstumssubjekte“, schließt Lessenich.

Vernunft, Verdrängung, Verantwortung

Also hat Kohpeiß doch Recht? Ist das bürgerliche Subjekt in seinem gesamten Selbstbild und damit auch die Vernunft der Aufklärung zu überwinden? Nach Lessenich müsste man eher von einer „irrationalen Rationalität“ sprechen, die unsere Wirklichkeit bestimmt. Damit wäre Vernunft aber immer noch ein Maßstab gesellschaftlicher Verhältnisse. Und ist es denn wirklich die Vernunft, die bei der Philosophin ins Visier gerät – oder doch eher ihre Verkehrung? Die erniedrigende Unfreiheit der Sklavin ist doch kein „gelebter Einwand gegen die Idee der Autonomie selbst“, wie Kohpeiß schreibt. Man müsste doch eher – in der genialen Formulierung der Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan – die „Aufklärung vor den Europäer*innen retten“.

Man hört schon den naheliegenden Einwand: Sind wir denn wirklich für alles verantwortlich? Muss man denn, wie Lessenich, auch noch den russischen Angriffskrieg zum Spiegel unserer Vermessenheit machen? Haben wir denn nicht genug eigene Sorgen? Wir müssen ja auch die Miete zahlen, die Kinder erziehen, Steuererklärungen machen und die tausend anderen Dinge der ewigen To-Do-Liste erledigen. Wer hat schon Zeit für das große Ganze. Und wer versteht schon die Weltgesellschaft?

Ganz falsch sind die Einwände nicht. Natürlich gibt es strukturelle Zwänge und volle Terminkalender und unübersichtliche Verhältnisse. Aber man braucht eben auch keine ökonomische Theorie, um zu wissen, wer die Smartphones baut und wer die T-Shirts näht. Man muss nichts von Menschenrechten wissen, um über den Umgang mit Geflüchteten zu urteilen. Und jenseits der zahllosen Ungerechtigkeiten unserer globalen Normalität ist inzwischen ein Ereignis auf den Plan getreten, an dem niemand mehr vorbeikommt. Mit größter menschenmöglicher Gewissheit rollt eine ökologische Katastrophe auf uns alle zu. Kein noch so privilegiertes Leben kann hoffen, davon unberührt zu bleiben.

Und dennoch wollen „die Leute“ es nicht hören. Nicht mit Vernunft, sondern vernünftelnd reagiert der Bürger auf das drohende Ende seiner Welt: mit falschem Realismus, falscher Ausgewogenheit und falscher Sorge um die „Akzeptanz in der Bevölkerung“. Hierin unterscheidet sich die gegenwärtige Situation vielleicht von allem, was früher schon als Ideologie kritisiert wurde. Die Fakten liegen auf dem Tisch und jeder kennt sie. Und es bedarf dann schon einer handfesten „Verdrängung“, wie Volker Lösch in seiner Rede sagte. Oder, wie der Soziologe Nils Kumkar in Bezug auf Alternative Fakten schreibt, um die „Verneinung“ einer geteilten gesellschaftlichen Wahrheit.

Man muss keine Historikerin sein, um sich auszumalen, was mit einer Demokratie passiert, wenn erst einmal die Ernten ausfallen und das Wasser knapp wird. Darum ist es nicht Geringschätzung der demokratischen Verfahren, sondern die höchste Sorge um deren Fortbestand, die Menschen aktuell in den zivilen Ungehorsam treibt. Auch hier beweist die Letzte Generation mehr Realismus als ihre konservativen Kritiker*innen. Die Gruppe fordert inzwischen einen Gesellschaftsrat, in dem eine repräsentative Zahl von Bürger*innen aus allen gesellschaftlichen Gruppen und unter fachlicher Beratung Vorschläge erarbeitet, wie Deutschland doch noch in kürzester Zeit klimaneutral werden kann. Vorschläge, die dann natürlich noch in letzter Instanz ein freies Parlament beschließen muss.

So problembeladen und unzulänglich solche Forderungen wirken, vielleicht gehen sie doch in die richtige Richtung. Denn angesichts unserer hartnäckigen bürgerlichen Normalität ist die Frage ja gerade: Wie überwinden wir eine verarmte Vorstellung von Politik, die nur als staatliche Dienstleistung begriffen wird und von der man möglichst wenig behelligt werden möchte? Wir brauchen dringend neue demokratische Formen, die den Menschen das Gefühl geben, selbst politisch wirksam zu sein – und damit verantwortlich nicht nur für den eigenen Vorgarten. Verantwortlich auch für die unsichtbaren Kosten des eigenen Lebens, im selben Boot mit den anderen, die nicht zufällig denselben Pass haben. Und nur in diesem Sinne, als unbedingte Zeitgenossen und Teile des Ganzen, wären wir dann doch (mit allen anderen) verantwortlich für alles.

Foto von Marcin Joswiak auf Unsplash

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