Das Gegenteil von Sichtbarkeit: Ein neues Gesetz verbietet Bücher mit queeren Themen in Russland

von Norma Schneider

In russischen Buchhandlungen und Bibliotheken sind in den letzten Monaten viele Bücher aus den Regalen verschwunden. Bücher von Regimegegner*innen, die die russische Regierung zu „ausländischen Agenten“ erklärt hat, werden teilweise noch mit Packpapier eingewickelt und mit Warnhinweisen versehen angeboten, während Romane und Sachbücher, die sich mit queeren Themen beschäftigen, so gut wie gar nicht mehr verkauft werden. In den Bibliotheken kursieren Listen mit unerwünschten Titeln, die ausgesondert werden, und Buchhändler*innen schicken Tausende Bücher an die Verlage zurück.

Das liegt nicht nur daran, dass vormals beliebte Autor*innen nun vom russischen Staat zu Verräter*innen erklärt werden oder – wie im Fall des international bekannten Bestsellerautors Dmitry Glukhovsky – per Haftbefehl gesucht werden, weil sie den Krieg gegen die Ukraine kritisieren. Sondern der härteste Schlag, den die russische Regierung dem kulturellen Leben im Land versetzt hat, ist ein neues Gesetz, das seit Anfang Dezember 2022 die Verbreitung von „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen, Geschlechtsumwandlungen und Pädophilie“ verbietet. Da der Begriff „nichttraditionelle Beziehungen“ in Russland alles meint, was nicht hetero ist, ist davon auszugehen, dass das Gesetz einem vollständigen Verbot queerer Inhalte gleichkommt. Betroffen sind davon nicht nur Bücher, sondern auch Filme, Serien und sämtliche Print- und Onlinemedien.

Nicht traditionell ist nicht erwünscht

Für Verstöße gegen das Verbot sieht das Gesetz hohe Geldstrafen vor. Beim dritten Verstoß kann die Schließung des Medienunternehmens für neunzig Tage angeordnet werden.  Felix Sandalov, Cheflektor des Moskauer Verlags Individuum, der noch kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes ein Buch über Homosexualität in der Sowjetunion veröffentlichte, sieht darin den Versuch, unerwünschte Verlage zur Schließung zu zwingen: „Neunzig Tage ohne Geschäftstätigkeit sind eine sehr lange Zeit. In diesem Zeitraum ist es nicht mal erlaubt, dass man seine Schulden begleicht. Ich denke, für die meisten Verlage sind neunzig Tage ohne Geschäftstätigkeit genug, um zu sterben.“ 

Viele Verlage sind verunsichert, denn was genau unter „Propaganda“ fällt, ist nicht klar definiert, in strenger Auslegung wäre es jede positive oder neutrale Thematisierung von LGBTIQ-Identitäten. „Aufgrund des vagen Wortlauts kann das Gesetz willkürlich ausgelegt werden, und die Grenzen dessen, was erlaubt und was verboten ist, bleiben unbestimmt (und das ist kein Zufall)“, schrieb die Literaturkritikerin Galina Yuzefovich im Dezember im oppositionellen Exilmedium Meduza. Deshalb sei die derzeitige Situation auf dem russischen Buchmarkt am besten mit „Bestürzung“ und „Ratlosigkeit“ zu beschreiben. „Die Branche ist erstarrt in Erwartung von Schauprozessen, die zeigen sollen, wie die Behörden die neuen repressiven Gesetze tatsächlich anzuwenden gedenken.“ Viele Verlage und Buchhändler*innen sind also besonders vorsichtig bei dem, was sie veröffentlichen und verkaufen.

Es seien nicht nur eindeutig queere Inhalte, die ins Visier geraten, erzählt Felix Sandalov. Bei den Behörden wurde eines der Bücher aus seinem Verlagsprogramm gemeldet, das zwar – so Sandalov – „ziemlich heterosexuell“ ist, in dem es aber um kinky Sex geht, was auch als nicht traditionell gelte. „Die Grenzen sind also sehr vage. Wenn man etwas schreibt wie: ‚Wir wollen heiraten und einen Haufen Kinder haben‘, ist das in Ordnung. Aber es gibt Millionen anderer Szenarien, und nicht alle davon sind willkommen.“

Die Zahl der Bücher, die potenziell von dem Gesetz betroffen sind, ist also sehr hoch. Denn Gegenwartsliteratur spielt nun mal meistens in der Gegenwart und wird „von Menschen mit einem zeitgemäßen Mindset“ geschrieben, wie Sandalov sagt. Gerade bei Übersetzungen aus dem Englischen dürften sich kaum aktuelle Romane finden lassen, in denen nur „traditionelle“ Beziehungen vorkommen. Und da viele Verlage, Buchhändler*innen und Betreiber*innen von E-Book-Plattformen dazu tendieren, lieber Titel in vorauseilendem Gehorsam aus dem Programm zu nehmen, statt die Grenzen auszutesten, sind die Auswirkungen auf den Buchmarkt – ganz zu schweigen von der Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen – dramatisch.

Russlands Feinde: Der Westen und ein schwuler Liebesroman

Dass es gerade jetzt zur Verabschiedung dieses einschneidenden Gesetzes kam, hat mehrere Gründe. Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 war auch der Beginn einer innenpolitischen Verschärfung: Zahlreiche restriktive Gesetze wurden erlassen, Regierungs- und vor allem Kriegsgegner*innen werden noch stärker unter Druck gesetzt und wegen Kleinigkeiten wie einem kritischen Social-Media-Post zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Lange hatte sich die russische Regierung darum bemüht, nach außen den Schein einer pluralen Gesellschaft zu wahren, in der Vielfalt und Meinungsfreiheit zwar beschränkt, aber noch ausreichend vorhanden zu sein schienen, damit westliche Staaten keinen zu großen Imageschaden fürchten mussten, wenn sie enge politische und wirtschaftliche Beziehungen mit Russland führten.

Seit das Putin-Regime mit Beginn des Angriffskrieges auf direkten Konfrontationskurs mit dem Westen gegangen ist, braucht es sich nicht mehr zurückzuhalten. Tatsächlich blieb nach Verabschiedung des Gesetzes der Aufschrei im Ausland aus – wohl weil es nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste der Ungeheuerlichkeiten seit dem 24. Februar 2022 zu sein scheint. Das Verbot queerer Inhalte unterstreicht Russlands politische Abgrenzung vom Westen. Seit Jahren werden in der staatlichen Propaganda Europa und die USA als feindliche Gesellschaften präsentiert, in denen angeblich die „traditionellen Werte“ verraten werden, vermeintliche Minderheiten den Diskurs bestimmen und Kinder zur Homosexualität erzogen würden, was langfristig zum Aussterben der Menschheit führen würde. Stimmung gegen „den Westen“ und für den Krieg zu machen, bedeutet in Russland immer auch, Stimmung gegen Toleranz und Vielfalt zu machen.

Der konkrete Anlass für das Gesetz, das nun den russischen Buchmarkt umkrempelt, hat tatsächlich mit einem Buch zu tun. Im Jahr 2021 erschien der Roman „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ von Katerina Silvanova und Elena Malisova im Verlag Popcorn Books. Der Schwesterverlag von Individuum hat sich auf Romane für junge Erwachsene spezialisiert, die sich mit Themen wie queerer Identität, Rassismus, Sexismus und Mental Health beschäftigen. „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ erzählt eine schwule Liebes- und Coming-of-age-Geschichte und wurde – nachdem der Roman auf TikTok viral ging – zu einem Bestseller. Etwa 300.000 Exemplare der romantischen Geschichte über zwei junge Männer, die sich im Pionier-Sommerlager kennenlernen, wurden verkauft. Eine Sensation: Nie zuvor hatte in Russland ein Buch mit queerer Thematik so viel Aufmerksamkeit erlangt – und queere Themen so viel Sichtbarkeit. Es war ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass die russische Gesellschaft längst nicht so queerfeindlich ist, wie die Regierung sich es wünschen würde.

Das Regime reagierte entsprechend: Es gab Medienkampagnen gegen das Buch und den Verlag. Der nationalistische Schriftsteller Sachar Prilepin sagte öffentlich, dass er nicht traurig darüber wäre, wenn jemand den Verlag anzünden würde, und Fernsehpropagandist Dmitri Kisseljow nahm das Buch in den Abendnachrichten auseinander, wo er sogar laut daraus vorlas. Die Drohungen wurden so massiv, dass die beiden Autorinnen des Romans Russland verlassen mussten. Mittlerweile wurden sie zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Bei den Parlamentsanhörungen zum Gesetz gegen queere Inhalte wurden „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ und der Verlag Popcorn Books mehrfach thematisiert, so dass wenig Zweifel bleibt, dass der Erfolg des Romans die Gesetzesinitiative wenn nicht provoziert, so mindestens vorangetrieben hat.

Eine Zukunft im Exil und im Untergrund

Als das Gesetz Ende November 2022 im Parlament verabschiedet wurde, aber noch nicht in Kraft getreten war, versuchten einige Leser*innen noch so viele Bücher wie möglich zu kaufen, bevor sie verboten sein würden. Popcorn Books starteten einen Ausverkauf ihrer Titel mit queerer Thematik, beim Verlag Individuum erlebte das kurz zuvor erschienene Buch über Homosexualität in der Sowjetunion „einen Tsunami an Verkäufen“, erzählt Felix Sandalov. „In diesem Fall musste man keine Werbung machen, weil die Leute ohne jeden Hinweis verstanden haben, dass es in absehbarer Zeit keine Chance mehr geben wird, etwas zu diesem Thema zu kaufen.“

In Zukunft werden die russischen Leser*innen Bücher zu queeren Themen wohl vor allem im Ausland oder bei internationalen E-Book-Plattformen finden. Verlage, die weiterhin Bücher mit queeren Themen veröffentlichen wollen, müssen nach kreativen Wegen suchen, der Strafverfolgung zu entgehen, und werden wohl langfristig nicht darum herumkommen, Dependancen im Ausland zu eröffnen. Innerhalb Russlands werden Autor*innen Bücher mit queeren Themen wohl nur noch in selbstproduzierten Kleinstauflagen veröffentlichen können. Der zu Zeiten der Sowjetunion verbreitete Samisdat – selbstverlegte Texte, die über inoffizielle Wege vertrieben werden, um die Zensur zu umgehen – wird eine neue Blüte erleben. Doch die Sichtbarkeit und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit eines queeren Bestsellers werden solche Publikationen nie erreichen können. Einige Leser*innen werden dem Medium Buch vielleicht auch ganz den Rücken kehren und queere Geschichten in anderen Medien suchen – in Fanfiction-Foren zum Beispiel, die ohnehin ein wichtiger Schutzraum für queere Narrative sind, nicht nur in Russland.

Die Zukunft der Schwesterverlage Popcorn Books und Individuum ist ungewiss. Anfang Januar wurde ein Strafverfahren gegen Popcorn Books wegen des Verstoßes gegen das neue Gesetz eingeleitet und der Verlag wird eine Geldstrafe zahlen müssen. Bisher sind solche Fälle vor allem individuell motiviert, Einzelpersonen reichen bei den Behörden Beschwerden über Inhalte ein, die sie anstößig finden. Auch die für die Medienaufsicht und Zensur zuständige Behörde Roskomnadsor hat bisher ihre Daten vor allem manuell durch Mitarbeiter*innen erfasst, so dass eine systematische Überwachung des Buchmarkts nicht möglich war. Doch es gibt bereits Pläne für eine automatisierte Überwachung des gesamten russischen Internets – und damit auch aller E-Books. „Die Ergebnisse werden dann in sehr kurzer Zeit geliefert. Das wird eine viel größere Wirkung haben und viel mehr Komplikationen mit sich bringen, für alle“, berichtet Felix Sandalov, und fügt hinzu: „Gleichzeitig glaube ich, dass man auch mit der Maschine Katz und Maus spielen kann, aber es ist schwieriger.“ Vor allem wenn man, wie Popcorn Books, bereits im Fokus der Behörden steht. „Ich denke nicht, dass Popcorn im Moment noch die Bücher in Russland herausbringen könnte, die sie früher veröffentlicht haben. Das wäre ein selbstmörderischer Akt“, sagt Sandalov. Deshalb gibt es Überlegungen, Literatur mit queeren Themen in Zukunft im Ausland zu vertreiben und nur den unverfänglichen Teil des Programms in Russland zu belassen.

Bei Sandalovs Verlag sieht die Sache noch ein wenig anders aus. Da bei Individuum vor allem Sachbücher zu aktuellen und oft kontroversen Themen veröffentlicht werden, ist der Verlag nicht nur vom Verbot queerer Inhalte betroffen, sondern auch von anderen restriktiven Gesetzen wie dem gegen die „Diskreditierung der russischen Armee“, die eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Themen kriminalisieren. „Es ist schwierig, die Realität, in der wir leben, aus Sachbüchern herauszuhalten. Wir müssen auf das reagieren, was vor sich geht, und das ist mit den bestehenden Gesetzen wirklich schwer zu machen“, sagt Sandalov. Doch er will weitermachen, solange es geht, und an geplanten Buchprojekten festhalten, auch wenn es sich ein wenig anfühlt „wie ein Minenfeld“, durch das er sich bewegen muss. „Mir ist klar, dass es erstaunlich ist, dass ein Verlag wie Individuum im heutigen Russland existieren kann. Mit jedem Tag wird mir mehr und mehr bewusst, dass das wie Schnee im Sommer ist, dass das eigentlich nicht sein kann. Das ist mir klar, trotzdem möchte ich so lange wie möglich daran festhalten. Aber ich weiß natürlich, wie das ausgehen wird.“ Es gibt deshalb auch für seinen Verlag Pläne, etwas im Ausland zu etablieren.

Das Ende der Repräsentation

Das Verbot der „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“ zeigt, dass die russische Regierung weder davor zurückschreckt, die Lebensrealität eines Teils der Bevölkerung zu Propaganda zu erklären, noch davor, das kulturelle Leben im Land vollständig umzukrempeln. Was das Gesetz im Vergleich zu anderen restriktiven Gesetzen so einschneidend macht, ist, dass es eben nicht nur Regierungskritik und explizit politische Themen in Russland betrifft, sondern bereits das offene Sprechen über den Alltag vieler Menschen kriminalisiert. Etwas so harmlos Erscheinendes wie ein unterhaltsamer Liebesroman wird nicht bloß zum Skandal, was bereits absurd genug erscheinen würde, sondern zur Straftat. Es scheint, als hätte die russische Regierung verstanden, wie wirkmächtig Sichtbarkeit und Repräsentation queerer Menschen sein kann, so dass sie versucht, sie um jeden Preis zu unterbinden.

Bisher sind die Folgen des Gesetzes noch nicht vollständig abzusehen, doch sie werden dramatisch sein. Dass ein russischer Streaming-Anbieter die Serie „Sex and the City“ nur noch in zensierter Version ausstrahlt – die Wörter „schwul“ und „lesbisch“ wurden herausgeschnitten – ist wohl nur die erste absurde Folge dieser neuen Realität. „Es kann sein, dass einige der wichtigsten Romane der Weltliteratur in Zukunft nicht auf Russisch erscheinen werden, weil eine Nebenfigur in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung ist“, erklärte die Literaturkritikerin Natalia Lomykina im März 2023 gegenüber Forbes.

Aufgeschlossene Leser*innen in Russland werden wohl auch in Zukunft Wege finden, die Texte zu lesen, die sie interessieren, und russische Autor*innen, die sich weigern, sich selbst zu zensieren, werden Möglichkeiten finden, ihre Texte zu veröffentlichen. Vieles davon wird allerdings außerhalb des russischen Buchmarkts stattfinden – im Samisdat, auf im Ausland gehosteten Onlineplattformen, in Exilverlagen. Doch die Texte, die dort veröffentlicht werden, erreichen nur diejenigen, die gezielt nach ihnen suchen. Repräsentation von queeren Themen in der Massenkultur wird es keine mehr geben, und damit auch nicht die Möglichkeit, unpolitische Menschen in Russland dazu zu bringen, die staatliche Propaganda zu hinterfragen. Queere Menschen werden so weiter in die Unsichtbarkeit gedrängt und einmal mehr die Realität zur Propaganda erklärt.

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