Kategorie: sticky

Als ich schrieb (Mutterschaftsvariationen)  

von Marie-Sophie Adeoso

I

Als ich schrieb, hörte ich wieder mal lautes Gebrüll.

Ich stand auf, spendete Trost und kehrte zurück zu den Worten, ich schrieb und da klebte es mir an den Socken, ich stand auf, wischte Saft vom Parkett, wieder trocken, als ich schrieb, dachte ich nach, wie der Satz einmal enden – fiel mir ein, dass der Einkauf noch – mit den Händen griff ich Taschen und  Leergut, griff Kinder und Mützen, griff Gummistiefel, draußen die Pfützen, griff Schlüssel und Mülltüten, die Windeln  stanken, griff alles, ins Treppenhaus – ab mit euch! –  schwankten wir raus, immer raus in den Regen, den Laden, den Alltag, das Leben, als ich schrieb, kam mir all das mal wieder  entgegen, dazwischen –

II

Der Roman schreibt sich nicht von selbst. Ich schreibe mich in ihn ein, Nacht für Nacht, wenn neben mir der Atem eines  kleinen Menschen ruhiger oder unruhiger wird, je nachdem. Ich  schreibe im Kopf, während es an meiner Brust zieht, während ich Hunger oder Durst oder Unruhe stille und in mir die Unruhe Hand in Hand mit der Müdigkeit wächst.

Mir zerfallen die Jahre unter den Fingern zu Staub, den ich  ständig aufsaugen muss aus den Ritzen im Parkett, in denen er  sich sammelt, gemeinsam mit Essensresten und Spielplatzsand.  Der Staub verfliegt, ein Jahr nach dem anderen, in dem ich  nicht schrieb. In dem ich ansetzte und gleich wieder ab, weil  ich nur mal kurz den Alltag schaukelte im Arm und ein Kind auf  jedem Knie und mir dazwischen die Worte abhandenkamen. Ich  suche sie nachts, wenn neben mir der Atem des einen oder  anderen kleinen Menschen ruhiger oder unruhiger wird, je nachdem. Ich denke ans Schreiben: immer und immer und immer –

so, wie man im Winter an den Sommer denkt, wenn man friert. Ich schreibe den Roman nicht, er schreibt sich in mich ein, schreibt mir den Kopf voll, beherrscht ihn und schreibt sich doch nicht von selbst. Mutter schläft und schreibt nicht und wird früh geweckt.

III

Ich werde alles anders machen als du. Ich werde alles genauso machen wie du. Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast. Ich weiß nicht, wie du meine Mutter warst. Ich weiß nicht, welche Mutter ich sein will, sein kann. Ich hatte keine. Doch, hatte eine. Habe eine. In mir. Sie schreibt sich nach draußen. Totgeburt.

IV

Ich sehe, wie du fällst. Wie du aus meinem Blickfeld stürzt.

Ich sehe, dass ich dich nicht mehr sehe, sehe den Schrei, der mir entfährt, rot in der Luft stehen, sehe mich selbst dorthin hasten, wo ich dich wieder sehen kann, sehe in mir vor mir, wie du zertrümmert auf den Steinen liegst, die Glieder verrenkt, laufe weiter, stolpere, fliege die Treppen hinab, sehe dich wirklich jetzt, klein und komplett, höre dich, greife dich, deine Arme, deine Beine, deinen Kopf, taste dich ab, alles dran, alles da, bist du heil?, sag mir, wo schmerzt  es dich?, herz ich dich, Brennnesselstich, überall pikst es dich und über dir biegt er sich, der Ast, der dich fing, deinen Sturz stoppte, dann knickte, dann brach und dich absetzte im Brennnesselbeet, aua, aua, au, au, wimmerst du;  danke, stammle ich und halte den Ast, der brach, so dass du nicht brächest, nicht in Teile zerfielest, es dich nur pikste  und pikste und ich küsse deine Tränen und ich streichle deine  Stiche und ich halte deine Glieder, die zerstochenen, nicht zerbrochenen, die Glück gehabt haben, was ein Glück, was ein  Glück –

V

Der Roman schreibt sich nicht von selbst. Ich schreibe mich in ihn ein, Nacht für Nacht, ohne Worte. Vielleicht träume ich es nur, wenn die Gedanken sich gegen die Wände werfen, wie ein eingesperrtes Tier, sie sich wundscheuern und weniger werden, wüster und düsterer werden in den Nächten, die keine Nächte sind, weil die Tage länger werden und die Kinder sich sträuben, sie loszulassen und sich den Nachtresten anzuvertrauen, in denen ich schreiben könnte, wenn sie schweigen würden, wenn ich nicht schreien würde, weil ich Ruhe brauche, Ruhe, Ruhe und Schlaf, der mir die letzte Zeit zum Schreiben raubt.

VI

Ich werde schreiben – du hast gemalt. Deine Bilder an meiner Wand. Meine Texte in wessen Buch? Ich werde etwas hinterlassen, das bleibt, wenn ich jetzt sterben müsste. Wenn ich die Kinder hinterließe, so, wie du mich einst zurückgelassen hast. Ich werde schreiben werde bleiben werde leben. Du bist tot. Ich halte dich am Leben, weil es nicht auszuhalten ist sonst. Wie denn sonst –

VII

Plötzlich bist du da. Nachts aus der Wärme geholt auf einen Streich, viel zu früh.

Plötzlich bist du weg, ich bleibe zurück, den Bauch leer, die Brust voll, die Beine taub – ich habe dich doch noch gar nicht gesehen.

Sie fahren mich zu dir, ich kann nicht stehen, ich schaue dich an, du kannst mich nicht sehen, die Augen geschlossen, dein Atem gestützt, dein Körper geschützt vor der Welt, ein bisschen Mensch und sehr viele Kabel, und dann schwindelt es mich und sie betten mich und wir sind wieder allein, du und ich, in unseren Betten getrennt.

Und wo, fragt der Mann am Bett neben meiner Einsamkeit, und wo, fragt der Mann, dessen Frau neben meinen Schmerz gebettet  wurde, und wo, fragt der Mann, ist denn Ihr Kind eigentlich? Wenn es nicht lebt, sagt der Mann, der sein Neugeborenes auf dem Arme wiegt, dann können Sie ja noch eines  –

Sie sind doch noch jung.

VIII

Als ich schrieb, schreiben wollte, schrieb ich mal wieder nicht. Vertagte auf später. Hielt dicht. Biss mich durch. Durchhalten, Leben gestalten, das der anderen, das an meinem hängt. An meinem Schreibtisch mit Aussicht, mit Aufsicht türme ich  Bauklötze und Überstunden auf nie geschriebene Sätze

auf die Plätze

fertig

̶l̶o̶s̶

IX

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass die ungeschriebenen Sätze sich festsetzen, ohne dass ich sie lesen könnte.

Sie kitzeln mich wach, ziehen mir die Decke weg und strecken mir ihre Füße ins Gesicht. Ihre ungesetzten Worte tanzen durchs Haus, lachend, unbeschwert, werfen die Milch um, knallen mit Türen und wischen ihre Marmeladenfinger an mir ab.

Die ungeschriebenen Sätze schicken mir E-Mails und Rechnungen, sie flimmern auf allen Bildschirmen und folgen mir bis aufs  Klo.

Sie sind schon wieder so groß geworden, denke ich mir, umarme sie und wünschte, ich wäre mehr für sie da.

X

Ich kenne mich nur als schreibenden Menschen. Du gingst, ehe ich schreiben konnte. Was lese ich da hinein? Was hast du in mich eingeschrieben? Was ist geblieben von dir? Was bleibt von mir?

Schreib mir.

XI

Der Roman schreibt sich nicht von selbst.

Mein Leben schreibt die besten Geschichten ohne mich auf und scheißt auf die schiefen Sprachbilder an den Wänden

Meine Reime sind Schweine und grunzen im Takt

Meine Kinder spielen Fußball in meinen Worten und zerschlagen kichernd Satz für Satz

Sie lernen reden und lesen und schreiben

Im Hier und Jetzt spielt die Musik. Tanzen, Mama!, rufen sie.  Tanzen! Und ich tanze und ich lache und ich schwebe und ich  schwitze und ich kitzle und ich singe und ich springe und ich  fliege mit ihnen um die Welt

Schreiben ist ein Kinderspiel

Mutterschaft ist ein Gedicht

XII

Als ich schrieb, hörte ich wieder mal lautes Gebrüll.

Ich stand auf, spendete Trost und kehrte zurück zu den Worten, ich schrieb und da klebte es mir an den Socken, ich stand auf, wischte Saft vom Parkett, wieder trocken, als ich schrieb, dachte ich nach, wie der Satz einmal enden – ich stand auf, setzte den Punkt und trug beide gemeinsam ins Bett.

 

Photo by Chris Barbalis

Mütter, schreibt! – Das Problem der Zeitpolitik

von Mareice Kaiser

 

Was für mich als Autorin nie schwierig ist: Ein Thema zu finden, über das ich schreiben möchte. Jeden Tag finde ich mehrere, zu denen ich Texte schreiben könnte. Leider. Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, eine Arbeitsmarktpolitik, die sich an kinderlosen Männern ausrichtet, ein Schulsystem, das Bildungsungerechtigkeit vergrößert, politische Entscheidungen zur Kinderbetreuung, die gut klingen, in der Umsetzung aber nicht viel bringen. An Themen mangelt es mir nie. An Zeit immer. Weiterlesen

Splitterstücke

von Berit Glanz

[CN Stille Geburt]

Die Bilder erscheinen und ich schaue mit angehaltenem Atem nach den kleinen bewegten Punkten in der schwarz-weißen Flimmerfläche – Herzschläge. Mein Freund drückt mir die Hand, als er die beiden Herzen auf dem überdimensionierten Bildschirm klopfen sieht und ich atme aus. Den Zwillingen geht es gut. Ihre kleinen Herzen schlagen gleichmäßig und es fühlt sich an, als würden sie mir einen Code senden, eine Nachricht, dass das Leben stärker ist als die Angst. Weiterlesen

Vom Nutzen der wirklich langen Sicht – Das Handbuch für Zeitreisende von Kathrin Passig und Aleks Scholz

von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

 

„Earth is our only time machine.“
Dana Levin

Es gibt viele Arten, in der Zeit zu reisen: Atmen Sie ein und aus und Schwupps – sind Sie ein wenig weiter in die Zukunft gerückt. Das Internet bietet ebenfalls Möglichkeiten, besonders schön: die ‘Erdkugel aus alter Zeit’. Diese zeigt Ihnen u.a. an, wie sie vor, sagen wir, 470 Millionen Jahren aussah, als sich die ersten Korallenriffe formten. Manche Zeitreise vollziehen Sie unfreiwillig: als Mutter etwa während der jüngsten Pandemie, die einen teils in die 50er Jahre zurückzuversetzen schien. Weiterlesen

Mehr als ‚nur symbolisch‘ – Statuensturz, Hashtag-Proteste und konnektives Erinnern

Von Tobias Gralke

 

Zwei Wochen ist es her, dass #Bristol in den Twitter-Trends stand. Am 7. Juni 2020 stürzten Aktivist*innen in der britischen Großstadt eine Statue des Kolonialverbrechers Edward Colston, rollten sie durch die Straßen und wuchteten sie jubelnd ins Becken des Hafens, der im 18. Jahrhundert ein wichtiger Ort des transatlantischen Handels mit versklavten Menschen und Kolonialwaren gewesen war. Bilder des Statuensturzes verbreiteten sich schnell in den Sozialen Netzwerken und machten die Aktion zu einem transnationalen Medienereignis, noch bevor sie in der journalistischen Berichterstattung auftauchte. Der Statuensturz von Bristol konkretisierte einen vor Ort bereits seit Längerem bestehenden Konflikt und fügte sich im Kontext der aktuellen #BlackLivesMatter-Proteste in eine Reihe vergleichbarer Akte in den USA, Neuseeland und Belgien ein. Auch in Deutschland ist aus einem Anliegen, das von der weißen Mehrheitsgesellschaft bislang ignoriert oder freundlich abmoderiert werden konnte, zumindest ansatzweise eine breitere Diskussion über den kritischen Umgang mit Kolonialdenkmälern geworden. Weiterlesen

Der Gefangene der Freiheit

Ein Essay von Christian Johannes Idskov, aus dem Dänischen übersetzt von Matthias Friedrich

 

Am 30. April kam die Nachricht von Yahya Hassans Tod. Der Dichter wurde nur 24 Jahre alt. Dieser Essay wurde am 03. März fertiggestellt und war als Beitrag für die erste diesjährige Vagant-Ausgabe mit einem Thementeil über Ungleichheit und soziale Absicherung geplant. Wir veröffentlichen ihn an dieser Stelle ungekürzt und unverändert.

 

Wie konnte das geschehen? Weshalb musste es ihm so ergehen? Vielen in Dänemark erschien Yahya Hassan lange als schwer zu verstehender Fremder. Doch jetzt, da man die Umrisse seines Lebenswegs erkennt – vom unangepassten jugendlichen Kriminellen zum landesweit bekannten Dichter und später zum Gewaltverbrecher in Isolationshaft und Drogensüchtigen im Entzug –, ist man dennoch schwerlich überrascht. Hatten wir, die wir ihm in den letzten sieben Jahren mit Hilfe der Medien folgten, wirklich etwas Positiveres erwartet? Eine glückliche Entfaltung? Ein geborgenes und sicheres Leben? Stattdessen hat Yahya Hassans gesellschaftlicher Aufstieg die Vorurteile der Öffentlichkeit scheinbar bestätigt: dass man den Jungen vielleicht aus dem Brennpunkt, nicht aber den Brennpunkt aus dem Jungen entfernen kann. Bereits im Debütband schien er zu wissen, dass sein Schicksal besiegelt war: „MEINE PORNOSEELE MEINE GELDSEELE MEINE GEFÄNGNISSEELE / NEHMT MICH RUHIG GEFANGEN“.

*

Natürlich war es Yahya Hassan, der sagte: „Ich verstehe ihn.“ Es ist das Jahr 2015, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Debüts, und Yahya Hassan ist auf dem Höhepunkt seines Starstatus. Der Mann, von dem der junge Dichter spricht, heißt Omar Abdel Hamid El-Hussein. Der Terrorist, der am 14. und 15. Februar 2015 in einem der größten Terroranschläge in Dänemarks Geschichte den Journalisten Finn Nørgaard und den jüdischen Türsteher Dan Uzan erschoss sowie fünf Polizeibeamte verletzte – bevor er in einem Schusswechsel mit dem Sondereinsatzkommando der Polizei selbst auf offener Straße getötet wurde.

Yahya Hassan brachte El-Husseins Verbrechen keine Sympathie entgegen – „natürlich sollte man so einen Idioten bekämpfen“, sagte er der Zeitung Politiken in der Zeit nach dem Anschlag (20.05.2015) –, doch wenn man heute die Äußerungen des Dichters liest, ist ein Zweifel unmöglich: Yahya Hassan sah in dem drei Jahre älteren Omar eine Schicksalsgemeinschaft.

In ihrer Kindheit lebten beide in Flüchtlingslagern im Mittleren Osten, sie wuchsen in sozial benachteiligten dänischen Wohngebieten auf und waren in gewalt- und bandenkriminellen Milieus aktiv. Yahya Hassan lief Omar El-Hussein niemals über den Weg, aber sie beide waren junge, wurzellose Kleinkriminelle, die das Gefühl hatten, ihr Dasein befände sich außerhalb der eigenen Kontrolle: „Wie ich steckte auch er ganz unten in der Gesellschaft fest. Die palästinensische Situation erzürnte, der Rechtsruck in Europa verwirrte ihn.“ Und Yahya Hassan sagte auch: „Er beging Verbrechen, während er boxte und seine Leidenschaft und sein Talent zu finden versuchte. Ich machte Verbrechen wieder gut, während ich einen Gedichtband schrieb. Er verlor seinen Boxkampf und machte mit der automatischen Schusswaffe weiter. Ich hatte das Glück, veröffentlicht zu werden.“ Zum Schluss fügte er an: „Ich sagte nicht, dass ich als Terrorist geendet wäre, aber ich hätte in einem ähnlichen Umfeld festgesessen.“

*

Liest man heute YAHYA HASSAN (2013), seinen ersten Gedichtband, ist der Eindruck auf vielerlei Arten ein anderer als beim Erscheinen im Oktober 2013. Die Gedichte haben nichts eingebüßt, im Gegenteil, sie wirken hemmungsloser und komplexer. Kann man sagen, dass sie unabhängiger von der Welt geworden sind? Vielleicht dürfen sie sich erst jetzt als Lyrik offenbaren.

Damals, 2013, ließ sich das Debüt unmöglich von der politischen Debatte getrennt lesen. Viele betrachteten den Gedichtband als Augenzeugenbericht aus einem Brennpunkt, den zu betreten nur wenigen gestattet war. Der Grund dafür war einleuchtend. Zwei Wochen vor der Veröffentlichung hatte Yahya Hassan einen gewaltigen Aufruhr verursacht, als er im meistgelesenen Interview in der Geschichte der Zeitung Politiken (05.10.2013) von einer Unterschichtenkindheit erzählte, die geprägt war von Gewalt und Vernachlässigung: „Ich habe einen verfickten Hass auf die Generation meiner Eltern.“ Wie so viele andere Einwandererfamilien kam seine eigene in den Achtzigerjahren nach Dänemark. „Wir, die Ausbildungen abgebrochen haben, wir, die kriminell geworden und wir, die zu Pennern geworden sind, wir wurden nicht vom System vernachlässigt, sondern von unseren Eltern. Wir sind die elternlose Generation“, sagte er.

Zu dieser Zeit hatte der junge Dichter im Fernsehen und in Zeitungen eine ganze Menge zu erzählen. Er erzählte vom Leben in einem Brennpunkt mit einer „durchgängigen sozialen Verderbtheit“ und einer „moralischen Heuchelei ohnegleichen“. Seine Geschichten handelten von einer neudänischen Unterschicht, kontrolliert von gewalttätigen Vätern, die willig waren, den Koran zu rezitieren, in die Moschee zu gehen und „Heilige zu spielen“, wohingegen sie gleichzeitig kein Problem damit hatten, „das Sozialsystem auszutricksen und zu betrügen“, wie Hassan es im Politiken-Interview ausdrückte.

Heute lässt sich schwer übersehen, wie der erst 17-, 18-jährige Dichter nahezu eigenhändig andere Maßstäbe für eine vollkommen festgefahrene Debatte über Brennpunkte, Geflüchtete und den Islam in Dänemark setzte. Die Kritiker der Rechten hatten in den vergangenen Jahren durchgehend moniert, es käme zu einem Kampf zwischen den Kulturen, weil radikale Muslime die Freiheitsrechte einschränken würden, wohingegen die Linke die Kritik an der kulturellen Begegnung ablehnte und die Fahnen der Toleranz hisste, wenn sie Einwanderungsprobleme nicht gerade äußerst wohlwollend als ein Klassenproblem beschrieb. Der Wertekonflikt der dänischen Nullerjahre hatte eine neue Hauptperson bekommen. Nach der Veröffentlichung von YAHYA HASSAN waren die meisten sich einig, dass es in betroffenen Einwanderermilieus Probleme gab, die jetzt auf einmal – blitzartig – unmöglich zu ignorieren waren.

Aber was ist mit den Gedichten? Hatten die etwas mehr zu erzählen? Zuvorderst waren sie von einer an subjektzentrierte Lyrik erinnernden Verbrecherattitüde angetrieben, die mit einem singenden, zornerfüllten Koranvokal und überraschenden, provokanten Bildfindungen das Einwanderermilieu mit sozialer Unterdrückung und patriarchaler Gewalt verkoppelte: „FÜNF KINDER IN AUFSTELLUNG UND EIN VATER MIT KNÜPPEL / VIELFLENNEREI UND EINE PFÜTZE MIT PISSE“, lauteten die ersten Verse. Geschichten von Barbarei in intimsten Zusammenhängen waren es, die an mehreren Stellen den Gedichtband dominierten, und die Rechte guckte auf den jungen Dichter und sagte: Seht, wir haben es ja gewusst! Die Kultur der Muslime sei eine Kultur der Gewalt, die die unantastbare Freiheit des Individuums nicht verstehe. Und die Linke sagte: Vergesst es! Die Konzentration von Geflüchteten und Armut in Wohnblöcken schaffe soziale Probleme, die wiederum Gewalt und Vernachlässigung erzeugten. Nur von der muslimischen Minderheit wurde er nicht gelobt. Als er kurz nach der Veröffentlichung seine Gedichte im Odense-Vorort Vollsmose vortragen sollte, geschah dies mit Polizeiaufgebot, Helikoptern in der Luft und Live-Übertragung im Fernsehen. Ganz Dänemark war dabei, aber als der junge Dichter in den Wohnblock zurückkehrte, saß in den Zuschauerrängen des Saals fast niemand mit muslimischem Hintergrund. In Schweden schrieb die Dichterin Athena Farrokhzad in einer Besprechung des Buches (Aftonbladet, 17.03.2014), es gebe Themen, über die man ganz einfach nicht schreiben könne, wenn man aus einer muslimischen Minderheit komme. „Es fühlt sich unmöglich an, sie einer überwiegend weißen Öffentlichkeit zu schildern.“

Farrokhzads Kritik führte zu einer großen Debatte über die verschiedenen Erfahrungen von Minoritätsgruppen und wie diese literarisch umgesetzt und, nicht zuletzt, mit den weißen Mitmenschen diskutiert würden. Yahya Hassans Gedichtband war allerdings viel mehr als eine Kritik an der patriarchalen Gewalt- und Schnorrerkultur der neudänischen Unterschicht oder ein „Geschenk an die Dänische Volkspartei“, wie Farrokhzad meinte. Es war ein Buch, das bereits im ersten Gedicht den Blick vom sozialen Elend in den Wohnblöcken in Aarhus Vest auf einen Mittleren Osten mit Drohnen, Krieg, Flüchtlingslagern und Zerstörung lenkte. Es zeichnete die gesamte Reaktionskette nach, die der sozialen Katastrophe in Dänemark zugrunde lag. Kurz, die Gedichte waren die Antwort einer zornigen neuen Stimme: Hier stellte er die kriegsführenden Dänen vor die Konsequenzen ihrer politischen Handlungen. Geschichte und Globalisierung suchten nun diese naive Nation mit dem zornigen, jungen Dichter als Opfer und Boten heim. Bitteschön, Dänemark, hier habt ihr mich, eines der vielen kriegsgeschädigten Kinder des Mittleren Ostens!

*

Die Vorstellung, dass Yahya Hassan sich bereits im Alter von siebzehn Jahren dazu berufen fühlte, sich selbst als Prophet zu porträtieren, ist unglaublich. Überall in seinem ersten Buch findet man diesen singenden Verkündungsdrang, ganz so, als wäre er endlich hier, Gottes ungezogene Sohn, der nächste falsche Messias, er, der sich vom Glauben entfernt hat: „DOCH SIEHE WAS SATAN HINTERLASSEN HAT / EINE EWIGE FLAMME AUS SEINER HÖLLE“. Yahya Hassan stellt sich selbst als Nachkommen vom Urmenschen der Zivilisation dar. Wieder und wieder beschreibt er sich als „Höhlenbewohner“, einen halben Mohammed, den gewöhnlichen Menschen des islamischen Glaubens, der jeden Tag versucht, aber dennoch niemals wünscht, die Offenbarung zu erlangen und sich als Allahs besonders Auserwählten zu zeigen. Wie Jesus trägt er die Leiden seines Volkes. Er ist ein exilierter, staatenloser Palästinenser mit einer gefährlichen Vaterbeziehung, ein zorniger, junger Mann, gefangen zwischen verschiedenen Identitäten. Kurz: ein Prophet mit vielen Identitäten.

*

Mit am Interessantesten an Yahya Hassan sind seine Versuche, sich immerzu von den Fesseln, die ihn gefangen nehmen wollten, loszureißen. Auf paradoxe Art ist er immer gewesen, was sich die liberale Gesellschaft für das moderne Individuum erträumt hat: Er hat gegen seinen sozialen Hintergrund und sein Erbe aufbegehrt, den kulturellen Verbindungen, die ihm bei Geburt mitgegeben wurden, ist er ausgewichen, ebenso hat er sich einer rücksichtslosen und unbedingten Neuerfindung hingegeben: ja, größtenteils allen Arten der Befreiung, die wir aus der spätkapitalistischen Gesellschaft kennen.

Rückblickend ist es überhaupt nicht schwer, Yahya Hassan als das zu sehen, was Friedrich Nietzsche als „Legionär des Augenblicks“ bezeichnete. Der junge Dichter trat in einen Leerraum hinein, den vor ihm nur die wenigsten gesehen hatten. Obwohl sich auch hier die dänische Einwanderungsdebatte nicht überhören ließ, war sie auch im Pausenmodus. Der junge Dichter wollte sich weder mit der einen noch mit der anderen Seite versöhnen. Er hatte die Gemeinschaften der Gesellschaft nicht aufgegeben, sondern meinte, sie selbst gestalten zu können. Anders ausgedrückt, Yahya Hassan sah die Möglichkeit, sich selbst in einem postrevolutionären Vakuum zu manifestieren, das zu  diesen nietzscheanischen Augenblickslegionäre gewesen ist: Emigrant*innen, Initiator*innen, Redakteur*innen, Dichter*innen, Scharlatan*innen und politischen Aufrührer*innen gehört hat. Personen, die sich selbst als Vorhut der Geschichte begreifen. Die, die das Chaos nicht fürchten, sondern davon zehren.

*

Bei einer derartigen Manifestationskraft lässt sich nichts dagegen einwenden, dass sich Yahya Hassan eine Zeitlang als Politiker versuchte. 2014 wurde er Sprecher der Nationalpartei, gegründet von den Brüdern Kashif Ahmad, Aamer Ahmad und Asif Ahmad. Für die erste Pressekonferenz bemächtigte sich der junge Dichter der Bühne, als handele es sich um einen Gedichtvortrag. Vierzig Minuten lang las er aus einem politischen Manifest mit Ausrufezeichen und wütenden Schlachtrufen:

Wir sind keine bürgerliche Partei. Wir sind eine Partei der Bürger*innen und haben die Mitte eingenommen, um uns in Richtung der Vernunft vorzuarbeiten. Wir sind eine Plattform für unabhängige Stimmen, die nicht in die Mikrofone der Banken schreien. Die nicht in die Mikrofone der Waffenhändler*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamist*innen schreien. Die nicht in die Mikrofone der Islamophoben schreien. Wir sind Dänemark.

Die Idee der Partei war, die politische Landschaft zu zersplittern und denjenigen Parteien, die in ihrer Ideologie verstaubt wirkten, den Rang abzulaufen. Es ging darum, den Einwanderern des Landes ein neues politisches Gesicht zu geben, doch zugleich hatte die Partei keine Angst, dort anzusetzen, wo eine Zerstörung des langweiligen gesellschaftlichen Erbes am meisten wehtat. Unter anderem wollte die Nationalpartei Geflüchteten verbieten, in die Brennpunktviertel der Großstädte zu ziehen, stattdessen sollten sie im Rest des Landes verteilt werden – ein Vorschlag, den die bürgerlichen Parteien 2018 mit der Linken an der Spitze beinahe eins zu eins mit Ja durchsetzten und der von Rune Lykkeberg, dem Chefredakteur der Zeitung Information, als endgültige Kapitulation vor den Sozialdemokraten bezeichnet wurde (02.03.2018). Das sogenannte Brennpunktpaket ist von der UN scharf kritisiert worden.

Yahya Hassans Karriere als Politiker sollte jedoch jäh enden. Weniger als elf Monate später wurde der Dichter aus der Partei geworfen, nachdem er unter Drogeneinfluss Auto gefahren war. Bis dahin war es zu mehreren Zwischenfällen gekommen, einige davon aufgezeichnet in seinem persönlichen Facebook-Livestream, in dem der junge Dichter Nachrichten an alle Personen aus dem Bandenmilieu schickte, die ihm anscheinend nach dem Leben trachteten. Während er eine kugelsichere Weste trug, sagte er zu Allan Silberbrandt, dem Nachrichtenmoderator des Senders TV2: „Die Sache ist die, dass ich der Partei und meinem Vorsitzenden zu einem frühen Zeitpunkt des politischen Prozesses klargemacht habe, dass ich eine Person bin, die bedroht wird und sich auf der Straße mit Leuten prügeln muss.“ Auf halbem Weg aus dem Studio setzte er seinen Monolog fort, ohne sich vom Moderator unterbrechen zu lassen: „Mit euch hab ich nichts mehr zu bereden. Wie es ums Land steht, hab ich schon gesagt. Fickt euch mit eurem bürgerlichen Wischiwaschi und euren ganzen Lügengeschichten. Intrigen anzetteln könnt ihr gegen mich und meinen Schwanz, so viel ihr wollt. Mein Schwanz ist beschnitten und schön. Dir noch ‘nen guten Abend, ich mag dich wirklich gern, und grüß Pia [Kjærsgaard, frühere Vorsitzende der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei, A. d. Ü.].“ Via Facebook schickte er einen letzten Gruß: „Ab heute Abend schreibe ich nur noch Gedichte und Todesanzeigen.“

*

Wenn man über Yahya Hassan spricht, ist eine Trennung von Maske und echtem Leben sinnlos. Größenwahn, knallharter Zynismus und Übertreibungskunst waren von Beginn an tragende Elemente seiner Selbstdarstellung – ganz gleich, ob es um seine lauthals vorgetragenen Gedichte, zügellosen Fernsehauftritte oder temperamentvollen Videos in sozialen Medien geht. Yahya Hassan ist auch ein Kind der modernen Technologie- und Informationsverbreitung. Er wurde sowohl verfolgt als auch verehrt, aber die öffentliche Ordnung hat er selbst zuerst gestört: Er hat gegen seine Herkunft aufbegehrt, sich aber niemals irgendeiner Art von dänischer Identität untergeordnet. Er hat die Autoritäten um sich herum niemals akzeptiert, aber er wollte sich auch nie etwas für sich selbst aufbauen. Er war, wie der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk es formulieren würde, zur Freiheit gezwungen. Man könnte ihn als einen Gefangenen der Freiheit bezeichnen. Einen vaterlosen, staatenlosen Palästinenser ohne Furcht vor oder Vertrauen auf die großen Gemeinschaften. Er hat versucht, die Verbindungen zu seiner Vergangenheit zu kappen, allerdings ist es ihm nie so recht gelungen, sich in seinem neuentdeckten Freiheitsparadies einzufinden. Als er noch auf dem Vormarsch war, ließ er sich beinahe als revolutionären Gesellschaftswandler betrachten, der versuchte, das Leben eines ganzen Milieus zu verbessern. Jetzt, da er den Kampf gegen seine eigene Vergangenheit verloren zu haben scheint und Gefängnisstrafen wegen Gewalttaten verbüßt hat sowie in der forensischen Psychiatrie behandelt worden ist, fragt man sich, ob überhaupt irgendwer imstande war, ihm zu helfen oder sein Leben zu verbessern. Yahya Hassan ist selbst zum Bild des sozialen Elends Dänemarks geworden. Der dänische Traum ist eine Lüge. Selbst für die Talentiertesten gibt es keinen leichten Weg aus dem Brennpunkt hinaus.

*

Als die dänische Premierministerin am 01. Januar ihre Neujahrsansprache hielt, erzählte sie, sie glaube an eine Gesellschaft, in der jeder Mensch eine grundlegende Verantwortung für sein eigenes Leben trage. Aber sie sagte auch, dass wir dem Einzelnen nicht die komplette Verantwortung überlassen könnten. „Wenn die Kindheit bestimmt, was im späteren Leben passieren wird, dann ist das Muster immer noch zu stark und die Gemeinschaft zu schwach.“

Mette Frederiksen erinnerte insbesondere an die Kinder, die es am allerschwersten haben. Kinder, die zu Hause Missbrauch, Gewalt und Vernachlässigung erlebt haben. Der Ministerpräsidentin zufolge sei es jetzt an der Zeit, die Berührungsangst aufzugeben: „Wir müssen als Gesellschaft sichtbar werden. In Zukunft müssen mehr Kinder als heute ein neues Zuhause finden können. Und die Bedingungen für Kinder in Familien und Hilfseinrichtungen sollen noch viel stabiler sein.“

Es waren Kinder wie Yahya Hassan, von denen sie sprach.

*

Im Laufe der Jahre haben sich viele auf Yahya Hassans Kritik am Brennpunktmilieu versteift, aber weitaus weniger haben sich seiner Schilderungen der unmenschlichsten Seiten des Wohlfahrtsstaates angenommen. Leicht lässt sich sein Gedichtdebüt als Reise durch die dänische Sozialhilfe beschreiben. Nach etwa einem Drittel des Buches lernt man dieses engmaschige Netz aus Aufenthaltsorten, Jugendeinrichtungen, Erziehungsbeiständen, Gefängnissen, Urinproben und Pädagogen kennen, die als Türsteher für einen mit seinem Leben unzufriedenen Teenager agieren.

Natürlich ist Yahya Hassan die Hauptfigur dieser Anti-Bildungsreise, auf der sich alles drum herum als anonyme und einengende Ausübung von Macht beschreiben lässt. In diesem System macht er keine hilfreichen Erfahrungen, erlebt nichts Positives, bis zu dem Punkt, an dem er einer neuen und ungewöhnlichen Kontaktperson begegnet, die ihn auffordert, zu schreiben und ihn auf die Spur der Literatur bringt. Kurze Zeit darauf stiehlt Yahya Hassan eine Kiste Bücher, und darin findet er den ersten Band von Karl Ove Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus. Die Literatur, nicht die Sozialbehörden, werden zu seiner Rettung. Glaubt man dem Gedichtband, dann findet er seinen Weg ins Leben hier.

*

Die Arbeiterliteratur ist reich an Geschichten, die zeigen, dass der Versuch, etwas an den Bedingungen der Schwächsten zu ändern und sie bloßzustellen, ein ungeheuer feiner Balanceakt ist. Noch 2016 musste sich der französische Autor Édouard Louis nach der Veröffentlichung seines Debütromans Das Ende von Eddy (Seuil, 2014) schwere Anschuldigungen gefallen lassen. In der Essaysammlung Etter i saumane. Kultur og politikk i arbeidarklassens hundreår (Unter die Lupe genommen. Kultur und Politik im Jahrhundert der Arbeiterklasse; Gyldendal Norsk Forlag, 2016) bezeichnete Kjartan Fløgstad Louis‘ Kindheitsschilderungen des postindustriellen Nordfrankreichs als „klassistisch“. Fløgstad zufolge machte sich Louis der Klassenverachtung schuldig, wobei das Bürgertum die „Erlösung“ sei, die Reise aus der Arbeiterklasse hingegen der reinste „Aufstieg in den Himmel“. Fløgstads Kritik, auf die Édouard Louis später in Morgenbladet antwortete, war geradezu das Echo einer Debatte, die zwei Jahre zuvor in französischen Medien stattgefunden hatte. Hier wurde Louis genauso angeklagt, klassistisch zu sein und die Arbeiterklasse in eine Kategorie mit „Natur“ und „Barbarei“ gesteckt zu haben. Fløgstads Einwände gegen Louis unterschieden sich also nicht allzu sehr von Hassans Kritik an der neudänischen Unterschicht.

Von intellektueller Seite wurde Yahya Hassan vor allem von Athena Farrokhzad kritisiert. Beging Hassan ein Sakrileg, dann lag das der schwedischen Dichterin zufolge nicht daran, dass seine Beschreibungen der Gewalt in den muslimischen Milieus unzutreffend waren. Sie meinte bloß, er hätte mehr Umsicht beweisen sollen. Kurz, die solidarische Perspektive hätte vor dem Befreiungskampf einer einzelnen, männlichen Person of Color Vorrang haben müssen. Die Frage, wie eine neudänische Unterschicht sich am besten vor der herrschenden (weißen) Klasse schützen sollte, ging Farrokhzad eher von der kollektivistischen als von der individualistischen Seite an.

Dass Yahya Hassan niemals des Klassismus beschuldigt wurde, liegt hauptsächlich daran, dass er zu keiner Zeit vorgab, das Kulturbürgertum biete irgendeine Erlösung. Als wir ihn sechs Jahre nach Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes in YAHYA HASSAN 2 (Gyldendal, 2019) wiedersehen, hat er die Türen zum dänischen Kulturparnass eingetreten. Diesmal läuft die Reise durch die Institutionen der Gesellschaft in die entgegengesetzte Richtung. Das Buch beginnt mit Gedichten, in denen er auf dem Weg zu seinem Lektor im Verlag Gyldendal im Zentrum Kopenhagens ist. Er übernachtet im Bett des Journalisten Martin Krasnik, weil er sich nicht frei bewegen kann, und er steht unter ständigem Polizeischutz. „Prämien-Perker“ [Anm. d. Ü.: Das unübersetzbare Wort „Perker“, zusammengesetzt aus „perser“ und „tyrker“, ist eine rassistische Bezeichnung für Menschen mittelöstlicher oder arabischer Herkunft], so heißt das erste Kapitel des Buches, in dem er sich in einen Samtanzug kleidet, die Königin besucht und als Politiker und öffentlicher Debattenteilnehmer durch die Lande reist. Er spricht nicht mehr mit seinen Verwandten, sondern auf Versammlungen und fühlt sich von oben und unten, von allen Seiten beständig unter Druck gesetzt. Genau hier bricht die Vergangenheit wieder durch: „ICH WERDE GERADE ZWISCHEN ZWEI MACHTSTRUKTUREN ZERQUETSCHT (…) ICH STRÄUBE MICH MIT ARMEN UND BEINEN“. Er erzählt, die Anzüge hingen wie „SCHLAPPE LEICHEN“ über dem Ständer. Er „SCHLÄNGELT SICH UM DIE GESELLSCHAFT HERUM“ und schrumpft zu „IMPULS UND INSTINKT“. Er ist auf „UNTERGANGSFORTSCHRITT MIT DER MENSCHHEIT“.

Zeichnet das erste Buch einen Aufstieg von ganz unten in die Gesellschaft hinauf, dann stürzt Yahya Hassan im zweiten vom Gipfel hinab. Yahya Hassan beschreibt den totalen Niedergang, menschlich und sozial, durch ein System bürgerlicher Codes, staatlicher Institutionen und Kontrolle. Doch was er im ersten Buch erlebt, ist weder besser noch schlimmer. Aus den ehrwürdigen Geschäftsräumen des Gyldendal-Verlags geht er in einer rasenden Geschwindigkeit, die ihm selbst nicht einleuchtet, an den Kartoffelreihenhäusern der Østerbro-Sternchen bis in den Brennpunkt, das Gefängnis und die Psychiatrie. „ICH NAHM DAS WORT IN MEINE OHNMACHT“, schreibt Yahya Hassan an einer Stelle. Und an einer anderen: „ICH SÜNDIGTE WIDER DIE VERBESSERUNG MEINES WESENS“. Wie in seinem Debüt besteht ein deutlicher Kontrast zwischen ihm und der Gesellschaft, die immer durch fremde Instanzen repräsentiert wird, welche ihn in Schach zu halten versuchen: Polizei, Banden, Richter*innen, Gefängniswächter*innen, Psychiater*innen, Ärzt*innen, Medien und Verlage. Yahya Hassan ist ständig auf der Flucht vor der Gesellschaft – vor ganz oben wie auch vor ganz unten. Er ist an den Wurzeln ausgerissen, findet aber außerhalb des Brennpunkts anscheinend zu nichts irgendeine Verbindung. Er ist zu einem zornerfüllten und enttäuschten Touristen geworden, der sich apathisch und verantwortungslos zu allen um sich herum verhält: „ICH GLAUBE NICHT AN MEIN LACHEN / ICH GLAUBE NICHT AN MEIN SCHLUCHZEN / DANN LAUFE ICH UMHER UND RÄUSPERE MICH LEICHT / MAL SCHREIBE ICH GEDICHTE MIT GEBROCHENER HAND / IN EINER SPRACHE DIE NACH UND NACH ÜBERLADENER IST ALS MEINE MUTTERSPRACHE / MAL SCHIESSE ICH LEUTE AB / DIE NICHTS VERSTEHEN AUSSER SCHÜSSEN / MAL GEHE ICH FRÜH INS BETT / UM AUFZUSTEHEN FÜR NICHTS / MAL TRAINIERE ICH / UM WIEDER UMGENIETET ZU WERDEN / MAL HABE ICH NOCH EINEN WINTER ÜBERLEBT / UM NOCH EINEN SOMMER HINTER GITTERN ZU VERBRINGEN / MAL VERFLUCHE ICH WER FÜR MICH BETET / UND FINDE FRIEDEN IM NAMEN MEINES FEINDES“.

*

In Yahya Hassans Gedichten gibt es keinen Ort, wo er sicher und geborgen ist. Ruhe findet er einzig und allein im Schicksal, wobei er weder vor den Repressalien der Götter noch des Vaters oder der Sozialbehörden Furcht empfindet. Zusammen liefern Yahya Hassans zwei Gedichtbände den Eindruck eines Menschen, der alles geopfert hat, aber dennoch zum Untergang in einer Gesellschaft verdammt war, die ihm niemals helfen konnte. Er ist das Symptom eines Problems, welches der Wohlfahrtsstaat nicht greifen und daher nicht beheben kann. Er demonstriert die Ohnmacht und Hilflosigkeit des Wohlfahrtsstaates. Die letzten Verse in YAHYA HASSAN 2 klingen wie ein Punkt, der erst noch gesetzt werden muss: „GELDSTRAFEN HAFT UND GEFÄNGNIS PRALLEN AN MIR AB / NICHT WEIL ICH UNGEEIGNET BIN ZUR STRAFE / SONDERN WEIL ICH ZU SEHR GEEIGNET BIN DAFÜR“.

 

Die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN (2013) stammen aus Annette Hellmuts und Michel Schlehs deutscher Fassung (Ullstein 2014), die Übersetzungen aus YAHYA HASSAN 2 (2019) von Matthias Friedrich.

Christian Johannes Idskov, 1989 geboren, studierte Literaturwissenschaften in Odense und Kopenhagen. Er ist Kritiker für die Zeitung Politiken und Online-Redakteur der skandinavischen Kulturzeitschrift Vagant.

Matthias Friedrich, 1992 geboren, studierte Kreatives Schreiben in Hildesheim und Skandinavistik in Greifswald. Er übersetzt norwegische Literatur, u. a. von Svein Jarvoll und Thure Erik Lund, und arbeitet gerade an Leif Høghaugs Roman Kælven (Arbeitstitel: Der Kälberich), der voraussichtlich 2021 erscheint.

Der Essay wurde ursprünglich auf der Internetseite der Zeitschrift Vagant veröffentlicht.

Geschichten der Seuche – Vier Sachbücher zur Pandemie

von Susanne Wedlich

Das öffentliche Interesse an Erregern und Epidemien war vermutlich nie größer und Mikrobenliteratur jeglicher Art hat neuerdings Massenappeal. Die Auswahl an Sachbüchern ist groß: in dieser Sammelrezension wird es um vier Werke zu den Grundlagen der Epidemiologie, den Gefahren neuer Erreger, den Schrecken der „Spanischen Grippe“ und zur Vision einer pandemiefreien Zukunft gehen.

Für die meisten von uns ist es eine neue Erfahrung, als Gesellschaft einem Erreger fast hilflos ausgeliefert zu sein. Dabei besteht das eigentliche Novum doch eher darin, dass uns dieses Trauma bislang erspart geblieben war. Die Geschichte der Menschheit war immer auch eine Geschichte der Seuchen, auch wenn unser kollektives Gedächtnis dieses Motiv fast schon aus den Augen verloren hatte.

Das ändert sich jetzt und literarische Wiedergänger wie Boccaccios Decamerone werden als brandaktuelle Lektüretipps gehandelt, während das Interesse an Sachbüchern zu Erregern und Epidemien wahrscheinlich nie größer war – auch bei mir. Als Biologin und Wissenschaftsjournalistin ist mir die Materie grundsätzlich vertraut. Neu ist aber die akute Dringlichkeit der Lektüre mit der Hoffnung auf ein viel tieferes epidemiologisches Verständnis als bisher.

Sehr viel mehr wäre nicht zu erwarten, richtig? Wie sollte das Wissen um historische Ausbrüche helfen, wenn ein ganz neuer Erreger unser Leben umkrempelt? Was würden die Kenntnisse um frühere Quarantänen bringen, wenn sich derzeit die Lage in Deutschland nicht einmal mit der Situation in Italien vergleichen lässt? Wie faktenfixiert und falsch das gedacht war, zeigte allerdings die Lektüre jedes einzelnen der vier Bücher, um die es hier gehen soll.

Denn jetzt fehlte der gewohnte geistige Sicherheitsabstand. Sachbücher zu Seuchen hatte ich bislang anscheinend wie Krimis gelesen, also als höchstens theoretisch relevant, letztlich aber unendlich weit weg. Nun geht alles unter die Haut, historische Auswüchse lesen sich zum Verwechseln aktuell und für das Werk eines sonst hochgeschätzten Autors hätte meine Geduld fast nicht ausgereicht.

Den Anfang macht der schmale Band Seuchen von Kai Kupferschmidt. Der Wissenschaftsjournalist berichtet oft über Ebola und andere Epidemien, hält auch jetzt ein internationales Publikum in Sachen COVID-19 auf dem Laufenden. Sein Buch ist die Notfallapotheke für epidemiologisch interessierte Leser: Corona-bedingt sind viele der Fachbegriffe und Konzepte jetzt zu hören und zu lesen. Hier werden sie noch einmal klar und angenehm schnörkellos auf den Punkt gebracht.

Das Terrain ist abgesteckt, wird von dem amerikanischen Wissenschaftsautor David Quammen in Spillover auf über 500 Seiten aber ungleich tiefer umgepflügt. Wie springen Erreger auf den Menschen über? Warum treten diese Zoonosen immer häufiger auf? Und was macht sie so gefährlich? Quammen beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit diesem Thema und hat selbst schon Forscher bei der Suche nach neuartigen Erregern und ihren natürlichen Reservoirs begleitet.

Dazu gehören Expeditionen in den kongolesischen Regenwald, auf chinesische Wildtiermärkte oder ins Hinterland von Bangladesch – um möglicherweise infizierte Fledermäuse zu jagen. Quammen hat unglaublich viel zu erzählen und zieht seine Geschichten frei nach Agatha Christie als Whodunits auf: Welcher Erreger hat´s ausgelöst und welches Tier ist sein Handlanger, äh, natürlicher Wirt? Die Rolle der Schnüffler übernehmen natürlich die wagemutigen Forscher.

Quammen macht dabei viel richtig, erzählt vor allem Wissenschaft nicht linear. Stattdessen räumt er neben den Erfolgsgeschichten auch den Irrungen und Wirrungen auf dem Weg dahin viel Platz ein. Es ist also sicher der aktuell angespannten Lage geschuldet, dass ich den sonst so verehrten Autor hier streckenweise eher gnadenlos weitschweifig denn als begnadeten Erzähler empfand und auf die eine oder andere launige Anekdote gern verzichtet hätte.

Widerstand ist aber zwecklos und weil in der Fülle der Details grandiose Geschichten stecken, habe ich mich ab der Hälfte des Buches lieber Quammens mäanderndem Erzählfluss anvertraut. Der führt in die Seitenarme der Seuchengeschichte mit unbekannteren Erregern wie dem Hendravirus, macht aber auch lange bei den großen Stationen wie Cholera, HIV und SARS Halt.

Die britische Wissenschaftsjournalistin Laura Spinney wiederum fokussiert in 1918. Die Welt im Fieber auf die Spanische Grippe, eine Pandemie, die den Planeten in mehreren Wellen überrollte und bis zu 100 Millionen Menschenleben gefordert haben könnte. Spinneys wunderbares Werk beschränkt sich nicht auf den Westen, sondern dokumentiert unter anderem auch Ausbrüche in Australien, Brasilien und China.

Warum hat diese „beinahe vergessene Katastrophe“ kaum Spuren in unserem historischen Bewusstsein hinterlassen? Es habe keine Sieger gegeben, die Geschichte hätten schreiben können“, schreibt Spinney: „Nach einer Pandemie gibt es nur Besiegte.“ Und Nutznießer, ließe sich ergänzen. Denn Seuchen leisten damals wie heute Verschwörungstheorien und xenophoben Ressentiments Vorschub.

So hält US-Präsident Donald Trump hartnäckig an seiner Formulierung vom Chinese virus fest. Im Internet wird der Erreger zuweilen auch zur menschengemachten Biowaffe ernannt, eine Behauptung, die in den vom Krieg zerrütteten Ländern auch über die Grippe von 1918 kursierte, wenn sie nicht Ländern wie Spanien, Deutschland und Brasilien zugeschrieben wurde – trotz oder gerade wegen ihres bis heute nicht eindeutig geklärten geografischen Ursprungs.

Furchtbar modern liest sich auch ein Magazinartikel von 1918, wonach Behörden die Gefährlichkeit der Krankheit übertreiben würden, die „nur alte Menschen“ dahinraffe. Und ein Historiker befand in Bezug auf die Influenza, dass demokratische Strukturen für die Kontrolle einer Pandemie nicht besonders hilfreich seien, weil unterschiedliche Belange konkurrieren würden. Denn wer sich für „eine blühende Wirtschaft einsetzt, höhlt zwangsläufig die Gesundheitsfürsorge aus.“

Eine Szene aus Spinneys Buch schließlich überlagert sich besonders schmerzlich mit dem Bild, das in meinen Augen wie kein anderes für COVID-19 steht: So wie kürzlich Militärfahrzeuge in dunkler Nacht die Toten aus Bergamo holen mussten, stauten sich 1918 zweihundert Särge auf einem New Yorker Friedhof, weil die Gräber nicht schnell genug ausgehoben werden konnten. Die Grippe hatte eine spezifische Gruppe von Einwanderern außerordentlich hart getroffen: die Italiener.

Alles Vergangene ist jetzt und alles Ferne ist nah. Kein noch so großer räumlicher oder zeitlicher Abstand in den Erzählungen kann mehr Distanz schaffen. Das gilt, wenn Kupferschmidt am Anfang von einem kleinen Jungen in Westafrika berichtet, der im Dezember 2013 mit als Erster einer Ebola-Epidemie zum Opfer fiel. Das gilt auch, wenn Nathan Wolfes The Viral Storm (auf deutsch Virus: Die Wiederkehr der Seuchen) in Thailand beginnt, wo im Dezember 2003 ein anderer kleiner Junge an der neu aufgetretenen Vogelgrippe starb.

Der amerikanische Virologe Wolfe skizziert in seinem Buch ebenfalls historische Ausbrüche, hat den Blick aber fest auf die Zukunft gerichtet. Denn er arbeitet an einer Utopie, die angesichts unserer aktuellen Lage fast unvorstellbar scheint: Wolfe möchte ein Virenfrühwarnsystem einrichten. Als globales Immunsystem soll es das Auftreten neuer und bereits gefürchteter Erreger antizipieren oder wenigstens so schnell registrieren, dass eine großflächige Ausbreitung verhindert werden kann.

Für eine pandemiefreie Zukunft müssten biologische und digitale Daten aus verschiedenen Quellen integriert werden: Wo sind die Menschen? Was sorgt sie? Womit sind sie infiziert? Wohin bewegen sie sich? Mit wem stehen sie in Kontakt? Große Populationen können und sollen nicht überwacht werden. Stattdessen setzen die Forscher auf Menschen, die aufgrund ihres Standorts oder ihres Verhaltens ein hohes Infektionsrisiko tragen.

Zu diesen viralen Wachposten gehören etwa all jene, die im zentralafrikanischen Regenwald Primaten und andere Wildtiere jagen, zerlegen und essen. Über deren Blut und andere Körperflüssigkeiten kommen sie mit neuartigen Mikroben in Kontakt, die möglicherweise im Menschen ausharren und irgendwann ausbrechen können. Über Routinekontrollen in lokalen Labors sollen diese biologischen Zeitbomben künftig aber aufgespürt und entschärft werden.

Neben der biologischen Überwachung könnten digitale Daten viral chatter vermelden, also potenziell krankheitsbezogene Auffälligkeiten. Alarmierend wäre beispielsweise die lokal gehäufte Recherche von schweren Symptomen im Netz. Die Nutzungsmuster mobiler Geräte lassen außerdem Kontakte zwischen Menschen nachvollziehen. Das sind Daten, die auch jetzt schon in Bezug auf COVID-19 und die freiwillige soziale Isolierung der Bevölkerung ausgewertet wurden.

Das ist umstritten, aber gibt es eine Wahl? Wolfe zufolge können wir bei Ausbrüchen vorerst nur hektisch reagieren, schnell Impfstoffe und Medikamente entwickeln sowie unser Verhalten ändern. Und wer würde hier widersprechen? Doch die Frequenz der Ausbrüche könnte noch zunehmen, weil uns unsere globalisierte Lebensweise verwundbar macht. So exquisitely susceptible to pandemics sei unsere moderne Gesellschaft, schreibt Wolfe, also ganz außerordentlich anfällig für Pandemien.

Tag für Tag festhalten, reflektieren, revidieren – Notizen zur Zeitwahrnehmung in Corona-Tagebüchern

Tagebücher als Krisenphänomen: Während der Corona-Pandemie tauchten vielerorts und in verschiedenen medialen Formaten Journale auf und werden zum Teil bis heute weiter fortgesetzt. Die Konjunktur des Tagebuchs wurde auch vom Feuilleton schnell als Thema aufgegriffen, wenn auch nicht unbedingt mit positiver Wertung. Julia Encke schrieb in der FAS vom 5. April von „Gedankenkitsch“ und urteilte, dass „mit diesem ganzen hohlen Pathos und der Trostprosa […] gar nichts gewonnen“ sei. Marie Schmidt verschob in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April den Akzent ein wenig. Auch sie beschreibt zwar das „Protokoll der Krise“ als so „vielstimmig und wirr wie die Krise selbst“, stellt aber die Frage, wie denn überhaupt literarisch über sie zu schreiben sei. Beide greifen in ihren Beiträgen Fragen auf, die Kathrin Röggla schon in einem Text in der FAZ vom 21. März mit dem Titel „Prognosefieber“ thematisiert hatte: dass jene Versuche des Auf- und Mitschreibens vor allem in Hinblick auf Verschiebungen in der Zeitwahrnehmung zu perspektivieren seien. Literatur müsse sich einmal mehr als Zeitkunst beweisen. Diese Forderung steht im Kontext unzähliger Äußerungen zur Zeitwahrnehmung in der Corona-Pandemie, die im Philosophie-Magazin genauso zu finden sind wie im Tagesspiegel, in den Twitter-Timelines genauso wie in den angesprochenen Tagebüchern. Um diese geht es im Folgenden im Besonderen. Als Gegenstand der Diskussion im DFG-Forschungsprojekt „Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung“ an der Universität Greifswald  dienten insbesondere das kollektive Tagebuch auf 54books, das Journal von Carolin Emcke in der Süddeutschen Zeitung sowie das mehrstimmige Tagebuch auf der Internetseite des Literaturhauses Graz unter Beteiligung von Kathrin Röggla.

 

(Wollte ja immer dabei sein, wenn „Geschichte passiert“, Kubakrise und sowas. Findet man auch nur, wenn man den Ausgang schon kennt, wird mir gerade so bewusst.)

— ellebil (@ellebil) March 15, 2020

Welchen Wert haben Tagebücher, die wissend für die Öffentlichkeit geschrieben werden? Unter einem Tagebuch versteht man zunächst die Sammlung intimster Gedanken, es ist eine Form der privaten Reflexion, es wird nicht geschrieben, um eine Wirkung auf Lesende zu haben. Besondere Formen stellen die Journale von Literat*innen dar, da diese sich der nachträglichen Veröffentlichung vielleicht schon beim Verfassen bewusst waren. Bei den Corona-Tagebüchern, die momentan überall und in jeder Form (als Video, Podcast oder Text) zu finden sind, gibt es verschiedene Ansätze. Teils schreiben (oder streamen) Privatpersonen, teils Menschen aus unterschiedlichen Bereichen, wie etwa der Wirtschaft. Es sind häufig Texte von Menschen, die von Entschleunigung sprechen und diese auch persönlich im Home-Office in den eigenen vier Wänden, oft mit Balkon oder Garten, wahrnehmen. Verzerrt es nicht die Realität, wenn hauptsächlich die dokumentieren, die vom Kampf gegen die Pandemie am wenigsten spüren? Wenn sie nicht aus dem Krankenhaus, dem Supermarkt oder vom Leben auf der Straße berichten, was für eine Funktion haben die Tagebücher dann? Sie versuchen, den Ausnahmezustand festzuhalten, zu verarbeiten, zu bewerten, jedoch nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen. Wie der Hashtag #weareallinthistogether vermitteln die Tagebücher Trost und stiften Gemeinschaft. Aus ihnen ist herauszulesen, dass die Monothematik der Coronapandemie und der gesteigerte Nachrichtenkonsum mehr und mehr Menschen bedrücken. Für wen sind die öffentlichen Tagebücher dann geschrieben? Wenn das gegenwärtige Publikum nicht interessiert ist, bleibt der Blick in die Zukunft. Coronatagebücher sind Dokumente, die für die Zeit nach Corona geschrieben werden und vermutlich auch im Herbstprogramm der Verlage zahlreich vorhanden sein werden.

Auf dem Blog 54books  ensteht ein kollektives Tagebuch von 29 Autor*innen, das mit dem Ziel geführt wird, Veränderungen zu dokumentieren und u.a. Tweets zu archivieren. Das gemeinsame Schreiben an einem Projekt, das die durch die Pandemie geschlossenen Landesgrenzen überwindet, führt schon während des Entstehungsprozesses zur psychischen Erleichterung bei den Autor*innen: „Ich merke, wie gut mir das Schreiben an diesem kollektiven Tagebuch tut. Manchmal, wenn ich eine Notiz hinterlassen will, sehe ich, dass andere gerade auch schreiben, und ich stelle mir vor, wie sie irgendwo auf dem europäischen Festland vor ihren Bildschirmen sitzen und tippen und korrigieren, während ich hier an meinem Schreibtisch auf der Insel genau das Gleiche mache. Eine Gemeinschaft von Schreibenden in Zeiten der sozialen Distanz“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books). Die unmittelbare Gegenwart im Schreibprozess kombiniert mit der Gleichzeitigkeit des Schreibens als Erfahrung gemeinsamer Gegenwart steht der verzögerten Veröffentlichung gegenüber: Die Texte sind schon veraltet, wenn sie erscheinen.

Es sind Spannungsverhältnisse, die die Zeitwahrnehmung dominieren: Hartmut Rosa spricht von einer erzwungenen Entschleunigung, die für uns körperlich und wirtschaftlich spürbar ist. Diese Lücke, die die scheinbar freie Zeit mit sich bringt, wird nach Rosa von der „mediale[n] Berichterstattung über das Fortschreiten der Epidemie in Echtzeit […| symptomatisch“ ausgefüllt. „Das soziokulturelle Leben spaltet sich gerade in ein physisch entschleunigtes ‚realweltliches‘ und ein hyperventilierendes digitales Leben.“ Auch in den Tagebüchern von 54books spiegelt sich dieser Aspekt wider. Auf der einen Seite wird die Entschleunigung des Alltags bemerkt, die sich bei einem Autor sogar auf das Lesetempo auswirkt: „Ich lese mehr, ich lese langsamer“ (Viktor Funk, 54books). Auf der anderen Seite steht ein zunehmendes Unwohlsein, das sich im Umgang mit den Sozialen Medien entwickelt: „Die Menge an Berichterstattung und digitalem Lärm steht in einem schwer aushaltbaren Missverständnis zur (scheinbaren?) Ungewissheit der Situation“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books). Oder: „Ich lese regelmäßig twitter und merke, dass es nicht gut tut, ich es aber auch nicht lassen kann. Jede*r postet ständig Artikel wie es jetzt weitergehen könnte. Es entstehen Diskussionen über Fake-News, die heute keine Fake-News mehr sind. Alle regen sich auf, niemand weiß genaues“ (Charlotte Jahnz, 54books). Die Stimmung ist angespannt und dominiert von der Sorge um eine ungewisse Zukunft. Marlene Kayen, die Vorsitzende des Deutschen Tagebucharchivs, begründet in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung die Konjunktur des Tagebuchschreibens wie folgt: „Ich habe den Eindruck, dass sie sich einen kleinen Fluchtraum aufbauen, in den sie sich zurückziehen und ungefiltert Sachen aufschreiben. Vielleicht lassen sich deshalb an Tagebüchern so gut psychische Entwicklungen beobachten.“ In den Journalen werden nur die subjektiven Wahrnehmungen der Pandemie festgehalten, hier wird die enge Verknüpfung von persönlicher Wahrnehmung und Zeit besonders deutlich. Es ist eine gegenwärtige Fokussierung auf den Moment, ein Konservieren des Jetzt und eine Form der Beruhigung, da es für den Moment des Schreibens nur um das Jetzt geht. Die wegfallende, gewohnte Strukturierung eines Tages, verbunden mit dem Warten auf Neuigkeiten und das Ende der Pandemie, führen zu einem Schwebezustand, zu einem Leben neben der Zeit. Maike Ladage schreibt dazu auf 54books: „Immerzu verwundert. Ausnahmezustand ständig präsent, gleichzeitig seltsames Aus-der-Zeit-Fallen und ganz Gegenwärtig-sein.“ Das tägliche Schreiben liefert den Rhythmus, der dem Alltag mittlerweile fehlt, selbst die Bus- und Zugpläne folgen nun einer anderen Zeitrechnung: „Seit Mittwoch ist jetzt immer Samstag. Die Kölner Verkehrsbetriebe haben eine neue Zeitrechnung für uns angefangen.“ (Rike Hoppe, 54books)

Zuletzt sind Tagebücher aber auch eine Form, etwas von sich zu konservieren und zurückzulassen, weil selbst der eigene Ausgang ungewiss ist. Das Schreiben tritt somit dem Vanitas-Gedanken entgegen, der durch den Tod als definitiven Endpunkt der Lebenszeit aktuell präsenter ist: „Die Verheerungen, die das Virus anrichtet, sind unserer Fantasie überlassen. Sterbende bleiben isoliert, nicht einmal Angehörige dürfen zu ihnen. Der Weg, den letztlich jeder allein geht, ist nun ein einsamer. Ihre Gesichter sehen wir dann manchmal doch: Wenn sie uns aus italienischen Todesanzeigen entgegenblicken, noch aus dem Leben, aus ihrer Vergangenheit in unsere Gegenwart“ (Marie Isabel Matthews-Schlinzig, 54books).

(Lena Pflock)

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Bis vor einigen Wochen war es noch die Digitalisierung, die von vielen für eine grundlegend veränderte Zeitwahrnehmung, eine radikale Fokussierung auf die Gegenwart und einen neuen Begriff von Gegenwart verantwortlich gemacht wurde. Dabei war nicht immer klar, ob durch die digitalen Medien nun eine „breite Gegenwart“ (Gumbrecht) entstanden ist, die von nicht vergehenden Vergangenheiten überschwemmt wird, oder ob der „present shock“ (Rushkoff) im Gegenteil eine Kultur des Präsentismus hervorgebracht hat, in der Vergangenes instantan vergessen wird. Und auch die Frage, ob alles immer schneller wird, wenn alles jetzt passiert, oder vielmehr Stagnation und Stillstand zu verzeichnen sind, blieb zwischen den divers zirkulierenden gegenwartsdiagnostischen Statusmeldungen offen. Einig war man sich nur darin, dass sich die Wahrnehmung und das Verständnis von Gegenwart krisenhaft verändert haben und dass diese Veränderungen mit dem Schlagwort der Digitalisierung erfasst und begründet werden können.

Das neue Coronavirus sorgt nun für eine merkwürdige Überlagerung und Verschiebung dieser Thesen, Debatten und Szenarien, für eine verschobene Wiederholung, die die einschlägigen Stichworte aus dem Digitalisierungsdiskurs – weltweite Netzwerke der Übertragung, der Zustand des always-on, permanente Aktualisierung – wie auch die entsprechende Krisenrhetorik auf einer anderen Ebene reproduziert und reanimiert. „In der Krise, die uns alle derzeit so fordert, erleben wir einen Moment enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“, stellt, wie viele andere, Ende März 2020 der nordrheinwestfälische Ministerpräsident Armin Laschet fest und folgert: „Das Jetzt fordert unsere ganze Aufmerksamkeit.“ Hier werden nun nicht die digitalen Medien, die alles auf die Gegenwart ausrichten, als Verursacher einer Krise identifiziert, der „Moment enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“ wird vielmehr auf ein Virus zurückgeführt. Auf ein infektiöses, halblebendiges Etwas, das, wie zwischenzeitig spekuliert wurde, auf „nassen Märkten“, zwischen weggespültem Blut und Dreck, von Tieren auf den Menschen übergesprungen sein soll, mittlerweile aber weltweit zirkuliert und mehr oder weniger zeitgleich die ganze Menschheit betrifft.

Dass viele darüber im Modus ständig aktualisierter, sich schnell ausbreitender Updates informiert werden, ist dann aber doch wieder der Digitalisierung geschuldet, die das etablierte System der Massenmedien durch die Kanäle der Sozialen Medien maßgeblich ergänzt und erweitert, sodass sich ein merkwürdige Parallelität der Topik des Viralen ergibt: Der exponentiellen Ausbreitung des Virus korrespondiert in noch nicht hinreichend berechneten Ausmaßen die rasante, durchaus treffend als ‚viral‘ bezeichnete Ausbreitung von Nachrichten, Gerüchten und individuellen Statusmeldungen zum Virus – und mithin auch die Ausbreitung der Auffassung, dass es unsere Zeitwahrnehmung grundlegend verändert. Verstärkt wird dieser Eindruck auch dadurch, dass dieses Coronavirus neu ist und seine Aktivitäten wie deren Folgen in vielen Hinsichten unabsehbar sind. Selbst diejenigen, die sich professionell mit Viren befassen, wissen immer noch vergleichsweise wenig über es und müssen den zwischenzeitig erreichten Wissenstand permanent revidieren, korrigieren und aktualisieren.

Auch deshalb liegt es nahe, dass der unübersichtlich mehrgleisigen Zirkulation viraler Prozesse zwischen Menschen und Medien geradezu massenhaft mit dem Schreiben von Tagebüchern begegnet wird. Der Rekurs auf ein etabliertes, spätestens seit Samuel Pepys Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert zudem epidemieerprobtes Medium ermöglicht es, den diffus global zirkulierenden Bedrohungsszenarien mit einer individuell begrenzten, selbst fokussierten Perspektive zu begegnen, die durch die Veröffentlichung in den Sozialen Medien aber zugleich den Anschluss an andere oder auch den öffentlichen Diskurs ermöglicht, über die vermeintlich eigene Filterblase oder die weiter ausgreifenden Netzwerke digital vermittelter Kommunikation.

Als Medium der Fokussierung auf die Gegenwart, mit dem man das, was aktuell passiert, Tag für Tag festhalten kann, in dem Veränderungen (wie auch deren Ausbleiben) schrittweise notiert, reflektiert und, gegebenenfalls gleich am nächsten Tag, revidiert werden können, wirkt das Tagebuch der derzeitigen Situation auf besondere Weise angemessen. Da es zugleich einen Rahmen bildet, in dem ohnehin häufig über Zeitverhältnisse reflektiert wird, insbesondere über die Aporien und Paradoxien der schriftlich vermittelten Gegenwartsfixierung, ergeben sich schnell weitere Interferenzen mit eben der Situation, die durch das Virus entstanden ist.

Viele der aktuell entstehenden Corona-Tagebücher thematisieren nicht nur, sondern reproduzieren auch selbst jenes Neben- und Miteinander von Verlangsamung und Beschleunigung, das auch im politischen Diskurs den Eindruck eines „Moments enorm verdichteter und beschleunigter Gegenwart“ prägt. Einerseits liegt die „Halbwertszeit vom Neuigkeitswert“, wie Kathrin Röggla in ihrem Corona-Tagebuch auf der Website des Literaturhauses Graz feststellt, „bei ca. sechs Stunden“, andererseits ist, wie sie nahezu zeitgleich in einer Tageszeitung, der FAZ, ergänzt, „das öffentliche Leben stillgestellt, das Sozialleben eingefroren“. „Ich kann nicht Schritt halten, der Diskurs bewegt sich in rasender Geschwindigkeit vorwärts, die Situation kann sich jederzeit ändern. Was heute dementiert wird, ist morgen Realität“, reflektiert Röggla eine auch in vielen anderen Corona-Tagebüchern geteilte Wahrnehmung der aktuellen Situation. Wenn sie feststellt, dass sich alles „zu schnell“ bewegt und alles „morgen“ schon „durch neue Nachrichten“ abgelöst wird, beschreibt sie zugleich aber auch den üblichen Aktualisierungsmodus von Tagebuch und Tageszeitung. Der zeigt allerdings, trotz digitaler Vernetzung, in der gegenwärtigen Situation geradezu überdeutlich seine Grenzen: „Ich komme also nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden“, schreibt Röggla angesichts einer fünftägigen Verzögerung bei der Veröffentlichung des Online-Tagebuchs, „bin irgendwie in der Vorzeit zuhause, aus der ich wie hinter dicken Glasscheiben winken kann, während es, kaum dass ich es niedergeschrieben habe, schon heißen kann: ‚Ha, damals, als wir noch diese Probleme hatten!‘“ Dieses eher redaktionell denn medial verursachte Problem verschiebt sich nochmals im Blick auf den Zeitindex der Maßnahmen und Prognosen, mit denen der Ausbreitung des Virus begegnet wird. Da man immer erst ein, zwei Wochen später wissen kann, was die aktuell durchgeführten Maßnahmen gebracht haben, ist im Prinzip auch die unmittelbare Gegenwart schon von dicken Glasscheiben umstellt, die verspätete Einsichten, verfrühte Aktivitäten und angemessene Aktualisierungen nicht immer als solche sichtbar machen (was aber vielen auch schon vor Corona als Kennzeichen der Gegenwart galt).

Röggla hebt noch eine weitere Form dieser Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hervor, die gegenwärtig besonders deutlich hervortritt, aber genau genommen auch schon früher zu beobachten war: „Während immer neue Nachrichten hereinbrechen in immer engmaschigerem Takt, deren Hyperaktualität seltsamerweise noch nicht einmal enervierend wirkt, verhält es sich doch oft so, als würde ich das immer Gleiche lesen.“ Die monothematische Fokussierung nahezu aller Kommunikationsmedien zeitigt ihre hypnotischen, zugleich aufregenden wie beruhigenden Effekte nicht zuletzt dadurch, dass permanent auf allen Kanälen gesendet wird, auch wenn es, wie häufig, nichts, zumindest nichts Neues zu melden gibt. Die vielen Tagebücher und die ungezählten Statusmeldungen in Sachen Corona, die viele Timelines der Sozialen Medien wie einen monothematisch fokussierten Gruppenchat erscheinen lassen, reflektieren diese Konstellation gewissermaßen in Echtzeit – und setzen sie eben dadurch im Modus der Logik des Viralen auch fort.

„Kann es sein“, fragt sich Thomas Stangl im Grazer Corona-Tagebuch, „dass all das, was uns eben noch als gegenwärtig, aktuell, dringlich erschienen ist, von nun an völlig fremd wird, weil sich einfach das Koordinatensystem geändert hat?“ Und Kathrin Röggla schreibt: „Werde ich jetzt eine Springerin zwischen den Zeiten (Gegenwart, Zukunft 1 und Zukunft 2, rasende Vergangenheit)? Zukunft ist durch die drohende Destabilisierung auf heikle Weise wieder vielfältig geworden, die breite Gegenwart beendet. Diese Schwierigkeiten werden uns noch lange begleiten. Es ist nicht abzusehen, was das heißt, dass jetzt eine neue Ära beginnt.“ Der Vorschlag, den Röggla im Nachdenken über die Rolle von Prognosen aus ihren eigenen Prognosen ableitet, ist so einfach wie komplex und bildet nicht zuletzt einen brauchbaren Gegenentwurf zu der von Paolo Giordano in seinem Corona-Tagebuch schon jetzt in Buchform vorliegenden Forderung, „der Epidemie einen Sinn zu geben“.

Röggla setzt auf das Programm einer Literatur, das möglicherweise auch deshalb angemessen und zeitgemäß wirkt, weil es für viele – auch für Röggla – nur bedingt ein grundlegend neues Koordinatensystem oder den Beginn einer neuen Ära in Aussicht stellt: „Eigentlich wären Texte ja hilfreich, die versuchen, die Lage zu erkennen, und insofern sich doch der konkreten Beschreibung des Alltags zuwenden, aber eben einer, die nicht auf etwas hinaus will, der Matrix eines Alarmismus genauso wenig wie dem Programm einer Weltrettung folgend, einer der gemischten Realitäten, die dem Nebeneinanderher von neuer Logik, alten Problemen, unerwarteten Auswirkungen der Situation gerecht wird. […] Es wird ein Arbeiten mit verschiedenen Zeitmodi sein müssen, die Zeitebenen müssen wieder in Kontakt miteinander kommen, und so wird sich Literatur in dieser Situation mehr denn je als Zeitkunst erweisen müssen.“

(Eckhard Schumacher)

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Durch die Veröffentlichung im Wochentakt verlieren die Corona-Tagebücher bereits ihren unmittelbaren Tagesbezug: Es werden schon beim Lesen nur Rückblicke vermittelt, man denke beispielsweise an die inzwischen selbstverständlichen Kontaktsperren, die in den jeweiligen Beiträgen gerade erst erlebt werden. In dem Sinne ermöglichen Corona-Tagebücher auch schon Tage nach ihrer Veröffentlichung ein kollektives Erinnern an gemeinsam erlebte Maßnahmen, vertraute Gedankengänge werden dort noch einmal aufgerollt; sie haben aber auch eine schwierige Beziehung zu der gegenwärtigen Lektüre, streuen noch mehr Reflexionen in die Monothematik der Coronapandemie und geben Einblick in einen veränderten Alltag, dem die aktuell Lesenden bereits selbst ausgesetzt sind. Dementsprechend tragen sie zur Stiftung einer kollektiven Identität bei und dienen als Orientierungshilfe, funktionieren aber vor allem als (kulturelle) Archive für folgende Generationen, indem die Tagebücher als gewählte Publikationsform Authentizität und Teilhabe vermitteln können.

Gemeinsam ist den Tagebüchern allen: die Zeitphasen sind beleuchteter denn je. Ein rasantes Tempo in der Ausbreitung des Virus und die folgenden politischen Maßnahmen lassen Beiträge und Gedanken schnell als überholt erscheinen, die Berichterstattung in Echtzeit und die Omnipräsenz des Themas in den Nachrichten führen nicht selten zu dem Eindruck einer sich überschlagenden Gegenwart. Kathrin Röggla erkennt in ihren Beiträgen zum Corona-Tagebuch des Literaturhauses Graz darin ihre eigene Position als Schreibende, in der sie „nicht durch zu der Gegenwart der Lesenden“ kommen könne und stattdessen in der „Vorzeit zuhause“ sei.

Eben dort empfindet Nava Ebrahimi bereits den Ausspruch ihres Sohnes, er habe im Traum mit seiner Oma Pizza gegessen, „wie ein Echo aus einer anderen Zeit“. Schon die Monate vor Corona liegen im Zeitempfinden so weit zurück, dass die Vergangenheit weiter wegrückt, nicht mehr erreichbar ist. Die jetzt so erwünschte „Normalität“ wird wie aus einer anderen Welt erlebt, in der sich Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr richtig aneinanderfügen können. Der durch die Pandemie empfundene Orientierungsverlust wird von den einen durch eine Flucht in ihre Erinnerungen an vergangene Zeiten, Kindheitsmomente und frühere Reisen kompensiert, andere versetzen sich in eine imaginierte Nach-Corona-Welt, in der die Möglichkeiten wieder unbegrenzt erscheinen. Carolin Emcke hingegen stört sich in ihrem Tagebuch in der Süddeutschen Zeitung an den vielen Fragen des „Danach“, des Erinnerns an die Pandemie. Sie seien bloß „ein Fluchthelfer der Phantasie“, stattdessen empfindet sie die Gegenwart, ihre Gegenwart, als übrig gebliebenen Handlungsraum, der „sich verwandeln lässt in etwas, das [ihr] gehört“.

So unterschiedlich das Zeitempfinden bereits innerhalb der Tagebücher ist, so wenig bildet es dennoch das Empfinden derjenigen ab, die gar nicht die Zeit haben, um über das Verhältnis der Zeiten zu sinnieren. Tagebuch zu schreiben ist auch ein Privileg. Wenn der Soziologieprofessor Hartmut Rosa in einem Interview mit dem Philosophie Magazin äußert, dass wir nun dem „Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus“ entfliehen könnten und jetzt Zeit hätten, kann dies angesichts der Sorge um das finanzielle, vor allem aber gesundheitliche Überleben vieler und der intensiven Mehrbelastung systemrelevanter Berufe schwer für die Gesellschaft insgesamt greifen. Trotzdem sieht Rosa das Potenzial eines kollektiven Resonanzmomentes und damit von etwas kollektiv Neuem sowie die Chance, dem „Hamsterrad“ unserer auf Steigerung fixierten Gesellschaft zu entkommen und stattdessen zu entschleunigen. Es wird sich zeigen, wie allgemeingültig sich der Eindruck von Entschleunigung und einem anderen Lebenstakt halten kann, oder ob es, angesichts der jetzt schon wieder öffnenden Geschäfte und Lockerungen, für manche nur ein kurzer Ausflug in ein langsameres, verändertes Leben war. Vielleicht wird sich das Zeitverständnis nicht so monumental ändern, wie es aktuell stellenweise vermutet wird, sicher ist bloß: Die Zeit ist spürbarer geworden. Lebenszeit, Gesprächszeit, Kontaktzeit, Arbeits- und Freizeit werden für manche aus einer neuen Perspektive beleuchtet, für andere sind sie schwieriger einzuteilen, aber ob die Pandemie zur kollektiven Erfahrung eines neuen Zeitempfindens führt, wird sich angesichts der heterogenen Lebensrealitäten zeigen müssen.

(Annica Brommann)

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Die Krisentagebücher, die jetzt geschrieben werden, offenbaren auch eine Krise des Tagebuchschreibens – zumindest jenen Tagebuchschreibens, das versucht, die Krise zu erklären. Und sie offenbaren die Krise der Krise: Hartmut Rosa sieht die (Corona-)Krise als Bestätigung dessen, was ihm ohnehin bereits klar war: Dass die Krise der Dauerzustand ist, schon lange die Normalität ersetzt hat. Was will man also noch sagen bzw. schreiben? Und warum soll das jemand lesen? Wer überhaupt? Jemand aus der Zukunft? Schreiben für eine ‚neue Normalität‘, wie sie heute beschworen wird?

Marlene Streeruwitz schreibt auf ihrer persönlichen Homepage darüber‚ wie „die Welt geworden“ ist, ihren selbstbewusst bis augenzwinkernd betitelten „Covid19 Roman“. Es ist nicht irgendeiner, keiner unter vielen – es ist „Der Covid19 Roman“. Darin geht es um Betty, die ihr Haus nicht verlassen kann und die von Versionen ihrer selbst und ihren Gewissensbissen heimgesucht wird. Der Roman gibt sich in der Betitelung der einzelnen Kapitel als Fortsetzungsserie aus, die bis heute (21. April 2020) eine Season mit zehn Folgen hat – wie gemacht zum Durchbingen. Dieses online verfügbare und fortgesetzte Schreiben macht zumindest ein Angebot, was den Lektüremodus in Zeiten der Coronakrise angeht: Lesen und Scrollen und Geschriebenes inhalieren, bis nichts mehr da ist. Wenn dann die Browseraktualisierung per F5-Taste kein Update mehr bringt, steht man da, alleingelassen vor so viel Gegenwart, mit der man etwas anfangen muss – wie nach einem sonntäglichen Netflix-Binge. Vor einem ähnlichen Problem (einer ähnlichen Krise?) steht auch das Schreiben in Streeruwitz’ ‚Covid19 Roman‘. Es versucht, täglich neu anzusetzen, um einer Gegenwart zu begegnen, die gerade jetzt vor einem steht. Als „Fläche. Ohne Richtungen“, wie es dort heißt. Dauert Gegenwart nur drei Sekunden oder wird sie hier flächig und erhält damit ein ganz anderes Format? Wenn die Corona-Tagebücher eines zeigen, dann, dass irgendwann der Vektor, das Koordinatensystem abhandenkommt, wenn man nicht mehr für die Zukunft schreibt oder versucht, die Gegenwart, die vor und unmittelbar hinter einem liegt, auf eine Prognose hin zu befragen. Irgendwann ist alles nur noch da. Wie eine Fläche.

„Wenn alles jetzt passiert“, so der Untertitel der deutschen Übersetzung von Douglas Rushkoffs Digitalisierungskritik Present Shock, dann kann das auch ganz ohne Akzeleration zu viel sein. Nehmen wir einmal an, die Gegenwart dauert wirklich nur drei Sekunden, dann kommt ja trotzdem direkt danach noch eine. Und noch eine und wieder eine. „I can’t stand feeling like this another second, and the seconds keep coming on and on.” So versucht Kate Gompert, eine Figur aus dem 1996 erschienenen Roman Infinite Jest von David Foster Wallace, auszudrücken, wie sich die Depression anfühlt, unter der sie leidet. Die Gegenwart prasselt auf uns ein, gerade jetzt, als Sturzregen von Sekunden (während die Tagebuchlektüre zumindest die Einsicht zu Tage gefördert hat, dass es in der Wirklichkeit schon seit Wochen nicht mehr geregnet hat). Der Vergleich mit der Depression scheint nicht allzu abwegig, so schreibt auch Marie Schmidt in der Süddeutschen Zeitung vom 16. April, Streeruwitz’ Texte handelten davon, „[w]ie sich die Gegenwart depressionsähnlich aufwölbt.“ Während Carolin Emckes Journal-Texte in der gleichen Zeitung flanierend und die Welt observierend Kreuzberg umschreiten, kommt hier die Risikogruppe zu Wort. Diejenigen, die die Wohnung nicht verlassen können und die in diesen Zeiten von… vor lauter Gegenwart nicht wissen, wohin. Das (Tagebuch-)Schreiben als therapeutische Maßnahme? Ein Schreiben, das nicht bereits im Moment des Entstehens auf Rezeption aus ist, das vielleicht sogar gar nicht um sie weiß, nur für sich schreibt, befreit von Aktualitätszwang?

Die Normalität, die Krise, die Gegenwart und wie man sie aufschreibt. Bei aller Aktualitätsforderung: Es scheint, als sei es gerade die Leere dieser Zeit, dem das Tagebuchschreiben begegnen könnte.

(Philipp Ohnesorge)

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Wann bricht ein Tagebuch ab? Kann man sich dafür entscheiden aufzuhören? Die Form der täglichen Eintragung könnte prinzipiell bis zum Tod des oder der Schreibenden fortgesetzt werden. Angenommen, der Anlass der Tagebücher, die die Corona-Pandemie begleiten, ist eine dreifache Verschiebung in der Zeitwahrnehmung: Erstens ein Bruch, der ein Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit eröffnet. Zweitens die konkrete Erfahrung eines Stillstands oder einer permanenten Gegenwart, ohne dass ein Danach denkbar wäre. Diese Erfahrung ist drittens begleitet von einer verstärkten Wahrnehmung insbesondere digitaler Informationsverbreitung als eine Form der Beschleunigung. Wann wäre es unter diesen Voraussetzungen Zeit, die Corona-Tagebücher wieder zu beenden?

Der Bruch in der Zeit macht je nach Perspektive entweder etwas ganz anderes sichtbar oder gerade das, was sowieso schon da war, aber nicht gesehen wurde. Beispiel für ersteres wäre das Corona-Tagebuch in 54books, dessen Anstoß die Vermutung ist, einer grundlegenden Transformation beizuwohnen: „In diesem kollektiven Tagebuch wollen wir sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert.“ Auch bei Carolin Emcke, die für die Süddeutsche Zeitung in einem „Journal“ „politische-persönliche Notizen“ aufzeichnet, findet sich die Rede von „Wörtern, deren Bedeutungen sich verschieben“. Gerade in der ersten Woche akzentuiert Emcke die zeitliche Dimension der Verschiebung: 1. durch ein Zitat aus Büchners Leonce und Lena, in dem vom Aus-der-Zeit-Gehen die Rede ist; 2. durch die Kontrastierung ewig göttlicher Gegenwart, die sich in der Musik Bachs zeige, mit den täglichen Aktualisierungen zur Lage; und 3. durch verschiedene Formulierungen, die um einen Takt und einen Rhythmus der Zeit kreisen, der wieder in Einklang mit dem individuellen Rhythmus gebracht werden müsse. Im Gegensatz dazu steht die zweite Lesart. Der Bruch wird beispielsweise von den Beschleunigungstheoretikern Armen Avanessian und Hartmut Rosa auf je unterschiedliche Weise ins Spiel gebracht, beide sehen in ihm aber eine Bestätigung dessen, was sowieso schon vorhanden war: Gerade durch diesen Bruch werden die grundlegenden Probleme der kapitalistischen Arbeits- und Lebensweise sichtbar und die Notwendigkeit der Veränderung wird umso dringlicher. Genau genommen erkennen sie eine Kontinuität in der Makroperspektive auf das politische und wirtschaftliche System, wenn auch, zumindest bei Rosa, in der Mikroperspektive des eigenen Erlebens ebenfalls der Eindruck der Entschleunigung zu dominieren scheint.

Für die Tagebücher scheint diese Kontinuität jedoch nicht denkbar. Sie gehen vom Bruch aus und stellen ihm die Regelmäßigkeit des täglichen Aufzeichnens gegenüber. Sie setzen täglich neu an und wiederholen dadurch den Bruch, während sie ihn zugleich kompensieren. Die „Normalität“, die dem Bruch vorausgeht und die Voraussetzung des Tagebuchschreibens ist, wird im regelmäßigen Takt des Schreibens wieder aufgegriffen. Die Tagebücher werden dann irrelevant, wenn wir sie vergessen können, weil wir die Regelmäßigkeit des Aufzeichnens nicht mehr als Ausnahme wahrnehmen. Wenn die Wahrnehmung der Differenz, die der Bruch ist, der Indifferenz gewichen ist.

(Elias Kreuzmair)

Es zählt nur die Qualität – Über ein fadenscheiniges Argument

Von Nicole Seifert

Dass es beim Büchermachen ausschließlich um Qualität gehen sollte, darin sind wir uns ja alle einig, oder? Und dass Männer die besseren Bücher schreiben auch. Ach nein, das darf man ja nicht mehr sagen. Also: Wenn Männer nun mal die besseren Bücher schreiben, dann – nee, Moment, ich fang noch mal an: „Wir machen Literatur, nicht Männer und/oder Frauen. Entscheidend ist allein die Qualität und nicht das Geschlecht. Entscheidend ist die Aussage, der Stil, da braucht es keine Genderaufsicht.“ So kann man es schon sagen. Oder? Weiterlesen

Feuilleton auf unserem Planeten

Als Tilman Winterling im November 2012 einen Beitrag mit dem Titel “Startschuss!” auf seiner neuen Homepage 54books.de veröffentlichte, stand dort lediglich “Hier soll in nächster Zeit mein Blog entstehen.” Einen genauen Plan gab es damals eigentlich nicht, Tilman hatte sich im Vorfeld nicht mit anderen Blogs, Twitter oder Rezensionen beschäftigt; er war nach eigener Aussage ein Hobbyleser, wie es bis heute Bloggern vorgeworfen wird.  Weiterlesen