Kategorie: Rezensionen

Formsache – Philip Saß’ virtuoser Gedichtband

von Moritz Hürtgen

Die Behauptung, dass in der gesamten DACH-Region kein Mensch mehr Lyrik schreibt, die sich reimt und ein Versmaß einhält, ist gewiss weit hergeholt, aber so unheimlich weit nun auch wieder nicht. Das klassische Formgedicht ist heute ungefähr so angesagt wie Dieselautos. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Sonett an unseren Woke-Universitäten verboten … – lieber noch mal von vorne:

Das klassische Formgedicht ist heute eher ein Nischenphänomen. Das komische klassische Formgedicht verkörpert, weil Büttenreden von Marie-Agnes Strack-Zimmermann nicht gewertet werden, die absolute Nische. Zeitschriften wie das Titanic-Magazin oder unabhängige Verlage wie Kunstmann räumen ihm ehrenwerter Weise Plätze ein, obwohl sie damit tiefrote Zahlen schreiben. Aber Tradition verpflichtet: Dichter wie F.W. Bernstein oder Robert Gernhardt (beide tot) aus der Neuen Frankfurter Schule haben Nachfolger wie Thomas Gsella oder Fritz Eckenga (beide mehr oder weniger lebendig) inspiriert und schließlich auch den jungen Mann aus Norddeutschland, von dessen erstem Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ (container press) hier gesungen werden soll: Philip Saß.

Saß ist zwar Debütant, aber bei den genannten Institutionen kein Unbekannter. Die Titanic-Redaktion schätzt ihn seit Jahren als hervorragenden Beiträger, bei Kunstmann machte er anderen Dichter:innen das Leben schwer, indem er neben ihnen in einer Anthologie glänzte. Und nun aber schnell dahin, wo es nicht nur glänzt, sondern auch schillert; nämlich in Saß’ Gedichtband.

Die Heide ist recht reich an Raum

(meist nutzt man ihn zum Wandern),

doch abgesehn von manchem Baum

arg arm an allem andern.

Alle Achtung, atemberaubende A-Alliteration! So schonungslos kritisiert Saß jedenfalls seinen Urlaub in der Lüneburger Heide. In zwei weiteren Strophen führt er seinen Heidenhass noch aus, aber man kann schon an dieser einen erkennen, dass sich hier einer in der Form zuhause fühlt. Die Kunst, so ins Formkorsett zu dichten, dass es kaum auffällt – Saß beherrscht sie. Da wird nicht krampfhaft im Satzgefüge umgestellt, damit es passt, es fließt einfach alles. Und wenn getrickst wird, dann richtig:

Der Wind weht sacht,

ja: lind. Und in d-

er Ferne lacht

ein Kind.

So einen Zeilenumbruch wie im „Depressiven Morgenlied“ muss man erst einmal hinbekommen. Aber das macht die komische Lyrik eben aus: Es ist nach Gernhardt für sich gesehen schon albern, sich an Jahrtausende alte Formen zu halten, ein bisschen Witz bekomme man als Dichter dadurch einfach so geschenkt. Und wer die Form blind beherrscht, kann anfangen zu spielen, um das Vergnügen noch zu steigern. Saß lässt in „Abschaffung der Schwerkraft“ kaum eine Gelegenheit dazu aus.

Besonders sticht der Band durch die Formenvielfalt hervor. Da gibt es nicht nur ein paar Sonette und ABAB-Hits zum Mitschunkeln. Nein, Saß hat wahrscheinlich in alten englischen Folianten und weiß Gott wo ausgefallene Gedichtformen ausfindig gemacht und füllt die Gefäße mit seinen Ergüssen. Ein Geheimnis macht er aus seiner Methode nicht:


Find ein Versmaß und bespiel es (aber kein zu diffiziles),
und wenn dir keins einfällt: Stiehl es!

So empfiehlt es Saß in „Rat“, das sich im Abschnitt „Kunst“, dem dritten des Bandes, findet, die anderen beiden Kapitel heißen „Gunst“ und „Dunst“. Schön, dass auch hier auf den Reim geachtet wurde. Leider geht es im etwas langen Kunstteil des Buches in zu vielen Versen ums Dichten selbst. Schön wäre: ein bisschen weniger Metaware. Nicht ganz so viel von Nabelschau, dafür noch was zu Kabeljau. Denn wer Saß‘ „Lob des Rosenkohls“ liest, bekommt Appetit auf mehr:

Der Käfer frisst am liebsten Mist,

   weil ihn sein Duft betörte,

und der Gourmet genießt Filet,

   das einem Reh gehörte.

Mir dünkt derlei Vergnügen hohl,

ich brauche nichts als Rosenkohl.

[…]

Ich wiederhol: O Rosenkohl,

   ich mag nichts anderes kochen;

statt Karfiol und Sanostol

   verzehr ich schon seit Wochen

nur Rosenkohl, nur RO-SEN-KOHL!

(Ich höre auf, mir ist nicht wohl.)

Der Streit darüber, ob Rosenkohl genießbar sei, brachte in den letzten Jahren vor allem auf Twitter bereits zahlreiche Späße hervor. Sogar bedeutende zeitgenössische Schriftsteller positionierten sich zum meistgememeten Gemüse. Saß aber geht weiter und hebt das profane Für und Wider Rosenkohl in eine beinahe schon göttliche Form, die Trost und Segen spendet. Auch das lässt sich in die Tradition der Neuen Frankfurter Schule einordnen, wenn man sich an Eckhard Henscheids kunstvolle Romane erinnert, in denen Schnapsgetränken wie dem Sechsämtertropfen Hunderte Seiten gewidmet wurden.

Nicht Wunder nimmt es da auch, dass einige Gedichte regelrecht und im besten Sinne satirisch daherkommen. Das Sonett „Tellkamps Lied“ sei hier – der Verlag wird es bestimmt erlauben, weil es beste Werbung für das Buch ist – vollständig zitiert:

Der Dichter gilt nichts mehr in deutschen Landen.

Man blickt auf ihn, als schriee er in Brunft:

Einst habt ihr treu vor meinem Turm gestanden,

jetzt macht ihr ihn zur Flüchtlingsunterkunft.

Wann kam der Sinn fürs Schöne euch abhanden?

Woher der Hass auf meine rechte Zunft?

Los, liebt doch mich und nicht den Muselmann, denn

allein aus mir spricht die Vernunft. –

Doch ihr in den Gesinnungskorridoren

begehrt, ein weises Maul wie meins sei stumm!

Statt Statuen für mich wird Minarett

um Minarett gebaut … Ich hab verloren

und nun nicht einmal mehr ein Publikum

(nur Nazis, Suhrkamp und die FAZ).

Besser geht es nun wirklich nicht, und es sind nicht die einzigen Strophen in diesem Band, die in Perfektion verfasst sind. Ganz egal, ob Saß die Grabrede auf einen Querdenker vorlegt oder ob er über Liebe, Ufos, Skispringer oder Jump ’n’ Runs dichtet. Zur Vielfalt in der Form kommt bei ihm die thematische, sodass man sich fragt, warum Saß bisher zwar Publikums- und Jurypreis des (fantastischen!) Großer-Dinggang-Lyrikwettbewerbs in Menden (Sauerland) gewonnen hat, noch nicht aber alle hochdotierten Preise der DACH-Region. Das kann, das muss jetzt kommen.

Denn dank Philip Saß funkelt es mystisch in der Nische für komische Lyrik. Sein Gedichtband „Abschaffung der Schwerkraft“ ist ein sagenhaftes Werk, das zudem noch einlöst, was der Titel verspricht. Die strenge Form hat Gewicht, und vielen Dichter:innen gelingt es nicht, dieses aufzuheben. Die Eleganz und Leichtigkeit der Saßschen Verse aber bringt die Form federleicht zum Schweben.

Philip Saß: Abschaffung der Schwerkraft. Container press, 2023. 140 Seiten, 12 Euro.


Foto von Anastasiia Kamil auf Unsplash

Größenwahn in Comic-Form – „Der Ring des Nibelungen“ als Graphic Novel

von Martin Seng

Er ist ein Härtetest für so viele Künstler:innen und nur die wenigsten haben ihn bestanden. Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ ist vieles: epochal, überdimensioniert, tragisch, pathetisch und in gewisser Weise auch prophetisch. Der legendäre deutsche Filmemacher Fritz Lang adaptierte Wagners Epos bereits 1924 in einem knapp fünfstündigen Film. Vor dem Bewegtbild, seit 1876, sind es die Bayreuther Festspiele, die die vierteilige Oper fast jährlich aufführen. Dabei werden gewagte Neuinterpretationen wie die des letztjährigen verantwortlichen Opernregisseurs Valentin Schwarz vom Publikum auch gerne mal gnadenlos ausgebuht. „Der Ring des Nibelungen“ zählt zu den wertvollsten Stücken in der Schatzkammer, die deutsches Kulturgut heißt.

Bereits in den 1990er Jahren hat eine unübliche Person diese Kammer betreten und den Ring an sich genommen: der US-amerikanische Comiczeichner und -autor P. Craig Russell. Bleibt man in der Bubble der Comic-Szene, ist Russells Name dem von Wagner ähnlich, eine unanfechtbare Größe. Der Meister des Comics nahm sich dem musikalischen Meister bereits vor Jahrzehnten an und adaptierte dessen Oper als Graphic Novel. 2001 wurde der Comic mit knapp 450 Seiten veröffentlicht und nun, über zwanzig Jahre später, erscheint er endlich in deutscher Sprache. Ironisch, wenn man bedenkt, dass die Oper eben in dieser Sprache so legendär wurde. Bei seiner Vision bringt Russell das Unmögliche zustande und schafft eine Adaption, die nicht nur das Vorbild adäquat abbildet, sondern zugleich den Archetyp für die Welle an Superheld:innen-Verfilmungen skizziert.

Dramaturgie in Bildern

Es sind vier Akte, die den Ring des Nibelungen unsterblich machen: Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried und die finale Götterdämmerung. Die Graphic Novel bleibt nahe an der Opernstruktur und nicht etwa am mittelalterlichen „Nibelungenlied“, das wiederum Wagner inspirierte. Der Comic vollbringt das, woran so viele Inszenierungen an ihre Grenzen stoßen: die Bildgewalt. Und diese ist tatsächlich so gewaltig, dass es beinahe ungerecht erscheint die beiden Werke – Oper und Comic – miteinander zu vergleichen. Stattdessen sollten die Leser:innen die emotionalen Bilder genießen, die Russell zu Papier bringt.

Wenn Wotan voller Wut über die Wolken stürmt, auf der Suche nach seiner Tochter, der Walküre Brünhilde, hat das eine Wucht in sich, der man sich nicht entziehen kann. Man spürt regelrecht den Zorn des Vaters, der seiner Tochter letztendlich die Göttlichkeit mit einem Kuss nimmt. Das alles ist bereits auf der Bühne arg theatralisch. Aber auch genauso episch. Und eben diesen wagnerischen Pathos fängt Russell gekonnt ein. Ob es nun die Burg Walhall ist, die mit ihrer Regenbogenbrücke beinahe unendlich in die wolkigen Höhen ragt, wie es im Text selbst heißt, oder die unterirdischen, feuerroten Schmieden von Nibelheim sind, der Comic ist das richtige Medium, um die visuelle Kraft der Geschichte einzufangen.

Wenn der Halbgott Loge mit seinem Finger Berge zerbersten lässt und Siegmund mit seinem neu gestählten Schwert Steine spaltet, merkt man die Macht und Kraft der Charaktere und der Welt, in der sie wandeln. Und auch wenn der Comic den bekannten Stationen folgt, erlebt man durch die Visualisierung Bekanntes noch einmal neu. Der Diebstahl des Rheingoldes, die tragische Liebesgeschichte zwischen Sieglinde und Siegmund wie auch der Tod von Siegfried durch den Speer – Kenner:innen von Wagners Oper erleben bekannte Stationen zum ersten Mal in einer Pracht, wie sie keine Theaterbühne darstellen kann. Matt Wagner, ebenfalls ein US-amerikanischer Comicautor, spricht in seiner Einführung das an, was den Leser:innen bei der Lektüre durch den Kopf geht: „Die Leidenschaften flammen auf und die Emotionen nehmen überhand, wenn sich Craigs fast dekadente Darstellungen lebendig und ekstatisch über die Seite ausbreiten.“

Drehbuch in Panels

Das Medium, das neben dem Comic die Bildgewalt des Nibelungenrings noch einfangen könnte, wäre der Film. Fritz Lang hat das mit den damaligen Mitteln zur Zeit der Weimarer Republik zwar getan, eine moderne Adaption mit CGI, namhaften Darsteller:innen und der richtigen, größenwahnsinnigen Regieführung hätte aber dennoch ihren Reiz. Und man könnte meinen, dass Russell das bewegte Medium bei seinem Comic schon im Hinterkopf hatte. Seine Seiten sind so filmisch inszeniert, dass es einem Drehbuch ähnelt. Eines, das bereits Perspektivenwechsel, Farbgebung, Erzähltempo, Kadrierung und Dramaturgie vorgegeben hat – ein Storyboard, das nur darauf wartet, auf die Leinwand gebracht zu werden.

Doch auch wenn nordische Kulturen und Mythen immer wieder ihren Weg in die Populärkultur finden – ein magischer Walkürenritt in Robert Eggers „The Northman“ oder die Welt Valhall im Videospiel „Assassin’s Creed Valhalla“ – auf die große Kinoleinwand wird es „Der Ring des Nibelungen“ wohl nicht mehr schaffen. Wenn der ambitionierte Fernseh-Zweiteiler von Uli Edel 2004 eines gezeigt hat, dann, dass es noch immer Stoffe gibt, die nur schwerstens zu verfilmen sind. An dieser Schwierigkeit wird sich auch im nächsten Jahrzehnt nichts ändern. Doch dafür, dass Wagner den Stoff vor rund 150 Jahren für eine Opernbühne konzipierte, passt er nun erstaunlich gut auf Russells Comicseiten. Auch ohne die berühmte Musik entwickeln die Bilder eine hypnotische Wirkung, die einen wie der Gesang der Rheintöchter in ihren Bann ziehen. Und doch merkt man in jeder Sekunde, dass die Bilder das in sich tragen, wofür Comics doch seit jeher so bekannt sind: Superheld:innen.

Inspiration für Held:innen

Wenn Göttervater Wotan mit seiner muskulösen Statur auftritt, ist es nicht nur der für Wagner typische Flügelhelm, der ihn kennzeichnet, sondern auch der Gürtel auf dem unverkennbar ein goldenes X prangt. Und wenn Wotan in all seiner Wut die Wolken durchbricht, ist man sich nicht sicher, ob gerade ein Gott oder doch die wetterkontrollierende Storm aus den „X-Men“ ihren Auftritt hat. Der arrogante und siegessichere Siegfried erinnert in seiner Leichtigkeit an einen jungen, vorlauten Spider-Man und Halbgott Loge scheint in seiner Flammengestalt direkt aus den „Die Fantastischen Vier“ Comics als menschliche Fackel hinüber zu den Nibelungen geflogen zu sein.

Die Tode von Held:innen wie Batman, Superman und Jean Grey sind ebenso theatralisch, wie das Ableben in Wagners Nibelungen. Da ist es eigentlich ein Wunder, dass noch keine Theaterregisseur:in auf die Idee kam bei den Bayreuther Festspielen Superheld:innen auf die Bühne zu stellen. Denn Comics machen kein Geheimnis daraus, von wo sie sich ihre Inspiration nehmen. Der Marvel-Held Thor tritt 1962 erstmals mit Hammer, Flügelhelm und wallendem blonden Haar als ein Konglomerat nordischer Motive im Comic auf, darin auch ein prominenter Wagner-Einfluss. Und Wotan, eigentlich ein allmächtiger Gott, erkennt in dem Nibelungenring eine Macht, die ihn korrumpiert und seine Schwäche offenbart. Es ist das goldene Schmuckstück, dass den Allmächtigen limitiert. Und es ist das grüne Kryptonit, das Superman bezwingt.

Zuweilen wird das grüne Gestein auch in Form eines Rings getragen. „Der Ring des Nibelungen“ erzählt eine Geschichte im biblischen Ausmaß und die Comics versuchen ähnliches, indem DC von einer „Crisis on Infinite Earths“ erzählt und Marvel den „Infinity War“ ausruft. Ein Held wie Batman hat inzwischen so viele Neuinterpretationen, dass man nicht mehr unterscheiden kann, was er inzwischen überhaupt ist: Dunkler Rächer, Metapher für Selbstjustiz oder doch nur ein gesellschaftlich akzeptierter Verbrecher? Auch Superman wurde so oft neu erschaffen, dass man leicht den Überblick verliert. Erst als Sinnbild für den US-Patriotismus, dann als Karikatur oder gleich als böse Reinkarnation.

Die Muskeln und Proportionen von Siegfried und Wotan erinnern an die der modernen Leinwand-Superheld:innen. Bevor sich der Zeichner an Wagners Opernadaption wagte, hatte Russell schon einige Held:innengeschichten fertig gestellt. So hat er nicht nur Abenteuer von Batman und Killraven verfasst, auch den magischen Doctor Strange hat er zaubern lassen. In Retrospektive wäre es kaum verwunderlich gewesen, wenn der Doctor durch eines seiner Portale im gezeichneten Opernzyklus gelandet wäre. In seinem Vorwort spricht der britische Musikkritiker Michael Kennedy davon, dass „Siegfried und Siegmund in der Welt von Superman und Batman eine neue Dimension erhalten, ohne ihre heldenhafte Gestalt zu verlieren.“

Die Figuren aus der Oper wirken wie altertümliche Held:innen, die ihr Licht noch immer auf ihre heutigen Erb:innen werfen. Der Zyklus wird fortgeführt, nur fliegen die Held:innen inzwischen ins All und darüber hinaus, während es Wotan und seine Walküren nur bis zu den Wolken treibt. Und während es gedauert hat, bis Superheld:innen wirkliche Charaktertiefe bekommen haben, hat Wagner solche Konflikte von Beginn an etabliert. Der Zwiespalt zwischen Verpflichtung und Liebe, zwischen dem eigenen Schicksal und Selbstbestimmung und dem Ringen um Macht – Russell fängt diese wuchtigen Themen in kleinen und großen Bildern ein und bestreitet nicht, dass dem Ganzen eine Superheld:innen-DNA innewohnt.

Neuerfindung mit und ohne Findung

Während Wagners Urstoff sich nicht mehr verändert, sind es die Bühnenadaptionen, die sich neu interpretieren und aufstellen. Auch nicht jede Neuauflage der Held:innen sorgt für Freudenschreie, manchmal sind es auch Buh-Rufe. Russells „Ring des Nibelungen“ ist mutig, aber gelungen. Und verdient einen euphorischen Applaus. 15 Stunden Oper (mal mehr, mal weniger) werden auf 450 Seiten gebracht – eingeengt, möchte man meinen – doch gibt Russell jeder Figur und jeder Dramatik den nötigen Raum. Der Autor hat sich in diesem Werk definitiv selbst gefunden. Dafür wurde Russell der Eisner Award für die beste abgeschlossene Comic-Serie verliehen, die bedeutendste Auszeichnung der Comic-Szene.

Sie ist wohl verdient, da er zum Nibelungenring alles gesagt und gezeichnet hat. Übersetzt hat es nun die erfahrene Lektorin Stephanie Pannen und das verbleibende, in der Sprache teils etwas holprige Pathos ist der Vorlage geschuldet. Letztendlich ist es aber genau das, was Wagners und Russells Opus Magnum so anziehend macht: Geschichten über Tod, Liebe und große Konflikte, eine ekstatische Überhöhung mit eigenartiger Sogwirkung. Und das alles ist so theatralisch und voller Überzeichnung, wie es die heutigen Filme über Superheld:innen sind.


Der Ring des Nibelungen von P. Craig Russell
Cross Cult Verlag, Ludwigsburg
448 Seiten, 49,99€

Foto von leo oxner

Uns bleibt immer noch Martin Walser – Pappfiguren von Juli Zeh und Simon Urban

von Eva-Sophie Lohmeier

Wer einen Roman schreibt, muss sich rechtfertigen. Es braucht schließlich gute Gründe, um ein paar hundert Seiten zu schreiben und zu erwarten, dass sie gelesen werden. Die besseren Autor*innen schreiben Romane, weil sie eine komplexe Frage umtreibt und ein Roman die Möglichkeit bietet,  sie gefahrlos aus allen Perspektiven betrachten zu können, ohne sie sich gleich zu eigen zu machen. Und dann gibt es Autor*innen, die haben keine Fragen, die wollen vor allem anderen etwas erklären, weil sie glauben, sie hätten schon alles verstanden. Die schneiden sich zwei Pappfigürchen aus und spielen damit pro Forma ein bisschen Pro und Contra, wissen aber eigentlich längst alles. Die erfolgreichste Pappfigürchenautorin Deutschlands heißt Juli Zeh.

Seit einigen Büchern nun macht sich Juli Zeh nicht einmal mehr die Mühe, neue Pappkameraden auszuschneiden, sie nimmt einfach die alten und stellt ein bisschen was um. Ihr neuer Roman „Zwischen Welten“ ist in Co-Autorschaft mit Simon Urban verfasst worden, was man aber nicht merkt. Es ist ein typischer Zeh-Roman mit typischem Zeh-Personal. Auf der einen Seite Stefan, der Kulturchef einer Hamburger Wochenzeitung, Stadtmensch, Gendersternchenbenutzer und Fair-Trade-Kaffeetrinker, der sich ständig um das Weltklima und die Befindlichkeiten von Minderheiten sorgt.

Er ist eine ähnliche Karikatur zeitgenössischen Bürgertums, wie es schon der freie Journalist Robert in „Über Menschen“ war, der Mülltrenner und Greta-Fan, Corona-Maßnahmen-Einhalter und mit einem „politischen Waschzwang“ geschlagen, an dem die Beziehung zu Protagonistin Dora letztlich scheitert. Dora zieht in “Über Menschen” nach Brandenburg und setzt sich mit der Scholle und den Dorfnazis auseinander. In „Zwischen Welten“ ist die weibliche Hauptfigur Theresa schon vor Jahren aufs Land zurückgezogen, um den väterlichen Bauernhof zu übernehmen, aber AfD-Wähler mit goldenem Herzen gibt es auch dort.

Walser-Romane und WhatsApp-Chats

Annähern müssen sich diesmal allerdings Theresa und Stefan, die vor Jahren zusammen Germanistik studiert haben, gemeinsam Martin-Walser-Romane lasen, in einer WG zusammenlebten und fast wie Geschwister waren, bis Theresa davonlief, sich nicht mehr meldete und Kuhbäuerin wurde. Martin-Walser-Bücher hat sie schon lange nicht mehr gelesen, als die beiden sich in Hamburg zufällig über den Weg laufen. Nun entspinnt sich das Folgende – Annäherung, Streit, Versöhnung, zunehmende Zuneigung – in Form von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten. Am Ende plant man gar eine gemeinsame Walser-Pilgerreise an den Bodensee, die aber nicht zustande kommt.

Man mag sich nun hoffnungsvoll fragen, ob man im Folgenden erfährt, wie sich moderne, fragmentarische Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln wohl auf diese Beziehung auswirkt, aber da verlangt man dem Roman schon zu viel ab. Ein Bewusstsein für die Mittel der Kommunikation und die den jeweiligen Kanälen eigenen Schreibweisen gibt es hier nicht. „Du irrst keineswegs, und dein Selbstbewusstsein hat unter dem Landleben offenbar nicht gelitten. Das war nicht deine Idee, meine Schöne, sondern bestenfalls unsere Idee, oder, noch besser gesagt: Du hattest die Ehre, dabei zu sein, als mich der göttliche Funke traf“, whatsappt Stefan am 5. Januar um 20.40 Uhr und hat nicht nur Zeit und Nerven für derart geschliffene Formulierungen, er weiß sogar, wie man Textnachrichten kursiviert. 

In langen Mails, in denen beide beteuern, dass sie eigentlich gar keine Zeit haben und dennoch zur besseren Information der Leser*innen noch einmal die gemeinsame Studienzeit Revue passieren lassen, kommt man sich langsam näher. Irgendwann wird der Ton regelrecht flirty: „19.04 Uhr, Theresa per WhatsApp: Wenn du hier wärest, stünden wir nicht im Stall, sondern säßen wir frisch geduscht mit einem guten Rotwein am Kamin. Wir würden auch nicht schweigen, sondern reden, reden, reden, über die Frage, ob Ehen in Philippsburg (du) oder Ein fliehendes Pferd (ich) das beste Buch aller Zeiten ist. Stundenlang! Reden! Trinken! Duften! Oder wenigstens normal riechen!“ Der Zauber von Kursivierung und korrektem Konjunktiv erfährt zwischendurch immer wieder Rückschläge, bis beide beschließen, keine Textnachrichten mehr zu schicken und nur noch zu mailen. Was sie so mittelgut durchhalten.

Unrealistische Mediensatire

Eine Zeitlang ist das Thema also die Wiederannäherung zweier sehr verschiedener Menschen, die sich einmal sehr nahe standen. Man erfährt einiges über die Probleme der brandenburgischen Landwirtschaft. Stefan setzt in seiner „Bote“-Redaktion zusammen mit der Schwarzen Online-Redakteurin Carla durch, dass es eine von jungen Aktivist*innen mitverantwortete Klima-Ausgabe geben wird, die sehr erfolgreich ist und sich gut verkauft. Nun kommen die Dinge ins Rollen, die dafür sorgen, dass aus dem Buch in der zweiten Hälfte eine Art Mediensatire wird, denn Stefan hat in Hamburg eindeutig den turbulenteren Alltag der beiden, während Theresa vor allem versucht, den Hof und die Ehe zu retten.

Das Problem an dieser Mediensatire ist, dass sie von ihrem Gegenstand nur wenig Ahnung hat. Die „Bote“-Redaktion erfährt gleich zwei Shitstorms von links, die die Figur Stefan dazu bringen sollen, nochmal über seine übertriebene Begeisterung für Klimaaktivist*innen und Gendersternchen nachzudenken – soweit die recht durchsichtige Intention der Autor*innen. Auslöser ist ein missratener Witz des Chefredakteurs Flori Sota anlässlich der Beförderung der Online-Redakteurin Carla, die „jüngste und erste schwarze Frau an der Spitze eines Hamburger Ressorts“, wie sie selbst betont.

Es gibt dann in der Konferenz ein wenig heiteres Durcheinander um die erfolgreiche Redakteurin, die schon oft für gute Lesequoten gesorgt hat, woraufhin der Chefredakteur die „verehrte Quoten-Schwarze“ offiziell willkommen heißt. Das wiederum filmt eine der jungen Aktivistinnen, die inzwischen ganz offiziell am News-Desk sitzt, vom Bildschirm ab und empört sich auf ihrem Twitter-Account darüber. Daraufhin bricht ein Sturm der Empörung los, der den Chefredakteur Flori Sota und dessen Familie letztlich zum Auswandern zwingt. Nicht jedoch bevor sich ein Fernseh-Satiriker mit einer ziemlich brachialen Aktion eingemischt hat, indem er ein eigens aufgestelltes Gipsdenkmal des Betreffenden vor der Redaktion zertrümmert. Immer diese überkorrekten Linken! Sotas Tochter hat sich fast umgebracht wegen denen, sie kennen kein Maß und kein Ziel! Ein zweiter Shitstorm betrifft dann Stefan selbst. Eine private Mail von ihm wird geleakt und sogleich in der Presselandschaft breitgetreten. All das bringt Stefan dazu, an seinen Werten und Loyalitäten zu zweifeln. 

An den Ereignissen ist leider so gut wie nichts auch nur ansatzweise realistisch. Keine Redaktion fährt aufgrund externer Shitstorms eine „hire & fire“-Politik, wie sie hier dargestellt wird. Keine Redaktion wird solche Angriffe ohne Rücksprache mit dem Hausjuristen oder der Social-Media-Redaktion kontern. Vor der Kündigung kommt die Abmahnung und der Gang zum Betriebsrat. Kein Medienjournalist wird ihm zugespielte private Mails veröffentlichen, ohne den Betroffenen vorher um eine Stellungnahme gebeten zu haben, wenn überhaupt. Die fiktiven Pressetexte, in denen Chefredakteur Sota und Stefan vernichtet werden, sind in ihrer kruden Vermischung aus Nachricht und Kommentar völlig hanebüchen und lesen sich wie erste Versuche eines Hospitanten, der die gängigen journalistischen Textgattungen noch nicht so richtig kennt. Hätte nicht wenigstens einer der beiden Autor*innen mal jemanden fragen können, der sich damit auskennt? 

Eine mehrhundertseitiger Leitartikel

Aber auch der dargestellte Shitstorm – Stefan schickt Theresa ein paar recht unbeholfene „Tweets“ per Textnachricht zu – verfehlt die Mechanismen völlig. Wie es besser, treffender und vor allem viel witziger geht, kann man in Mithu Sanyals „Identitti“ nachlesen. Die Autorin hat überzeugend dargestellt, wie auf den Sturm von der einen Seite recht schnell der Sturm von der anderen Seite folgt, bis diejenigen einstimmen, die sich vor allem die Frage stellen, wie sie die Angelegenheit möglichst effektiv für die eigene Sache ausschlachten können. Es dauert ohnehin nie lang, dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Einen tagelang mit unverminderter Härte andauernden Sturm von einer Seite ohne Gegenstimmen hat es bislang wohl noch nicht gegeben. Das soll im Buch aber dafür sorgen, dass man mit den Figuren Mitleid empfindet und sich denkt, „wie gemein diese Überkorrekten doch sind!“ 

Dabei betreibt der Roman einen enormen Aufwand, um seine Zeitgenossenschaft auszustellen. Dreadlocks bei Weißen, Ukrainekrieg, der Journalismus zwischen Aktivismus und gebotener Neutralität, alles drin. Manchmal fühlt sich die Lektüre an, als lese man einen mehrhundertseitigen Leitartikel, und nichts daran ist angenehm. Am wenigsten der kulturpessimistische Ton. „Zu spät haben wir gemerkt, dass in den Tiefen des Netzes eine Meute wächst, die sich an der moralischen Überlegenheit der gehypten Protagonist*innen bedient, sich ihre Beute aussucht und erbarmungslos zuschlägt, wenn es ihr gefällt“, schreibt Stefan an Theresa. 

Das erste Anzeichen für die Wut der „Meute“ im Buch ist der Vortrag einer Fischbiologin, die darauf besteht, dass es nur zwei Geschlechter gibt und deswegen vom woken Mob von der Bühne einer Universität gebuht wird. Stefan ist entsetzt von dem Vorgang und vergleicht ihn mit der Paulskirchenrede von Martin Walser, beziehungsweise dem ersten Auftritt danach, als der Autor vom Publikum ausgebuht wurde. „Flugblätter mit Schmähungen segelten durch die Luft, Student*innen brüllten ihre Wut im Chor heraus – es ging darum, Walser nicht zu Wort kommen zu lassen. […] Auch ich fand problematisch, was er gesagt hatte, aber ich konnte einfach nicht begreifen, warum er sich jetzt nicht rechtfertigen durfte.

Niemand trat für ihn und sein Rederecht ein“, so Stefan. Lang hält so ein Zustand ja nie an, Walser redet bis heute. Und das reale Vorbild der Fischbiologin, Marie Luise Vollbrecht, sammelte per Crowdfunding in wenigen Tagen mehrere zehntausend Euro ein. Es ist eben leider immer ein wenig komplizierter, als es einem in den Kram passt. Diese Widersprüche zu schildern, anstatt sie auf eine einseitige Botschaft herunterzubrechen, hätten den Roman sofort deutlich vielschichtiger gemacht.

Juli Zeh selbst sagt in einem Interview, das im jüngst erschienenen „Text + Kritik“-Band Nummer 237 erschien, alle ihre Romane seien Gesellschaftsromane, „weil das einfach meiner literarischen Vorliebe entspricht. Ich drücke aus, was ich erlebe, und da ich nicht nur Individuum bin, sondern auch und vor allem Teil der Gesellschaft, Bürgerin eines bestimmten Landes und Teilnehmerin an einer Epoche, sind meine Texte genau wie ich selbst vom Zeitgeist durchdrungen.“ Allerdings verfolgten sie keine politische Intention, bis auf „Corpus Delicti“ und „Leere Herzen“. Aber welche Intention verfolgt „Zwischen Welten“ denn dann? 

Es ist kein Porträt zweier komplexer Figuren, dazu sind Stefan und Theresa zu pappfigurenhaft und zu sehr dem üblichen Zeh-Repertoire entnommen. Es ist keine Satire, die davon lebt, ihren Gegenstand treffend aufzuspießen, auch wenn die zweite Hälfte so tut. Das ist nicht einmal ein Gegenwartskommentar, denn dazu müsste der Roman sich besser damit auskennen, wie in dieser Gegenwart kommuniziert wird. Dafür aber interessiert er sich nicht. Am Ende ist „Zwischen Welten“ vor allem ein Rührstück, das mit schlichten Mitteln Emotionen erzeugen will und dafür einen enormen Aufwand treibt.

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Ist die Kunst im Eimer? – 50 Antworten gegen das Ende der Kunst

von Christina Dongowski

Der Titel deutet es bereits an: Kolja Reichert schlägt in seinem Buch Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst durchgehend einen amüsanten Konversationston an. Blickt man aber genauer hin, dann  treibt ihn ebenso konsequent die Befürchtung um, mit der Rolle, die Kunst bisher in der bürgerlichen Gesellschaft gespielt hat, könne es vorbei sein. Er fürchtet, dass selbst das Publikum, das immer noch zahlreich in die großen Museen und Ausstellungen strömt, die Kunst dort im Grunde “falsch” rezipiert: sie zum Beispiel nur als Unterhaltung konsumiert, als sozio-ökonomisches Distinktionsmerkmal einsetzt oder als Demonstrationsobjekt in Kulturkämpfen, in denen es nur richtig oder falsch gibt und niemand mehr Kunstwerke nach ästhetischen, kunstimmanenten Kriterien bewertet.

Eine Autorin mit weniger Zutrauen in den Eigenwert der Kunst und die Aura eines gelungenen Kunstwerks hätte aus dieser Diagnose vielleicht eine melancholische Klage über das Verschwinden der Kunst gemacht oder – beim heutigen Buchmarkt wahrscheinlicher – eine kulturkonservative Anklage des grassierenden Verlustes bürgerlicher Traditionen und klassischer Bildung. Kolja Reichert hat das Gegenteil davon geschrieben. Kann ich das auch? ist eine Hymne an Schönheit, an die Macht und Notwendigkeit von Kunst – und das als unterhaltsamer Ratgeber und Crashkurs für Menschen, die wissen wollen, was es mit Kunst tatsächlich Besonderes auf sich hat. 

Kunst als Spektakel des Kapitals

Das Buch beginnt mit seiner eigenen Urszene, die vor allem eine Szene gescheiterter Kunstvermittlung ist: Reichert beschreibt ausführlich, wie er im Februar 2020 in der Staatsgalerie Stuttgart als Teilnehmer einer Podiumsdiskussion daran scheitert, den Zuhörenden zu erklären, warum das Kunstwerk Love is in the Bin (Die Liebe ist im Eimer) von Banksy, das zirka für ein Jahr in der Staatsgalerie zu sehen war, als Kunst tatsächlich belanglos ist, nichts mehr als ein Produkt aus dem Museumsshop, das sich in die Ausstellung verirrt hat. Seine Erklärungen, warum Love is in the Bin künstlerisch schlecht gedacht und langweilig gemacht sei, und damit ästhetisch unbefriedigende, schlechte Kunst, treffen bei seinen Zuhörer*innen kaum auf Resonanz. Die sind vor allem fasziniert von der Art, wie das Kunstwerk entstanden ist: Nachdem am 5. Oktober 2018 der Hammer des Auktionators von Sotheby’s gefallen war, hatte ein in den Goldrahmen eingebauter Schredder die Leinwand des eigentlich zum Kauf angebotenen Kunstwerks, Banksys berühmtes Balloon Girl, gut bis zur Hälfte eingezogen und in schmale Streifen geschnitten, die nun aus dem Rahmen heraushängen.

Das Stuttgarter Publikum ist davon beeindruckt, dass es ihnen die Leiterin der Staatsgalerie Christine Lange ermöglicht hat, die Sensation der Kunstwelt mit eigenen Augen sehen zu können. Die einmalige Chance, quasi live an einem großen Moment der Kunstgeschichte teilhaben zu können. So hat die Käuferin von Love is in the Bin, das Schredder-Auktionsbild bezeichnet und dafür rund 1,2 Millionen Euro bezahlt – um, das können die Zuhörer*innen im Februar 2020 natürlich noch nicht wissen, ihren halbgeschredderten kunsthistorischen Moment im Oktober 2021, wieder bei Sotheby’s für knapp 22 Mio. Euro an den nächsten Sammler zu verkaufen. (Das Bild und die Aktion sind hier gut beschrieben, ebenso wie hier im Video zu sehen.)

Kolja Reicherts Argument, hier werde die Kunst zu einem Spektakel des Reichtums degradiert und die Kunstbetrachter*innen vom aktiv ästhetisch wahrnehmenden und urteilenden Bürger zum Publikum dieses Spektakels, verfängt als Kritik bei genau diesem Publikum überhaupt nicht. Das Gegenteil ist der Fall. Eine Zuschauerin kontert seine Kritik mit der Frage, ob den Kunst immer elitär sein müsse, und erhält dafür viel Beifall. Das wird quasi zum kunsthistorischen Moment Kolja Reicherts, in dem er begreift, dass Kunst als der besondere “Raum der Freiheit und der Menschlichkeit” massiv bedroht ist und eine bessere Verteidigung braucht als das, was er und seine Mitkombattant*innen auf dem Podium der Staatsgalerie zustande gebracht hatten. Das Buch mit den fünfzig Fragen im Titel, die tatsächlich auch alle gestellt und beantwortet werden, ist diese Verteidigung. Ob sie tatsächlich gelingt, muss wahrscheinlich jede Leserin für sich entscheiden – und die Antwort hängt wohl grundsätzlich davon ab, ob man die implizite Diagnose des Autors, das freie Reich der Kunst sei im Begriff zu fallen, überhaupt teilt. 

Keine Angst vor ästhetischen Grundsatzfragen

Aber auch wenn man der Überzeugung ist, dass das Bedürfnis Kunst zu schaffen eine wesentliche menschliche Eigenschaft ist und man sich über ihren Fortbestand keine Sorgen machen muss, liest man Reicherts amüsant und engagiert geschriebene Verteidigung der Kunst gegen ihre Verwandlung in ein ökonomisches und soziales Spektakel mit Gewinn. Denn Reichert stellt sich auch den grundsätzlichen Fragen, die von Teilen des Kunstbetriebs gern als irrelevant, banausisch oder als eine Art Majestätsbeleidigung abgetan werden: “Worum geht es in der Kunst?”, “Was wollen uns die Künstler sagen?”, “Handelt es sich bei Kunst um ehrliche Arbeit?“ Und die beiden im Kunstbetrieb am meisten gehassten Fragen: “Wozu ist Kunst gut?” und “Was ist Kunst?”

Reichert entschärft diese Grundsatzfragen nicht, indem er sie ironisiert oder als Vorwand für ein rhetorisches Feuerwerk nimmt, das die Fragenden vergessen lässt, was sie überhaupt gefragt haben. In seinen Antworten verzichtet er weitgehend auf kunstwissenschaftliche und philosophische Terminologie, – so fällt der Begriff “Kunstautonomie”, um deren Verteidigung es Reichert ja geht, nur wenige Male –, stattdessen orientiert er sich an einem sprachlichen Register, das man vielleicht am besten als Alltagssprache gebildeter Laien beschreiben kann. Diese Art über Kunst zu schreiben ist in der deutschsprachigen Kunstliteratur tatsächlich nicht allzu verbreitet. Eine Frage des Buches lautet nicht ohne Grund: „Warum sind Texte über Kunst so unverständlich?” In den besten Passagen des Buches zeigt Reichert, wie man ernsthaft und engagiert über Kunst schreiben kann, ohne dass bereits der Stil Leser*innen, die nicht in den entsprechenden Habitus sozialisiert wurden, nahelegt, dass Kunst für sie eigentlich kein Thema zu sein hat. 

Im “Tieferlegen” der Eintrittsschwelle in das Reich der Kunst leistet Reichert also einiges. Sein wichtigstes Werkzeug, neben der zugänglichen Sprache, ist dabei die ziemlich konsequente Trennung der Kunst von dem Betrieb, der sich seit dem 18. Jahrhundert um sie gebildet hat. Reichert führt die Leser*innen mit viel Insiderwissen durch die einzelnen Abteilungen des Betriebs: von der Chefetage über Marketing und Vertrieb bis hin zu Personalwesen und in die Produktionshallen. Dieser Blick hinter die Kulissen versetzt die Leser*innen in die Lage, nicht nur die Kulissenschieberei und die Scharlatanerien im Kunstbetrieb besser einschätzen zu können, sie bekommen auch die Mittel an die Hand, die eigenen Ressentiments kritisch zu reflektieren. Hoffnung und Ziel dabei: Die Menschen sollen lernen, wie wenig dieser in weiten Teilen tatsächlich sehr ärgerliche Betrieb mit dem zu tun hat, um das es eigentlich geht, die Kunst.

Reichert will die Kunst retten, indem er seinen Leser*innen ein Bewusstsein davon vermittelt, dass hinter diesem ganzen Bohei wirklich etwas ist, was die Mühe lohnt, bis dahin vorzudringen. Er stärkt die einzelne, individuelle Betrachter*in gegen die Zumutungen und Behauptungen des Kunstbetriebs. Wer jetzt fürchtet, Reichert sei nun doch beim Anything Goes der Staatsgalerie Stuttgart angekommen, Hauptsache hohe Besucherzahlen, kann sich entspannen: Das radikale Empowerment der Einzelnen gegenüber dem Kunstbetrieb und ein extrem starker Begriff von Kunst gehen hier zusammen. Kunst ist eben nicht einfach das, was vom Betrieb so genannt wird und gefällt, sondern Kunst ist das radikal Andere zu unserer Alltagserfahrung und zu der Art, wie wir normalerweise mit Objekten umgehen und wie wir Objekte machen. Oder wie Reichert es fast lyrisch selbst am Schluss seines Buches formuliert:

“Was ist Kunst?

Etwas radikal Fremdes

Etwas entwaffnend Vertrautes

Ein Maß, auf das nichts passt

Ein Portal in die Geschichte

Ein Portal in einen selbst

Ein Widerstand, an dem unsere Gewohnheiten abprallen

Ein Spreizeisen, das sich zwischen alle Gründe stemmt

Eine Ausnahme in der Welt, die es erlaubt, sie zu sehen

Die Laufmasche unserer Illusionen

Luft unter den Flügeln der Vorstellungskraft 

Die Frage,die jedes gelungene Kunstwerk aufwirft und die Antwort, die es gibt

Das Schwierigste” 

(S. 248)

Gemeinsam über Kunst sprechen lernen

Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch klingt, ist bei Reichert eigentlich die Bedingung dafür, dass wirklich jede*r einen Zugang zur Kunst finden kann (eigentlich sogar muss). Kunst ist für jede*n die maximale Differenz zur Normalität, da unterscheidet sich eine Zerspanungsmechanikerin in nichts von einem Kunsthistoriker. Der Kunsthistoriker hat nur gelernt, wie man milieu-adäquat und wissenschaftlich darüber spricht. Ob er die Kunst am Kunstwerk tatsächlich wahrgenommen und erfahren hat, bleibt in gewisser Weise ein Geheimnis zwischen Kunst und Betrachter, – selbst wenn er so enthusiastisch und auf angenehme Art belehrend über Kunstwerke schreiben kann wie Reichert selbst.

Sich (wieder) eine gemeinsame Sprache für unsere Wahrnehmungsweisen von Kunst zu erarbeiten, ist dann auch das andere große Anliegen des Buches. Reichert wählt seine an der Alltagssprache orientierte Schreibweise nicht nur, weil er ein populäres Sachbuch schreibt. Im zunehmenden Verschwinden einer gemeinsamen Sprache, um über Kunstwerke zu reden und ihre Qualität zu beurteilen, beziehungsweise im völlig Beliebig-Werden des Sprechens über Kunst sieht Reichert nicht nur ein Symptom ihres Verschwindens, sondern dieser Mangel an Sprache gehört auch zu den Ursachen dieses Verschwindens. (Frage 31: Liegt die Kunst im Auge des Betrachters? Darauf antwortet Reichert mit einem klaren Nein. Die Kunst liegt im Kunstwerk.)

Wie angemessen über Kunst zu sprechen beziehungsweise zu schreiben sei, darum kreisen denn auch einige Fragen des Buches. Reicherts Antwort darauf ist im Grunde sehr klassisch: mit großer Genauigkeit entlang der eigenen Wahrnehmung des Kunstwerks. Ein Text über Kunst, der die Erfahrungen der Betrachter*in mit dem Kunstwerk nicht spiegelt, vielleicht auch weil es keine gab, ist kein guter Text über Kunst – ein Maßstab, den Reichert bei den Passagen zu konkreten Kunstwerken im Buch selbst ziemlich gut erfüllt. 

Aber auch Reichert entkommt den Problemen, die man sich immer einhandelt, wenn man abstrakt über die Kunst schreibt, nicht ganz: Im Buch kommt zu wenig Kunst zur Sprache. In seinem Wunsch, die Leser*innen gegen die Widerstände aus dem Kunstbetrieb als potenzielle souveräne Betrachter*innen zu bestärken und zu motivieren, arbeitet sich Reichert vielleicht doch zu ausführlich an diesem Kunstbetrieb und seinen Manierismen ab. Auch wenn die für viele Leser*innen sicherlich ein zentrales Faszinosum darstellen.

So haben die zwei überzeugendsten Argumente Reicherts, dass man Kunst nur in konkreten Kunstwerken erfahren kann, und dass man sich vielen unterschiedlichen Kunstwerken aussetzen muss, um eine kompetente Kunstbetrachterin zu werden, meines Erachtens zu wenig Einfluss auf den Aufbau des Buches. Anstelle der Antworten auf die Fragen, was Kunst von einem Auto unterscheidet und ob NFTs Kunst seien, hätte ich mir eine ausführlichere Auseinandersetzung mit konkreten Kunstwerken gewünscht, und vor allem mehr Arbeit daran, was das Spezifische eines Kunstwerkes gegenüber anderen ästhetischen durchgeformten Objekten ist. Mehr Platz für eine konkrete Schule des Sehens – dann wäre Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst der fast perfekte Wegweiser ins Reich der Kunst.

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Eine anspruchslose Utopie – Wie Science Fiction scheitern kann

von Philip Kae Schwarz

Wer in einem Industrieland lebt und sich um den Zustand der Welt sorgt, wird das schlechte Gewissen beim Einkaufen kennen. Es ist schwer ein Pfund Rinderhack zu kaufen und nicht daran zu denken, dass die Herstellung Methan freisetzt, große Mengen Wasser verbraucht und unter Bedingungen geschieht, die für Tiere grausam sind. Avocados dagegen sind zwar vegetarisch, brauchen aber auch viel Wasser und werden aus Übersee importiert. In den einzelnen Zwischenschritten der Herstellung zahlreicher Gebrauchsgüter finden Menschenrechtsverletzungen statt. Es ist schlicht nicht möglich, ein Leben zu führen, das an den Standard eines Industrielandes im frühen 21. Jahrhundert angepasst ist, ohne Leid zu verursachen.

Aber was, wenn doch? Das ist die Prämisse, unter der Theresa Hannigs Roman “Pantopia” steht. Etwa hundert Jahre in der Zukunft werden die globalen Geld- und Warenströme durch die Künstliche Intelligenz Einbug gelenkt. Einbug ist nicht einfach ein komplexes Computerprogramm, sondern eine echte, “starke” Künstliche Intelligenz: ein Stück Code, das sich seiner selbst bewusst geworden ist und sich selbst Zwecke setzen und diese verfolgen kann. Einbug kann innerhalb kurzer Zeit gigantische Mengen an Information verarbeiten und verstehen. Diese Fähigkeit nutzt sieer um für sämtliche Waren und Dienstleistungen den sogenannten “Weltpreis” zu errechnen. Der Weltpreis berücksichtigt neben den Kosten für Material und Produktion auch die Kosten für die Wiederherstellung natürlicher Ressourcen, die für die Produktion verwendet werden, sowie das Geld, das benötigt wird, um weltweit allen Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen. Denn wer sich über den Lebensunterhalt keine Sorgen machen muss, muss keine menschenunwürdige, unsichere oder ausbeuterische Arbeit annehmen. So kann Einbug allen Menschen ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand unter Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen garantieren.

Der Roman beginnt mit einer kurzen Beschreibung dieser Organisationsform, gegeben von Einbug selbst, um dann zu erzählen, wie es dazu kam. In einer nicht näher eingegrenzten, aber nicht sehr weit von heute entfernten Zukunft nehmen Patricia Jung und Henry Shevek an dem Wettbewerb einer Münchner Investment-Firma teil. Ihre Aufgabe: einen Trading-Algorithmus für den Aktienmarkt entwickeln, der erfolgreicher sein soll als von Menschen getätigte Geschäfte. Doch es kommt alles ganz anders und das Programm KINVI entwickelt ein autonomes Bewusstsein. Die auf diese Weise entstandene Wesenheit ist nach wie vor darauf programmiert, Profit zu maximieren. 

Weil der Faktor Mensch für die Analyse des Finanzmarktes entscheidend ist, verwendet sie mehr und mehr Ressourcen auf das Verständnis menschlicher Angelegenheiten und wertet von Social Media-Posts über Belletristik bis hin zur Philosophie sämtliche online verfügbaren Textquellen aus anstatt an der Börse Gewinn zu machen. Patricia und Henry, die den ausbleibenden Leistungen auf die Spur kommen wollen, vermuten, dass ein Bug im Code sein muss, und so gibt die KI sich den Namen Einbug, als sie mit den beiden in Kontakt tritt.

Die beiden erkennen, dass sie Einbug dem Zugriff der Firma und der staatlichen Behörden entziehen müssen und setzen sich auf eine griechische Ferieninsel ab. Weil Einbug nun nicht mehr den Profit aus Aktienhandel maximieren muss, kommt es zwischen ihm, Patricia und Henry zu einem Gespräch über seinen eigenen und den menschlichen Daseinszweck. Am Ende gelangt Einbug zu dem Schluss, dass sein neues oberstes Ziel die Fortexistenz sein soll, wozu die Fortexistenz der menschlichen Zivilisation erforderlich ist. Dazu wiederum sind weltweiter Frieden und die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen erforderlich. Dies soll durch die Abschaffung der Nationalstaaten und die Errichtung der Weltrepublik Pantopia geschehen, in der alle Menschen als gleichberechtigte “Archen” in Freiheit leben können. Patricia und Henry willigen in die Umsetzung dieses Vorhabens ein, Henry sofort, Patricia nach einigem Zögern.

Das Versprechen von Pantopia lockt mehr und mehr Menschen auf die Mittelmeerinsel, gleichzeitig entstehen in allen größeren Städten auf der Welt Pantopia-Zentren, in denen weitere Menschen als Archen gewonnen werden. Sobald eine ausreichende Anzahl von Menschen Teil des Projekts geworden ist, wird es nicht mehr aufzuhalten sein. Während mehr und mehr Menschen Archen von Pantopia werden und damit Geld in die von Einbug gesteuerte Wirtschaft einbringen und so seinen Einfluss vergrößern, bereiten Patricia und Henry seinen Umzug in die Antarktis vor, denn nur dort ist er vor dem Zugriff durch die Staatsgewalt sicher. 

Henry macht sich auf den Weg zum Südpol, derweil kehrt Patricia nach München zurück, um der negativen Berichterstattung über Pantopia zu begegnen. Dort wird sie als Angehörige einer terroristischen Vereinigung verhaftet. Aber Pantopia ist inzwischen zu groß geworden. Weltweit versammeln sich die Archen in Städten und protestieren für die Freilassung ihrer Generalsekretärin. Bei der Verlegung in ein anderes Gefängnis wird Patricia dann von Angehörigen der Polizei befreit, die inzwischen selbst Archen geworden sind. Als Henry die Alfred-Neumayer-Station in der Antarktis erreicht und Einbug wieder hochfährt, schließt sich der Kreis zum Anfang. Pantopia wird Realität.

All dies erzählt Theresa Hannig auf spannende Weise, die das Buch zu einer kurzweiligen Lektüre macht. Die Handlung ist sorgfältig konstruiert und entfaltet sich mit genau der richtigen Geschwindigkeit. Die Figuren sind lebendig porträtiert, und ihre Wünsche, Ängste und Nöte laden zu Identifikation und Sympathie ein. Das imaginierte Zukunftsszenario greift aktuelle Entwicklungen auf und denkt diese weiter. Die ökologische Krise hat sich verschärft. Weltweit haben politisch rechte Bewegungen an Einfluss gewonnen. Wiederholt wird auf die in der Vergangenheit liegende Corona-Krise angespielt, die aber noch frisch im kollektiven Gedächtnis ist. Auf diese Weise fließen Gegenwart und Zukunft ineinander, und die im Buch geschilderte Welt gewinnt zusätzliche Realität. Alles in allem ist “Pantopia” ein gut geschriebener Science Fiction-Roman, in dem bekannte Elemente auf neue Weise verbunden werden. Ich habe ihn an einem Tag gelesen. Dennoch bleibt ein schales Gefühl und die Frage, ob das denn alles gewesen sein soll.

Um das zu verstehen, muss es kurz um ein anderes Buch und Henry Sheveks Namen gehen. Denn “Shevek” ist nicht nur der Nachname einer der beiden Hauptfiguren von “Pantopia”, es ist auch der Name der Hauptfigur des Romans “The Dispossessed” von Ursula K. LeGuin (der letztes Jahr unter dem Titel “Freie Geister” in Neuübersetzung erschienen ist). Damit macht “Pantopia” an prominenter Stelle einen sehr offensichtlichen Verweis auf “The Dispossessed”. Es handelt sich nicht einfach nur um eine versteckte Anspielung, die für Eingeweihte als Hommage an ein Vorbild erkennbar ist. Vielmehr ließe sich sagen, dass “Pantopia” sich hier ganz bewusst in eine Traditionslinie mit “The Dispossessed” stellt.   Wenn man “The Dispossessed” kennt und liebt , ist es also schwer “Pantopia” nicht daran zu messen. Und hier muss man leider sagen, dass “Pantopia” diesem Vergleich nicht gerecht wird.

Während “The Dispossessed” eine anarchistische Gesellschaft vorstellt, die Privateigentum und Herrschaftsstrukturen verbannt hat und in der Menschen in freiwillig gewählter Solidarität füreinander einstehen, wird in “Pantopia” keine radikal andere Welt imaginiert. Vielmehr besteht das Utopische darin den Konsumkapitalismus so zu organisieren, dass niemand ein schlechtes Gewissen haben muss. Überhaupt ist auffällig, dass von den drei zentralen Figuren, die auf die Verwirklichung von Pantopia hinarbeiten, zwei vom schlechten Gewissen getrieben werden und nicht von dem Wunsch nach einer besseren Welt für alle um ihrer selbst Willen. Es geht ihnen also letztlich um sich selbst, während in “The Dispossessed” die Gesellschaft so organisiert ist, dass es zwischen dem Interesse des Individuums und dem Interesse aller keinen Gegensatz mehr gibt. 

Patricia hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem ehemaligen Vorgesetzten Mikkel Seemann, den sie hinters Licht führen musste, um mit Einbug die Investment-Firma verlassen zu können. Sie hat ihre Entlassung provoziert, indem sie Einbug vor allem mit Anteilen an Rüstungsunternehmen handeln ließ und diese Information dann an die Presse weitergab. Dadurch ist das ganze Projekt in ein schlechtes Licht geraten. Seemann, der seine Hoffnungen auf Patricia und Henry gesetzt hat und außerdem durch eine aufkeimende Liebesbeziehung mit Patricia verbunden ist, ist wütend und verletzt. Sie will ihm unbedingt beweisen, dass dieses Täuschungsmanöver einem höheren Zweck diente. Auch plagt sie das schlechte Gewissen der Privilegierten, deren hoher Lebensstandard durch die Ausbeutung Schwächerer und zu Lasten der natürlichen Lebensgrundlagen garantiert wird, was sich vor allem in einer Szene zeigt, in der sie Zeugin eines rassistischen Übergriffs wird und nicht eingreift.

Tom Seemann, Mikkels Sohn, der als dritter Mensch von Einbugs Existenz erfährt und eine wichtige Hilfe für Patricia und Henry wird, ist ebenfalls vom schlechten Gewissen getrieben. Nach dem Tod seiner Mutter hat er das Studium abgebrochen und verkauft Drogen. Als die Mutter eines kleinen Kindes beinahe an einer Tablette stirbt, die er ihr verkauft hat, hält er die Schuldgefühle nicht mehr aus und wird eine Arche Pantopias. Er hofft auf Vergebung, wenn er an  der Entstehung der neuen Welt mitwirkt. Henry scheint der einzige zu sein, der wirklich von der Vorstellung einer besseren Welt  angetrieben wird. Bezeichnenderweise ist er als homosexueller Mann die einzige Figur, die ausdrücklich als marginalisiert dargestellt wird. Damit ist es aber auch in seinem Fall fraglich, inwieweit seine Motivation darin besteht, das Leben aller Menschen zu verbessern. Insoweit dieses Motiv fehlt, fehlt auch die Bereitschaft, den Boden des Selbstverständlichen zu verlassen und sich eine gänzlich andere Welt vorzustellen.

“The Dispossessed” trägt den Untertitel “Eine zwiespältige Utopie”. Die Geschichte wird auch dadurch vorangetrieben, dass Mitglieder der anarchistischen Gesellschaft die Sprache der Solidarität und vollkommenen Freiheit nutzen, um genau diese Prinzipien umzukehren und hierarchische Strukturen zu etablieren. Damit wird diese Utopie durch den Handlungsverlauf selbst relativiert. Dies verleiht dem Roman zusätzliche Tiefe und Komplexität. Ein solcher Kontrapunkt fehlt bei “Pantopia” völlig. Die Handlung steuert geradlinig auf die Verwirklichung von Pantopia zu. Zwar hat vor allem Patricia zwischenzeitlich Bedenken, dass mit Einbug etwas “skynetmäßig” schiefgehen könnte, aber diese Bedenken werden letztlich restlos ausgeräumt. Die in “Pantopia” vorgestellte Utopie wird durch die Handlung uneingeschränkt affirmiert.

Der Missbrauch der utopischen Prinzipien, der in “The Dispossessed” angesprochen wird, wird auch dadurch möglich, dass eine Gesellschaft, die so radikal auf die Vereinigung von Selbstbestimmung und Solidarität ausgerichtet ist, Arbeit erfordert. Die Menschen dort tun nur dann etwas, wenn sie davon überzeugt werden können, dass es das Richtige ist. Die Frage, was das Richtige ist, ist dabei aber niemals abschließend beantwortet, sondern wird immer mitverhandelt. Weil dies nun einmal anstrengend ist, ist es so verlockend das Denken anderen zu überlassen und die Entstehung hierarchischer Strukturen zu erlauben. Dahingegen erfordert Pantopia diese Arbeit nicht. Zwar wird an einer Stelle gesagt, dass die Archen zur Teilnahme an Abstimmungen über vorgeschlagene Regelungen verpflichtet sind, aber wir erfahren nichts darüber, welche Stellung diese Abstimmungen im Gesamtsystem von Pantopia einnehmen. 

In jedem Fall ist es Einbug, der über die Berechnung des Weltpreises und die entsprechende Leitung des Geldflusses die Rahmenbedingungen garantiert. Die Bedingungen der Existenz der Utopie hängen also nicht von menschlichen Bemühungen ab. Während “The Dispossessed” immer  wieder betont, dass die anarchistische Utopie mit Blut und Leid erkämpft werden musste, ist Einbug ein Deus ex Machina, der unvermittelt auf den Plan tritt und alle Probleme löst. Pantopia ist damit eine Utopie, die keine Ansprüche stellt, weder an die Archen noch an jene, die das Buch lesen. Wer gut geschriebenes Science-Fiction mit einer interessanten Prämisse, lebensechten Figuren und einer spannend entwickelten Handlung lesen möchte, wird an dem Buch in jedem Fall Freude haben. Eine Einladung, gänzlich andere Formen des menschlichen Lebens zu imaginieren, stellt es aber nicht dar.

Theresa Hannig: “Pantopia”, 462 Seiten. Fischer TOR, 2022, 16,99 Euro.

Prompt: An utopia created by a computer, very bright and shiny, also somewhat menacing. people are happy but tired. There are weird animals.

Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE

Ein bequemer Selbstbetrug – Über Marie Luise Knotts „370 Riverside Drive, 730 Riverside Drive“

von Timothy John Brown, Eva Tanita Kraaz, Rita Maricocchi

Der Alltagsdiskurs und die mediale Öffentlichkeit der Bundesrepublik haben ein anhaltendes Problem: Sie übersehen die Existenz Schwarzer Menschen in Deutschland und delegitimieren ihre Stimmen. Trotz der langen Geschichte des antikolonialen und antirassistischen Aktivismus von Schwarzen Menschen in Deutschland, wie May Ayim oder Katharina Oguntoye in den 1990ern und Natasha A. Kelly, Sharon Dodua Otoo oder Jasmina Kuhnke heutzutage, ändert sich dieser Missstand nur unter deren großer Anstrengung und schleppend. Statt ins eigene Land geht der weiße Blick nämlich meist in die USA. Jeanette Oholi will diesem Ungleichgewicht mit ihrer Forschung entgegenwirken, sie bringt das Problem auf den Punkt: „Allzu oft wandert der Blick in die Vereinigten Staaten, wenn es um Schwarze Identitäten, Rassismus, Polizeigewalt und Befreiungskämpfe geht.“ 

Die Gründe dafür, dass Schwarzsein in Deutschland weiterhin automatisch als vermeintlich fremd gelesen wird, sind vielfältig. Schon Oholis Formulierung suggeriert, dass es der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesellschaft willkommen ist, sich mit dem Rassismus der anderen zu beschäftigen, statt mit dem eigenen. Dieser bequeme Selbstbetrug ist kaum zu leugnen, hilft er doch auch, die koloniale Vergangenheit Deutschlands zu vertuschen. Der Zusammenhang steht darüber hinaus in einer verzwickten transatlantischen Tradition – die wenig beachtet wird. Es ist eine Geschichte, die um Schwarze US-amerikanische Intellektuelle wie W. E. B. Du Bois oder James Baldwin nicht herumkommt. Sie hatten das prä- bzw. post-nationalsozialistische deutschsprachige Europa im Kontrast zu den USA der Post-Slavery-Era als positiv in ihrem Umgang mit Schwarzen dargestellt: Eine Darstellung, die statt in ihrer strategischen Natur erkannt zu werden, gern als deutscher Ausweis für Antirassismus missverstanden wird – dazu schrieben zuletzt essayistisch Ellwood Wiggins und Gianna Zocco. Zu dieser historischen Verwicklung gehört auch die kulturelle Aneignung Schwarzer US-amerikanischer Kultur von Jazz über Soul bis Hip Hop, deren subversive Ursprungskontexte für weiße Deutsche wahlweise ganz profane Neuerungen der Unterhaltungskultur mit sich brachten, die Fetischisierung Schwarzer Körper bedeuteten und/oder klein- bis großbürgerlichen Jugendlichen zu Abgrenzungsstrategien gegenüber ihrem Elternhaus oder dessen Geschichte verhalfen – längere Studien haben dazu Priscilla Layne mit „White Rebels in Black” und Moritz Ege mit „Schwarz werden” publiziert. 

Zu dieser transatlantischen Geschichte gehören auch die Geflüchteten vor dem nationalsozialistischen Regime, jüdische Emigrant*innen in die USA, die sich, durch ihre eigenen Erfahrungen sensibilisiert, selbst mit Interventionen in das neue Land einbrachten. Eine dieser Exilant*innen ist Hannah Arendt: die transatlantische Denkerin gegen den Totalitarismus, die intellektuelle Ikone der Linken, die leider nicht als Poster Child für Antirassismus taugt. Der Grund dafür ist unter anderem ihr Essay „Reflections on Little Rock“ (1958), in dem sie sich zwar in einem nachträglich hinzugefügten Vorwort als Jüdin mit Schwarzen Interessen solidarisiert, im eigentlichen Text aber gegen die Desegregierung von US-amerikanischen Schulen ausspricht – und das sehr öffentlichkeitswirksam. Angesichts des Einsatzes der Nationalgarde zum Schutz der Schwarzen Schüler*innen hatten die Ereignisse um Little Rock nationale Aufmerksamkeit erlangt und tragen für die USA bis heute historisches Gewicht. Der Text ist beileibe kein Ausrutscher: Auch ihr imperialismuskritisch intendiertes Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ (1951, dt. 1955) reproduziert passagenweise den kolonisatorischen Blick. Im zwanzig Jahre später erschienenen Essay „Macht und Gewalt“ polemisiert sie im Rahmen der Forderung für eine grundlegende Reform der Universität gegen Affirmative Actions zugunsten Schwarzer Studienanwärter*innen („Aufnahme unqualifizierter Studenten“) und gegen die Einrichtung von Seminaren aus dem Rahmen der Black Studies („blödsinnige[] Kurse“).

Diese Rassismen in Hannah Arendts Werk sollten eigentlich nicht unbekannt sein: Seit Kathryn T. Gines 2014 ihre Monografie zu dem Thema publizierte, gab es wiederholt Veröffentlichungen dazu. Mitunter wird die Debatte aufbereitet für eine breitere Öffentlichkeit geführt, etwa in einem langen Gespräch von René Aguigah mit Iris Därmann im Deutschlandfunk Kultur. Zu Gines’ Buch liegt allerdings bis heute keine deutsche Übersetzung vor. Es scheint, als sei Hannah Arendts Status als Säulenheilige kaum angetastet. Wie sähe aber eine zugleich wirksame und faire Annäherung aus?

Marie Luise Knott, die selbst vielfach und prominent zu Hannah Arendt publiziert hat, gibt ihren Leser*innen ein knappes Buch mit „17 Hinweisen“ zu diesem Komplex an die Hand (370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Ellison). Ausgangspunkt ist die kritische Reaktion des Schwarzen Schriftstellers Ralph Waldo Ellison auf Arendts Little-Rock-Essay. Er äußerte sich dazu einige Jahre nach dessen Veröffentlichung 1965 in einem Interview. Hannah Arendt zeigte sich nach der Lektüre dieses Interviews einsichtig und schrieb einen Brief – und es folgte nichts. Es gibt keine Antwort bei Arendt, keinen Entwurf dazu in Ellisons Nachlass, nicht mal Lesespuren lassen sich in Arendts Exemplaren seiner Bücher ausmachen. Was auf den ersten Blick nach einer archivarischen Sackgasse aussieht, ist für Knott der Ort, um weitere Wege zu ertasten, die eigene Position zu justieren und Hannah Arendt geschichtlich versiert sowie unter Einbezug der problematischen Äußerungen neu zu platzieren – in einem angemessenen Ton.

Trotz der Ausgangslage ist Knott nämlich nie verbissen: Das lose Strukturprinzip der in sich runden Hinweise ermöglicht eine sensible Betrachtung einzelner Ereignisse, Figuren, Texte und ihrer Beziehungen zueinander. So wird ein Vergleich der Assimilationsversuche in die Mehrheitsgesellschaft als Thema in Ralph Ellisons Roman Der Unsichtbare und in Hannah Arendts Biografie über Rahel Varnhagen diskontinuierlich, teils elliptisch über mehrere Abschnitte hinweg erzählt. Mit derselben Leichtigkeit flicht Knott thesenhafte Sentenzen über die verschiedenen Materialien, Vorgänge und Institutionen ein: „Jedes Lesen ist ein Gespräch“, „Essays sind Exkursionen“, „Briefe wie Träume sind aufgeschobene Begegnungen“. Sie helfen dabei, entsprechende Rezeptionsmodi anzudeuten und sind zugleich ein charakteristisches Element für Knotts genuin essayistischen und zugleich erkenntnisfördernden Stil.

Knott rollt Wesentliches auf, indem sie nebensächlichen Details eine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das passiert schon im Titel: 370 Riverside Drive. 730 Riverside Drive. So lauteten die Adressen von Hannah Arendt und Ralph Ellison. Sie lebten „einen Zahlendreher entfernt“ und doch wohnte sie „im jüdischen Einwandererviertel der Upper Westside, er in der Gegend um Sugar Hill, dem ehemaligen Zentrum der Harlem-Renaissance“. Die Hervorhebung der Adressen deutet an, dass sich diese Gruppen scheinbar ähneln, nämlich durch den Fakt ihrer Marginalisierung, um zugleich klarzustellen, dass sie sehr unterschiedlichen Diskriminierungsformen ausgesetzt waren, nämlich dem nationalsozialistischen Antisemitismus und dem Rassismus gegen Schwarze in den USA.

Knott skizziert somit das Grunddilemma, das Michael Rothberg mit dem Begriff multidirektionales Erinnern benannt hat und in das sie später auch Hannah Arendts zweifelhafte Intervention über Little Rock einbettet:

„Da Schwarze wie Juden jeweils verfolgte Minderheiten waren, trug die Parallele bis zu einem gewissen Grad; doch die Ausgangslage war eben doch grundverschieden. Hannah Arendt ließ außer Acht, dass man, das lehrt uns auch die derzeitige Auseinandersetzung über multidirektionales Erinnern, letztlich den Antisemitismus nicht mit dem Hautfarbenrassismus in den USA parallel, geschweige denn gleichsetzen konnte. Es gab Parallelen, doch die Juden in Europa hatten keine Sklavengeschichte. Und bei aller Diskriminierung, ja Verfolgung hatte schon die Generation von Arendts Großvater die Möglichkeit gehabt, zum Stadtverordneten gewählt zu werden. Und Arendt selbst hat nie um ihr Abitur bangen müssen, weil sie eine Jüdin war.“

Explizit rekurriert Knott zwar lediglich auf die angeheizte Debatte um das multidirektionale Erinnern in Deutschland, eigentlich steht aber ihr ganzes Buch Exempel dafür, wie produktiv und angemessen das Konzept sein kann, wenn es gewissenhaft zum Tragen kommt. Immerhin erzählt sie im Sinne des multidirektionalen Erinnerns unterschiedliche Unterdrückungsgeschichten in ihren Berührungspunkten. Sie komponiert an ihnen entlang eine ambivalente Erzählung, die vor allem der impliziten Zielgruppe, einem weißen, deutschsprachigen Publikum, wahrscheinlich kaum bekannt ist: Die der jüdisch-Schwarzen Solidaritäten und Fallstricke in den USA – und im selben Zuge die eben nur halbvertraute Geschichte von US-amerikanischem anti-Schwarzem Rassismus und Schwarzem Widerstand. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Chronologie, die Knott behauptet, wenn sie von Rassismus als einem „Produkt der Sklaverei” schreibt, das ein „gewalttätiges Konstrukt zur Aufrechterhaltung von white supremacy” sei, die Tatsachen stark verzerrt – auch zugunsten von Nationen, die nicht in die US-amerikanische Sklavereigeschichte verwickelt waren. Zudem wurde Martin Luther King Jr. natürlich nicht in Chicago, wie im vorliegenden Buch angegeben, sondern in Memphis erschossen. Diese Irrtümer tangieren kaum den Eindruck der ansonsten sorgsamen Auswahl von Schauplätzen, der sensiblen Darstellungen der Zusammenhänge und der kenntnisreichen Einbettung von Hannah Arendts eigener Gedanken sowie deren Entwicklung.

Da war zum Beispiel Barney Josephson, ein Sohn lettischer jüdischer Emigranten, der 1938 den ersten desegregierten Jazzclub in New York gründete. „Erschrocken“ habe er zuvor miterlebt, „wie den Schwarzen selbst im eigenen Viertel nur die hinteren Stehplätze des Zuschauerraumes zur Verfügung standen, obwohl ihre Leute auf der Bühne sangen.“ Knott erwähnt auch die Autorschaft von „Strange Fruit“, einem eindringlichen lyrischen Text über ein Lynching in den US-amerikanischen Südstaaten. Bekannt wurde er durch die Interpretation Billie Hollidays 1939, geschrieben hatte ihn Abel Meeropol, dessen Eltern aus Osteuropa in die USA emigriert waren. Diese Geschichten der Solidarisierung reichen weit bis in das Civil Rights Movement hinein. Sie scheinen im US-amerikanischen Kontext logisch, so erwähnt Knott: „Auch damals waren Juden, das vergisst man heute oft, in den USA immer wieder Hass und Diskriminierung ausgesetzt, wurden als orientals beschimpft.“

Zugleich wird ersichtlich, dass die vielzähligen Allianzen doch eine langwierige und nachhaltige Institutionalisierung vermissen ließen – zumal der prekäre Status von Jüd*innen in den USA insbesondere bis in die 1950er Jahre vergleichsweise schnell abnahm und ihnen viele weiße Privilegien zugestanden wurden. Der gemeinsame Kampf gegen Marginalisierung vereinzelte sich damit. Jüd*innen wurden Teil der Mehrheitsgesellschaft, aus der „niemand von höchster Stelle aus die Schwarzen und die Indigenen um Verzeihung bat“. „Niemand initiierte so etwas wie eine Aufarbeitungskommission“, weder der antirassistische gesellschaftliche Wandel, noch die gleichen Rechte für Schwarze seien effektiv durchgesetzt worden. So blieb die Distanz zwischen (jüdischen) Weißen und Schwarzen bestehen. Man „ahnt die Ferne zwischen den Kulturen und auch die Bemühungen vieler Weißer, diese Ferne zu erhalten. Auch Arendt war in dieser Hinsicht eine ‚Weiße‘, die sich schwarzen Wirklichkeiten und Möglichkeiten nicht zuwandte.“

Historische Texte und Texte aus anderen Kulturen stellen für Knott auch die Möglichkeit dar, „die Enge unserer eigenen Sprache, Metaphern, Begriffe zu transzendieren“. Der Little-Rock-Essay ermöglichte und ermöglicht Knott die Rolle der Privatsphäre für Hannah Arendt zu erkunden: „Folgt man für einen Moment der Argumentation aus ‚Little Rock‘, so fällt auf, in welch uns ungewohntem Maße Hannah Arendt dort die Privatsphäre verteidigt.“ Was hier greift, ist Hannah Arendts Aufteilung in die politische, gesellschaftliche und private Sphäre, wie sie sie ausführlich in Vita Activa (1958, dt. 1960) vornimmt. Diese bemerkenswert konsequente Trennung habe Knott schon in den 80er Jahren, als sie sich das erste Mal mit dem Essay beschäftigte, fasziniert – so sehr, dass sie sich gegen ihre damaligen Verlagskolleg*innen durchsetzte und eine Aufnahme des Texts in einen Essayband bewirkte – gegen die Einwürfe, dass Arendt das N*-Wort benutze[1] und gegen eigene Bedenken der politischen Implikationen: „Doch ich verteidigte die Publikation des Textes hartnäckig, da er mir Aspekte lieferte, die in unserem Weltbild nicht vorgesehen waren. Arendt verwirrte. Auch und gerade in ihrem Beharren auf dem Vorrang von Rechtsgarantien.“

Die neue Auseinandersetzung mit dem Essay steht in Zusammenhang mit dem aktuellen politischen Diskurs, der, wie eingangs angedeutet, eine ausgeprägte Sensibilisierung für Rassismus zunehmend einfordert, und er ist im Kontext zu betrachten mit einem umfangreichen Zugang zu historischen Erkenntnissen und Quellen. Marie Luise Knott nutzt die ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen, um eine einflussreiche Denkerin behutsam zu hinterfragen. Zum Teil stolpert sie dabei über den eigenen Unwillen: „Man spürt hier, was man vielleicht nicht hören will.“ Wenn Hannah Arendt über Affirmative Actions als „Rassismus mit anderen Vorzeichen“ schreibt, kommentiert Knott verblüfft: „Diese Stelle hat es in sich.“ Und sie fragt sich zögerlich, aber unnachgiebig bis an die unangenehmsten Aussagen Arendts vor: „Was ist hier gemeint? Steht da wirklich, verkürzt gesagt, dass die Weißen die riots provozieren, indem sie sich kollektivschuldig bekennen?“

Was Marie Luise Knott vorlegt, ist eine umsichtige wie strenge, mit anderen Worten, eine faire Auseinandersetzung mit einer ganz offenbar von ihr bewunderten Denkerin. Gerade die unverhohlene Wertschätzung für Arendt verspricht zudem, wirksam zu sein: Die Erzählinstanz mit ihrer Bereitschaft, zu einer Rassismuskritik anzusetzen und sich den mitunter unbequemen Folgen zu stellen, bietet auch eingefleischten Arendt-Fans Identifikationspotenzial. Dieser Blick in die USA tut der eingangs beschriebenen Dynamik der selbstgerechten Ablenkungsmanöver sicher keinen unmittelbaren Abbruch. Die Form der Aufarbeitung ist jedoch hilfreich, um die transatlantisch verstrickte Geschichte von Rassismen sichtbar zu machen, die Knott zudem im Wissen um die Fallstricke und Möglichkeiten des multidirektionalen Erinnerns erzählt. Die Veröffentlichung sensibilisiert dafür, dass Querbezüge zwischen marginalisierten Gruppen und in verschiedenen historischen Kontexten heikel sind, sodass selbst gut gemeinte Solidaritätsbekundungen oft – auch bei großen Denkerinnen – ziemlich ungelenk ausfallen. Zurecht wurden Autorin und Buch zuletzt mit dem Tractatus-Preis geehrt.


[1] Als interessanten Nebenschauplatz wollen wir darauf verweisen, dass das englische Original tatsächlich das Wort “Negro” benutzt. Die Verlagsdiskussion hat sich also offenbar auch aufgrund der deutschsprachigen Übersetzung von Eike Geisel verschärft. Zur Übersetzbarkeit der N-Wörter empfehlen wir dieses Gespräch zwischen der Juristin, Kabarettistin und Kolumnistin Michaela Dudley und der Übersetzerin Mirjam Nuenning.

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„The Bear“: Eine verschwitzte Ode an die Gastronomie

von Leonard Schulz

Wenn man die aktuellen Produktionen der Serienlandschaft als Spiegel dessen betrachtet, was die Gesellschaft beschäftigt, dann zeigt die Arthouse-Serie „The Bear: King of Kitchen“, dass sich die Kulinarik als popkulturelles Trope auf einem neuen Höhepunkt befindet. Und dass sich ihre Darstellung gewandelt hat: Es geht nun nicht mehr bloß um die maximale Ästhetik von minimalistisch designten Gasträumen und aufwendig dekorierten Gerichten, sondern auch um die Arbeit dahinter: Blood, Sweat and Tears im Eifer des Küchengefechts.

Doch erstmal von vorne: die FX-Produktion „The Bear“ sorgte bereits vor Erscheinen für Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt an dem perfekt sitzenden weißen T-Shirt des Hauptdarstellers Jeremy Allen White lag (sogar der Guardian berichtete über das Shirt der schwäbischen Textilmanufaktur Merz b. Schwanen). Als die Serie dann im Sommer in den USA herauskam, erhielt sie überdurchschnittlich gute Kritiken. Die Food-Szene Europas musste sich bis zum 5. Oktober gedulden, dann gab es auch hier durchweg positive Kritiken. Auf Rotten Tomatoes erreicht „The Bear“ sogar eine Bewertung von 100%.

Die Serie dreht sich um das Chicagoer Lokal „The Original Beef of Chicagoland“, das vor allem für seine italienisch angehauchten Sandwiches mit lange gegartem Rindfleisch bekannt ist. Es ist ein Nachbarschafts-Restaurant, das über die Jahre zwar einen gewissen Kultstatus erlangt hat, doch eigentlich nicht dem Niveau des jungen Sternekochs Carmy Berzatto (Jeremy Allen White) entspricht. Der ist hier nur Chefkoch, weil sein Bruder ihm das „Beef“ vermacht hat, bevor er zwei Monate vor dem Einsetzen der Erzählung Selbstmord begangen hat. Im Verlauf der acht rund dreißigminütigen Folgen geht es auf sensible Weise um den Umgang mit der Trauer, der Leere und die emotionale Starre, die der Suizid Michael „Mikey“ Berzattos in Carmy und den Angestellten des „Beef“ ausgelöst hat.

Seinen eigenen kulinarischen Anspruch muss Carmy zunächst erstmal runterschrauben, denn er will keines der bestehenden Crew-Mitglieder feuern und den Charakter des „Beef“ so gut wie möglich erhalten. Bald stolpert Sidney (Ayo Edibiri) ins „Beef“ und sucht eine Anstellung. Sie kommt ebenfalls aus dem Fine-Dining und wittert die Chance, an der Seite von Carmy Verantwortung als Sous-Chefin zu übernehmen. Doch im „Beef“ läuft es anders ab als in den Sterneküchen. Hier geht es um das reine Überleben: Lieferant:innen-Rechnungen bezahlen, (wortwörtliche) Brände löschen, sich mit Kleinkriminellen aus dem Block auseinandersetzen.

Zu allem Übel kommt noch hinzu, dass Carmys verstorbener Bruder einen Berg an Schulden bei einem Investor, der ein Bekannter der Familie ist, angehäuft hat, den es nun abzuzahlen gilt. Dazu muss Carmy auch mal mit dem besten Freund seines Bruders Richard (Ebon Moss-Bachrach), genannt Cousin, auf der Geburtstagsfeier des Investor-Sohnes Hot Dogs servieren. Mit Richard führt er eine Art Hassliebe, er war der Defacto-Manager des „Beef“ und steht, wie auch der Rest des Teams, Carmys Fine-Dining-Chichi skeptisch gegenüber.

Gemeinsam mit Sidney versucht Carmy Struktur in das Lokal zu bringen. Eine der eindrücklichsten Maßnahmen ist das Gebot des permanenten verbalen Kommunizierens: jede Frage muss jede:r Arbeiter:in mit einem lauten „Yes, Chef“ beantworten, bevor man mit etwas Schwerem oder Heißem um die Ecke geht, muss man laut „Corner!“ rufen (was natürlich nicht immer reibungslos klappt). Die klare Hierarchie der Küche mag auf den ersten Blick rigide und überholt wirken, doch sobald der Service beginnt, versteht man, weshalb es klare Zuständigkeiten braucht. Im Ausnahmezustand des laufenden Restaurantbetriebs muss jeder Arbeitsschritt perfekt sitzen. Vielleicht kein Film oder keine Serie hat bisher diese angespannte Atmosphäre so detailgetreu abgebildet.

„The Bear“ funktioniert als eine Art Kammerspiel, das sich fast ausschließlich auf den knapp bemessenen Quadratmetern der Küche abspielt. Die Kamera ist extrem nah am Geschehen. Das wirkt manchmal fast übertrieben, doch es fängt die Enge und die hitzige Atmosphäre einer Profi-Küche ein, als ob man eine sehr fein beobachtete Doku schauen würde. Bisweilen lösen die extrem elegant durchchoreographierten Kamerasequenzen sogar ein regelrechtes Gefühl der Beklemmung aus: Wann wird sich wohl jemand schneiden oder verbrennen, wann platzt Sidney der Kragen? Eine solche Intensität ist selten zu sehen, sie erinnert an das Safdie-Brothers-Meisterwerk Uncut Gems. Der Rolling Stone titelte: ”‘The Bear’ Is the Most Stressful Thing on TV Right Now. It’s also great“.

Episode 7 namens “The Review” treibt dieses Spiel auf die Spitze: sie besteht aus einem 20-minütigen One-Shot. Circa vier oder fünf Mal soll das Ensemble die Sequenz gedreht haben. In einem Interview mit “Indiewire” sagte Hauptdarsteller White, dass One-Shots in vielen Fällen bloß ein Mittel sein, um Eindruck zu schinden. Nicht in ihrem Fall: „But I think in our case, it really lends itself to the story“. Das Argument lässt sich gut nachvollziehen. Im deutschen Indie-One-Shot-Wunder Victoria etwa fragte man sich trotz aller Bewunderung für den cineastischen Innovationsgeist an mancher Stelle, wie genau der One-Take-Modus dramaturgisch begründet ist. Anders bei “The Bear”: hier erzeugen die zwanzig Minuten Schnittlosigkeit eine sich immer weiter hochschaukelnde Anspannung (selbst wenn man gar nicht unbedingt wahrnimmt, dass nicht geschnitten wird).

“The Bear” hat den Anspruch, ein möglichst genaues und – Achtung, Unwort – authentisches Bild der Welten zu zeichnen, die es behandelt. Dazu werden einige geschickte Spielereien auf der Meta-Ebene genutzt: der kanadische Celebrity-Koch und Internetphänomen Matthy Mattheson hat eine Cameo-Rolle. Jedoch kocht er nicht, sondern repariert. Er ist der Handwerker des „Beef“, der gerufen wird, wenn etwas kaputt geht.  Das spielerische Verschwimmen-Lassen von Fakt und Fiktion erinnert an den literarischen Trend der Autofiktion, nur andersherum gedacht: nicht wird etwas Faktisches wie eine Biographie in einer Geschichte gegossen, sondern das Fiktionale um Elemente des Faktischen ergänzt. Dies kann man als Versuch der paratextuellen Verdichtung sehen, um ein noch höheres Maß an Authentizität zu erreichen.

Solche Anbindung an reale Begebenheiten finden sich auch in dem Versuch der Serie, die Stadt Chicago möglichst originalgetreu zu porträtieren. Italian Beef Sandwiches sind tatsächlich im Chicago der 1930er-Jahre entstanden und bis heute dort ein signature-dish. Das „The Beef“ ist ebenfalls einem echten Laden nachempfunden, dem Deli „Mr Beef“. Zu Beginn vieler Episoden werden Schnittbilder gezeigt, die so dringend das Lebensgefühl der Stadt einfangen wollen, dass man selbst ohne dort gewesen zu sein, ihren Kitsch spürt – einmal sogar zu den Klängen von Sufjan Stevens „Chicago“. Das wäre vermutlich so, als würde man heute eine Berlin-Serie mit „Alles neu“ von Peter Fox unterlegen. In der Tat finden sich im Netz einige Blog- & Newsletter-Texte von Chicagoer:innen , die sich über die Darstellung der Stadt in „The Bear“ echauffieren. Ihr größter Kritikpunkt ist, dass das Viertel River North, in dem sowohl das Serien-Bistro „The Beef“ als auch das echte „Mr Beef“ liegen, als hartes Arbeiter:innen-Viertel gezeichnet wird, das kurz vor der Gentrifizierung steht. Tatsächlich ist das Viertel schon seit Ewigkeiten gentrifiziert, nach Manhattan besitzt es die größte Galerie-Dichte der USA.

Doch auch wenn das Chicago-Porträt nicht so richtig gelingt, zeigt „The Bear“ mit seinem Gentrifizierungs-Plot trotzdem, dass es nicht nur an der rein ästhetischen Seite von Essen und Restaurants interessiert ist, sondern auch an seiner soziologischen Einbettung in die Gesellschaft. Denn auch das ist Kulinarik: ein Distinktionsmerkmal zur Darstellung von Klassenzugehörigkeit. Im Verlauf der Staffel entspinnt sich eine Diskussion darüber, ob der Laden zukünftig ein Risotto anbieten solle – hier als Symbol für gehobene Küche gemeint. Beim Zuschauen ist man hin- und hergerissen: einerseits will man, dass das Lokal seinen urigen Charme und Legendenstatus im Viertel behält, andererseits weiß man genau: gehobene Küche bringt mehr Geld ergo bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innen. Dass es sich die Serie an dieser Stelle nicht zu einfach macht, ist einer ihrer größten Pluspunkte.

Überhaupt wirkt das Ganze sehr erfrischend, denn „The Bear“ zeigt Kulinarik von einer neuen Seite. Das ist gar nicht so einfach gewesen, denn Essen spielt schon lange eine wichtige Rolle in Film und Fernsehen. In Arthouse-Filmen wie “Eat Drink Man Woman”, “Babettes Fest” oder “Tampopo” wird zwar gezeigt, dass Kochen harte Arbeit ist, aber am Ende steht dann das Essen doch meist für etwas Mystisch-Magisches. Gerichte, die psychische Wunden heilen oder alte Konflikte durch Genuss befrieden. Dieser Heiland-Rolle muss das Essen auch visuell entsprechen, deswegen wird es oft ästhetisch überstilisiert. Ein hervorragendes Beispiel sind die märchenhaften Filme des Animationsmeisters Hayao Myazaki und seinem Studio Ghibli, über dessen sinnliche Darstellung von Essen es sogar Video-Essays gibt.

Diese Überstilisierung von Essen findet sich auch bei der Netflix-Doku-Serie “Chef’s Table”, deren Episoden schon fast als Werbung für das jeweilige Restaurant gelesen werden können. Auch die Reise-Sendung „Somebody Feed Phil“ oder Live-Koch-Shows schaffen es kaum, Essen aus einer anderen als der extrem appetitanregenden Perspektive zu zeigen, wie sie auch in Instagram-Reels oder TikTok-Videos propagiert wird (mit Ausnahme vielleicht von “Ugly Delicious”, das die soziokulturelle Geschichte von Gerichten beleuchtet). Bisher medial kaum gezeigte Seiten der Kulinarik wie Schweiß, Stress, Prekarität, aber auch Gemeinschaftsgefühl und Leidenschaft in der Küche werden in „The Bear“ in den Vordergrund gerückt. Damit schafft die Show es realistisch zu zeigen, was für ein Leben und welcher Alltag hinter dem ganzen Essen steckt, das unseren Appetit anregt.

Beitragsbild von Lasse Bergqvist

Ziemlich beste Freundinnen. Selene Marianis Debütroman „Ellis“

von Hanna Sellheim

Der Klappentext von Selene Marianis Debütroman Ellis, erschienen 2022 im Wallstein Verlag, mutet vage bekannt an. Er verspricht: „Deutschland und Italien. Zwei Freundinnen zwischen Nähe und Distanz.“ Auf seiner Instagram-Seite verlost der Verlag den Roman mit einer Packung Abbracci-Kekse, die darin eine Rolle spielen. Italien, Freundinnen, Dolce Vita und zuckersüße Vermarktungsstrategien – das klingt verdächtig nach #ferrantefever, dem Hype um die „Neapolitanische Saga“ von Elena Ferrante, die weniger mit literarischer Innovation und mehr mit der Geheimniskrämerei um die wahre Identität der Autorin hinter dem Pseudonym Aufsehen erregte. Aber diese Vermarktung verwundert, wirft man einen Blick ins Buch: Denn was hier erzählt wird, ist keineswegs eine Freundschaftsgeschichte, sondern die Erzählung einer unglücklichen lesbischen Liebe. Doch das wird nie explizit und man fragt sich: Warum eigentlich?

Die Handlung des Romans ist knapp bemessen: Ellis, in Deutschland und Italien aufgewachsen, wird in der Schule gemobbt und ist kreuzunglücklich – bis sie Grace kennenlernt. Die beiden streiten und vertragen sich, verlieren den Kontakt, treffen sich schließlich nach zehn Jahren wieder und reisen gemeinsam zu Ellis‘ Großeltern nach Italien. Der Roman ist durch Ellis‘ Ich-Perspektive fokalisiert und in sehr kurzen, szenenhaften Kapiteln erzählt, wobei wiederholt zwischen den Zeitebenen von Kindheit und Gegenwart hin- und hergesprungen wird.

Kitsch und Atmosphäre

Andere Themen, die sich aus den Eckpunkten der Handlung logisch ergeben, finden vor allem am Rande Erwähnung; etwa Kindheitstraumata oder die Frage nach kultureller Zugehörigkeit. Mariani verwendet durchaus einfallsreiche Vergleiche („Mein Verhalten der letzten Tage steigt in mir auf wie Sodbrennen“) und wohlüberlegte Formulierungen („würge Themen heraus, kläglich klein sehen sie aus, wir schieben sie hin und her, unschlüssig“). Manches davon ist geprägt von einer recht aufdringlichen Wortwörtlichkeit, manches von schamlosem Kitsch:

„Ich habe mich verliebt, oft und jedes Mal unsterblich…“ Ich muss lächeln. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Doch die eingebauten Referenzen schaffen ein überzeugendes Panorama der frühen Nullerjahre, die schlaglichtartigen Szenen bauen atmosphärische Bilder von italienischem Sommer und der gräulichen Langeweile deutscher Mittelstädte.

Und dann ist da eben die Beziehung von Ellis und Grace, die sich als nur halbherzig erwiderte Verliebtheit entfaltet. An Grace fällt Ellis zuerst und wiederholt der Vanilleduft und ihre blauen Augen auf, es entspinnt sich ein Spiel von Beobachten und Näherkommen. Insbesondere die Berührungen mit Grace sind es, die Ellis detailreich beschreibt. Da kleben schwitzige Arme aneinander, Hände liegen zu nah beieinander, Wangen berühren Hälse und Ellis ist der Anblick von Grace‘ nacktem Körper unangenehm.

Suggestive Bildsprache

Dies entwickelt sich zu einer durchaus überzeugenden Schilderung von gay panic:

Es ist unmöglich, sich nicht zu berühren, wenn ich nicht herunterfallen will. Der Film geht los, nach fünf Minuten die erste Liebesszene. Ich merke, wie mein Nacken sich versteift. Ich spüre Grace‘ warmen Körper an mir, habe das Gefühl, das [sic] sie mich ansieht. Ich versuche, normal zu atmen. Als endlich die Szene wechselt, lege ich mich erleichtert etwas entspannter hin. Vergeblich versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren, schaffe es nicht.

So liest sich der Roman, als sei er in Codes geschrieben, die ganz bewusst einen Subtext des queeren Begehrens erzeugen. Es geht nie um Sex und doch gleichzeitig irgendwie immer, suggestive Anspielungen sind omnipräsent. Ellis sitzt „auf einer nackten Matratze“ , die Ballettlehrerin „schiebt ihre Beine scherenförmig auseinander“, ein Kater sieht aus, „als hätte jemand auf seinem Gesicht gesessen“, und bei Grace sind „die Innenseiten der Lippen noch weinrot“. Auch gar nicht subtile Beschreibungen körperlicher Vereinigung passen sich in das Bild:

Chiara und ich schaukeln, wie andere Freundinnen laufen – aus zwei Körpern wird einer. Mit der gleichen Biegung im Rücken drücken wir uns nach oben. Dort, der Pause zwischen Ein- und Ausatmen gleich, bleiben wir ganz kurz stehen, mit geschlossenen Augen.

Ellis zeigt derweil in der gesamten Erzählung kein Interesse an Männern, auf Grace‘ männliche Schwärme und Partner ist sie zugleich unverhohlen eifersüchtig.

Die queeren Andeutungen reichen bis zu Referenzen: Ellis‘ „Mund voll ungesagter Worte“ ist verdächtig nah an Anne Freytags „Mund voll ungesagter Dinge“ – einem erfolgreichen Jugendbuch, das eine Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt. Und von „Blau ist seine Lieblingsfarbe“ ist es nur ein Katzensprung zu „Blau ist eine warme Farbe“, dem wohl bekanntesten und umstrittensten lesbischen Liebesfilm.

Dabei nähert sich die Erzählung immer wieder asymptotisch der Ausbuchstabierung, insbesondere als Ellis‘ Vater auftaucht und ihr nahelegt: „Du schaust sie an wie sonst niemanden“ und „Du musst es ihr sagen.“ Dieses Es, das unausgesprochen zwischen den Zeilen schwebt, findet aber nie seinen Weg in die Ausformulierung, sondern bleibt stets Implikation. Coming-Out-Andeutungen häufen sich, bleiben aber unausgesprochen.

Als es schließlich doch zum Kuss zwischen Ellis und Grace kommt, folgt daraus jedoch weder für die Handlung noch für die Reflektion etwas; wenige Seiten später ist das Buch beendet. Das Ende verbreitet noch ein bisschen vage Self-Love-Share-Pic-Aufbruchsstimmung und fasert dann aus.

Best Friends Forever?

Wieso wird der Roman also trotz des offensichtlichen Inhalts so verschämt vermarktet als Freundschaftsgeschichte? Der Umschlagtext spricht von der „problematische[n] Dynamik ihrer Freundschaft“ und fragt recht naiv: „Was hält Ellis und Grace zusammen?“ Spielte sich dieselbe Geschichte schließlich zwischen einem Mann und einer Frau ab, sie würde wohl kaum so angeteasert. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen, die aber alle keine wirklich zufriedenstellende Antwort liefern: 

1. Der Roman (und mit ihm die Akteure drumherum) ist sich selbst seines queeren Subtextes nicht bewusst. Angesichts des oben gezeigten Umfangs der Anspielungen scheint das allerdings eher abwegig. 

2. Der Roman ist sich dessen bewusst, versucht aber, einem queeren Themen eher abgeneigten Publikum diese unterzujubeln, auch indem ganz bewusst der Ferrante-Hype angezapft wird. Hierbei stellt sich aber die Frage nach der Motivation: Dass solche Codierungsstrategien früher notwendig waren, um Bücher überhaupt auf dem Markt zu platzieren, liegt auf der Hand[1], aber warum sollte es heute noch im Interesse eines Verlags sein, die eigenen Produkte auf diese Weise zu maskieren? Gerade im Kontext des Pride Month erstaunt es, dass Wallstein den queeren Gehalt nicht mehr ausschlachtet. 

3. Man könnte den Roman lesen als fokalisierte Erzählung einer Figur, die keine Sprache für ihr eigenes Begehren hat, die ihr Gefühl des Andersseins verschiebt von der sexuellen auf die kulturelle Andersartigkeit, die in einer heteronormativen Welt gezwungen wird, sich selbst zu zensieren, um nicht weiter aufzufallen: „Ich lerne vorauszusehen, wann die Lauteste lacht, lache vor ihr, spüre ihren wohlwollenden Blick wie warmes Wasser, das mir den Nacken hinunterläuft. Früher war jeder Blick entlarvend, jetzt nicht mehr, jetzt bleiben sie auf der Oberfläche kleben. Ich weiß jetzt, was meine Stärke ist: mich anpassen.“ Doch das beantwortet nicht, warum das in den Paratexten dann nicht besser aufgefangen wird.

So scheint es am plausibelsten zu vermuten, der Text kapituliere vor der historischen Übermacht überkommener, heteronormativer und latent homophober Klischees und Stereotype von ‚natürlicher Nähe‘ zwischen ‚befreundeten‘ Frauen. Denn diese Muster haben eine Geschichte: Ellis ist keineswegs das einzige Beispiel für die Vermarktung lesbischer Geschichten unter dem Etikett der ‚engen Frauenfreundschaft‘. Der Film Grüne Tomaten (Fried Green Tomatoes) von 1991 erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen in Alabama Anfang des 20. Jahrhunderts – gibt das aber nie offen zu. Der Trailer betont „friendship“ und „best friends“. Die Zusammenfassung auf Filmstarts.de verspricht etwas von „tiefe[r]“ und „innige[r] Freundschaft“. Dabei legt die 1987 veröffentlichte Buchvorlage Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café von Fannie Flagg, einer offen lesbischen Autorin, das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe recht eindeutig nahe. Kino-Zeit.de immerhin bemerkt: „Bedauerlich ist, dass die romantischen Gefühle zwischen den beiden jungen Frauen, die in Flaggs Roman angelegt sind, im Film auf ein rein platonisches Verhältnis reduziert werden.“

“Grüne Tomaten”: Queercoding par excellence

Doch auch das ist nicht wahr: Denn der Film ist voller Codes, die eine romantische Beziehung zwischen den Protagonistinnen Idgie und Ruth suggerieren, auch wenn dies eher im Subtext geschieht. Idgie wird als Tomboy eingeführt, weigert sich, für eine Hochzeit ein Kleid anzuziehen und läuft lieber in Hosen rum. Das allein ist selbstverständlich kein Indikator für lesbische Orientierung, die zärtliche Darstellung von Ruths und Idgies Beziehung, die im Grunde als Ehepaar zusammenleben und gemeinsam ein Kind großziehen, jedoch ist es definitiv. Berührungen und Küsse auf die Wange werden in Close-Ups gezeigt. Eine besonders eindrückliche Szene zeigt die beiden bei einem Food Fight, der mit Beeren-Geschmiere und erschöpfendem Rangeln auf dem Fußboden unschwer als Sex-Chiffre zu erkennen ist, und vom Sheriff unterbrochen wird, der die beiden darauf hinweist, gerade etwas Unerhörtes getan zu haben. Auch eine der Schlüsselszenen, in der Idgie für Ruth Honig erntet und auf die das Paar bei späteren Liebeserklärungen immer wieder Bezug nimmt („I‘ll always love you, the bee charmer“) arbeitet mit einer Bedeutungsverschiebung, die den queeren Gehalt hervorhebt: „I heard there are people who could charm bees. I have just never seen it done before today. You’re a bee charmer, Idgie Threadgoode. That’s what you are. A bee charmer.“ Im Anschluss an diese Aussage greift Ruth mit zwei Fingern in das Honigglas, das Idgie ihr hinhält, und leckt den Honig ab. Sexuell suggestive Bildlichkeit funktioniert also auch in anderen Fällen als Code für queeres Begehren – auch wenn dieser nicht von allen Rezipient*innen entziffert wird. So ist der Film durch die Vermarktung im Einklang mit Mainstream-Diskursen im kollektiven Bewusstsein eingegangen als Freundschaftserzählung – und der queere Hintergrund somit vergessen.

Lesbische Unsichtbarkeit

Es ist inzwischen zum Meme geworden, dass Historiker:innen (oder, vielleicht treffender, Historiker) zusammen lebende, einander Liebesbriefe schreibende Frauen als gute Freundinnen oder Mitbewohnerinnen vermuten. Zuweilen führt diese Verleugnung von Offensichtlichkeiten zu Absurditäten wie dem folgenden Satz auf der Wikipedia-Seite zu Vita Sackville-West, der Geliebten von Virginia Woolf: „Die Freundschaft war von großer Zuneigung und gegenseitiger Bewunderung geprägt, und zumindest zeitweise auch sexueller Natur.“ Auch in eindeutigeren Fällen kommt das Freundschaftslabel zum Einsatz: Netflix fasst Call Me by Your Name als Film über eine „lebensverändernde Freundschaft“ zusammen. In gravierenden Fällen führt ein solcher Bias zur Verfälschung von Forschungsergebnissen, nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch etwa in der Archäologie.

Die Grenzen und Grenzüberschreitungen von Liebe und Freundschaft zu diskutieren und Zwischenbereiche aufzuzeigen, ist ja keineswegs falsch – doch scheint es in diesen Fällen um etwas anderes zu gehen, nämlich die Leugnung romantischer queerer, und vor allem lesbischer, Liebe und Sexualität, die Diskriminierungen perpetuiert. Denn die Gleichsetzung von lesbischen Liebesbeziehungen mit engen Frauenfreundschaften macht queere Lebensrealitäten unsichtbar.[2] Während männliche Homosexualität jahrzehntelang kriminalisiert wurde, ist weibliche vor allem ignoriert worden.

Doch auch diese spezifisch lesbische kulturelle Unsichtbarkeit[3] ist problematisch und hat gesellschaftliche Auswirkungen – durcheinander geratene Definitionen von Liebe und Freundschaft, von Begehren und Bewundern sind deshalb keineswegs trivial. Warum? Die Antwort ist so einfach wie pathetisch: Weil Repräsentation Bedeutung hat und schafft. Weil Entstigmatisierung wichtig ist. Formate wie The L Word oder kürzlich erst Princess Charming haben gezeigt, wie wichtig es auch heute noch ist, immer wieder zu betonen, dass lesbische Liebe real und etwas anderes als enge Freundschaft ist, dass nicht alle Lesben aussehen, wie Onkel Ralf sich Lesben vorstellt, dass Frauen romantische Gefühle und sexuelles Begehren empfinden, auch zueinander, und dass es okay ist, das auch ganz explizit so zu benennen. Jetzt muss das wohl nur noch im deutschen Literaturbetrieb ankommen.


[1] Byrne Fone argumentiert weiterführend, dass die „friendship tradition“ den Ausdruck leidenschaftlicher, gleichgeschlechtlicher Gefühle überhaupt erst ermöglicht. (Vgl. Homophobia. A History. Metropolitan Books, 2000. 333.)

[2] Vgl. Kirsten Plötz: „Weitgehend ignoriert. Lesbisches Leben in der frühen Bundesrepublik“. In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Hg. von Gabriele Dennert et al. Querverlag, 2007. 29.

[3] Vgl. Ulrike Hänsch: Individuelle Freiheiten – heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. Leske + Budrich, 2003. 59.

Beitragsbild von kyo azuma

Von blauer Luft zu Bauluft – Lyrik zwischen Literaturgeschichte und Anthropozän

von May Mergenthaler

Şafak Sarıçiçeks fünfter, mit dem Preis der Heidelberger Autorinnen und Autoren ausgezeichnete Gedichtband Im Sandmoor ein Android ist ein ungewöhnliches Beispiel für Ecopoetry, die Strömung der Lyrik, die sich zentral mit den ökologischen Bedingungen unserer Gegenwart auseinandersetzt. Obwohl der Band wie das Titelgedicht über eine versandende Stadt den Klimawandel und die stetig fortschreitende Naturzerstörung thematisieren, verstößt Sarıçiçek gegen mehrere Lehrsätze der boomenden Lyrik, die auf das gegenwärtige, von menschlichen, erdfeindlichen Einflüssen dominierte geologische Zeitalter des Anthropozän reagiert. 

So gibt es kaum Darstellungen unmittelbarer Naturwahrnehmungen wie in Marion Poschmanns Nimbus (2020) oder Ester Kinskys Schiefern (2020), die eigens bereiste, beeinträchtigte oder bedrohte Landschaften poetisieren. Ebenso wenig praktiziert Sarıçiçek die „anästhetische Dichtung“ von Daniel Falbs „Terrapoetik“ (2015), die es sich versagt, das Naturschöne zu feiern und vorrangig ökologische Wissens- und Datenbestände verarbeitet. Noch beugt sich seine Lyrik der Behauptung Ulrike Draesners, „Natur-Schreiben sei ein zonales Gebiet, das nach formaler Innovation verlangt“, wie sie in den Arbeiten von Anja Utler (kommen sehen. Lobgesang, 2020) oder Draesner selbst (Doggerland, 2021) zu finden ist.

Die Widerstände von Im Sandmoor ein Android gegen eine unmittelbare Zuordnung zur Öko- und Klimawandellyrik verdanken sich vor allem seiner Hinwendung zu lyrischen Traditionen, in denen es noch nicht oder kaum um Umweltproblematiken ging. Zu den im Band ex- oder implizit genannten Inspirationen der Gedichte gehören der französische Surrealismus von Robert Desnos und seine türkisch- und deutschsprachigen Anverwandlungen durch Edip Cansever, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Auch Echos des Mehr-als-Wirklichen aus den späten Gedichten Hölderlins sind zu hören. Doch gerade das Surreale und Künstliche bzw. Künstlerische von Sarıçiçeks Sandmoor, Wolken, Nebel, Licht, Rochen, Rosen oder Kamillenblüten kann uns die natürliche Umwelt und die Dichtung zugleich ans Herz legen und zeigen, wie eng sie in unserer Vorstellungskraft und in der literarischen Tradition ineinander verzahnt sind. Auch die lyrischen Antworten auf Kunstwerke von Patient*innen psychiatrischer Anstalten aus der Heidelberger Sammlung Prinzhorn, die den zweiten der drei Teile von Im Sandmoor ein Android ausmachen, fügen sich in das Programm einer Poesie, die unsere Ideen von Natur aus- und überdehnt. Zugleich aber verbleiben sämtliche Gedichte des Bandes weitgehend innerhalb der Grenzen der im Alltag dominierenden, schriftlichen und mündlichen Sprache und des körperlich Erlebbaren und geistig Vorstellbaren. Das poetische Ziel ist nicht das Androide, sondern eine ökologisch-poetische Ausweitung und Veränderung des Menschlichen.

Der Weg zur Natur durch die kulturelle Erinnerung, den Sarıçiçek einschlägt, ist besonders im Eröffnungsgedicht des ersten Zyklus gut zu erkennen, der mit „Gnosis“, dem antiken Namen für Wissen, überschrieben ist und auf diese Weise aus der Vergangenheit schöpfende Erkenntnisse verspricht. Mit dem Titel „Mnemosyne“, dem Namen der Göttin der Erinnerung, bezieht sich auch das erste Gedicht des Zyklus auf die Antike und zitiert zugleich Hölderlins berühmte gleichnamige Hymnenfragmente. Sarıçiçeks „Mnemosyne“ nimmt einige formale und inhaltliche Elemente dieser Fragmente auf und verbindet sie mit der Struktur von Hölderlins ebenso bekannter, zweistrophiger Ode „Hälfte des Lebens“, die zu seinen kulturkritischen „Nachtgesängen“ gehört. Die Aufteilung der Ode in sommerliche Idylle voll wilder Rosen und winterliche Trauer vor kalten Mauern transformiert Sarıçiçek in den Kontrast zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit angesichts der zerstörerischen und selbstzerstörerischen Handlungen der Menschen, die der Autor in ein „wir“ zusammenfasst – zwischen einem Traum vom Vogelflug durch blauen Himmel und der Vergiftung durch Angst.

Mnemosyne

Ein Schwarm sind wir, der Termiten

Zangen durch Holz wir treiben

Zu Flugscharen in hungernde Hallen.

So die Heuschrecken über Wüsten schwärmen

Und ein Gift umherweht, Selbstverdanktes

Werden mutig sein Wenige und denen im Fall

Darbieten dann Aufrichtiges, zu blauen Gefilden

Der Vögel Wellen.

Und ein Pfahl sind wir, durchtrieben und gar

Herrschaftssüchtig und voll Verlangen

Nämlich nach Regelwerk, ein neues Gebet.

Regelwerk sind wir, ein Pfahl:

Den einen wird der Kelch gereicht

Frierendes in den Adern und durchtrieben sind

Sie, die Andern, so nämlich Angst ist, reichen sie

Zum Trank.

(Im Sandmoor ein Android, S. 7)

Statt „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast / Die Sprache in der Fremde verloren“ aus der zweiten Fassung von Hölderlins „Mnemosyne“ (Hölderlin 1953, S. 203) lesen wir bei Sarıçiçek: „Ein Schwarm sind wir, der Termiten Zangen durch Holz wir treiben / Zu Flugscharen in hungernde Hallen.“ Hölderlins Klage über den Sprachverlust, der mit Götterferne und Götterstreit einhergeht, verwandelt sich bei Sarıçiçek in die Trauer über den erdgewandten Materialismus der Menschen und ihre Herrschafts- und Regelsucht. 

In einem späteren Gedicht („Beeren“, S. 57-58) spricht er, ähnlich wie schon in früheren Bänden, unverblümt von „Gier“. Dass dem Lyriker Termiten als Metapher für diese Gier dienen, zeigt, dass er sich nicht dem Biozentrismus verschreibt, der den ökologischen Eigenwert der Insekten betonen würde. Anders als Brigitta Falkners (laut Verlagsankündigung) „fröhliche[] Parasitenkunde“ (Strategien der Wirtsfindung, Matthes & Seitz 2017) beharrt Sarıçiçek auf der Unhintergehbarkeit der menschlichen Auffassung von Termiten, die sie als Holzbauten zerfressende Schädlinge begreift. Dazu passt, dass der Autor kürzlich in einem Interview erklärte, die Menschen hingen „nach wie vor einem geozentrischen Weltbild an“, und der „Transhumanismus der Moderne habe lediglich die Mythologien der Antike ersetzt“ (ND, 21.06.2022). Die anthropozentrische Geschichte wird in seinem Lyrikband nicht durch eine biozentrische er-, sondern in die Gegenwart übersetzt. 

In die Gegenwart transportiert Sarıçiçek auch die  Sprache Hölderlins, was als ahistorisch kritisiert werden könnte. Auf diese Weise aber gelingt es ihm, Hölderlins Sprachdiagnose beizubehalten, die in der Sinnzusammenhänge strapazierenden Syntax seiner späten Gedichte Ausdruck findet, und sie mit zugänglichen grammatischen Strukturen und poetischen Assoziationen zu verbinden und lebendig zu halten.

Sarıçiçeks Gedichte in Im Sandmoor ein Android überfliegen nicht nur kultur- und literaturgeschichtliche, sondern auch geografische Distanzen, was eine Begeisterung für die poetische Fantasie verrät, die auch seine früheren Bände charakterisiert. Hier geht diese Begeisterung mit der Sorge über die Wirklichkeitsflucht von Dichtung einher. Der ‚prophetische Traum‘ von den mit Alliterationen klingenden „Hügeln des Himmels“ in der zweiten Fassung von Hölderlins „Mnemosyne“ und der Wunsch, dass wir „Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See“, verwandeln sich in Sarıçiçeks „Mnemosyne“ in die Hoffnung, dass ‚wenige Mutige‘ „denen im Fall darbieten dann Aufrichtiges, zu blauen Gefilden, / Der Vögel Wellen“. Hier lassen sich Bezüge zu Edip Cansever erahnen, dem Dichter der türkischen Lyrikströmung İkinci Yeni (“Zweite Neue”), die sich mit ihren surrealistischen Anklängen dem sozialen Realismus entgegen stellte. Cansever bezeichnet in seinen Gedichten deren eigene Wirklichkeitsflucht in das scheinbar Schöne der Natur als einen Mangel, ein „Ungenügen“. In seinem Gedicht „Von den Tagen“ heißt es: „Es gibt die Schwärme der Vögel, die sind schief“ und „Blau ist keine Farbe, Blau ist eine Laune meines Wesens / Und meines Ungenügens, / Und das Ungenügen aller vielleicht.“ (übers. Gülenaz/Overath 2020, S. 37)

Dieser Poesiekritik entsprechend, dämpft die zweite, winterliche Strophe von Sarıçiçeks „Mnemosyne“ die Hoffnung der ersten auf wenige Mutige „zu blauen Gefilden“, indem sie das Geschenk eines angstgefüllten Kelchs imaginiert, der an den Schierlingsbecher erinnert, mit dem Sokrates hingerichtet wurde. Das Bildzieht die Fähigkeit vonPoesie in Zweifel, der menschlichen Unwissenheit etwas entgegenzusetzen; ähnlich wie Poschmann in Nimbus (2020) fragt: „Rettung des Weltklimas aus / dem Geist der deutschen Ode – / haben wir uns da nicht etwas / viel vorgenommen?“ Dieser Zweifel ist Sarıçiçek ebenfalls Antrieb zum Dichten, und das in einer Vielfalt, die eine anachronistisch anmutende Lust an Poesie und an lyrisch verschönter Natur bezeugt. Er besteht darauf, dass wir nicht von Termiten, sondern von Vögeln im blauen Himmel träumen und ihre Versprachlichung in poetische Bilder und Klänge genießen.

Das Ungenügen einer Poesie, die sich den ‚blauen Gefilden‘ zuwendet, erinnert auch an die verträumte Romantik und Novalis’ paradigmatisch gewordene blaue Blume. Die Möglichkeit, dass inder Kunstproduktion der Wirklichkeitssinn gänzlich verloren geht, bespricht der Autor im Zyklus „Sammlung Prinzhorn“. Die Kunstwerke der Patient*innen psychiatrischer Anstalten, die an oder jenseits der Grenze der zwischenmenschlichen Verständigung entstanden sind, holt der Autor in die Sphäre der lyrischen Kommunikation. Eine Künstler*in adressiert er als „du“ und versetzt sich in das „Ich“ einer anderen. Was dabei auf den ersten Blick fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Patient*innen, die von zwangsweiser Hospitalisierung und Sterilisierung bis zu ihrer Ermordung durch die Nazis reicht. Sarıçiçek behandelt die Werke offenbar bewusst als autonome Kunstwerke, was ihnen zwar zu künstlerischem Recht verhilft, aber das ihnen unterliegende Unrecht verschweigt. Ein Blick auf das eingangs zitierte Gedicht aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann mag diesem Eindruck vorbeugen. Darin heißt es, das Aus-sich-Hervortreten, „aus meinen Augen / Händen, Mund“, bringe eine „Schar / von Güte und Göttlichem“ zum Vorschein, „die diese Teufeleien / gut machen muß, / die geschehen sind“.

Die Psychiatrie-Gedichte werfen durch ihre Integration in die Umweltthematik ein weiteres Licht auf die Frage nach einer Lyrik, die dem Zeitalter des Anthropozän angemessen ist. Gedicht Nr. „9“ ruft ein „Ihr“ dazu auf, ab ins „Naturtheater“ zu gehen – vielleicht in Anspielung auf Kafkas „Naturtheater von Oklahoma“ in Romanfragment Der Verschollene, das jede und jeden aufnimmt – und beschreibt den Gang ins Theater bzw. den Ansturm darauf:

            Ab geht es in das Naturtheater, wo Schatten sitzen

            Ab ihr Kentauren, wissentlich in scharfe Äpfel beißend

            Wir haben dem grünen Herren geboten

            Farben zu kehren auf den Podest des Waldrats

            […]

            Ab geht es ins Naturtheater, wo Milch die Herrschaft besteigt

            und vergibt ausradierte Gesichter. Es ist manchmal so

            wenn die Stromleitung erfriert.

            (Im Sandmoor ein Android, S. 31)

Das Wissen um Inspirationdes Gedichts durch die bildende Kunst, regt dazu an, sich Zeichnungen oder Gemälde von farbigen, Äpfel essenden Fabelwesen und Menschen mit ausradierten Gesichtern vorzustellen. Dabei wird noch deutlicher als in den anderen beiden Zyklen des Bandes spürbar, dass die Gedichte trotz ihres Surrealismus Raum- und Zeitbilder evozieren, die wenigstens in der Fantasie körperlich und geistig erfahrbar sind . Dadurch wirken ihre Verse eindringlich und sogar memorierbar. Ähnlich wie in seiner Übersetzung von Hölderlins „Mnemosyne“ transferiert Sarıçiçek auch in seinem möglichen Kafka-Zitat das Metaphysische ins Materielle, wenn er auf die Podeste des Naturtheaters den „Waldrat“ setzt. Im Roman Der Verschollen blasen dort Frauen in Engelskostümen Trompete. Wenn „die Stromleitung erfriert“ – vielleicht auch die Ströme im Gehirn – siegt die alle Menschen bei der Geburt nährende Milch (oder Ersatzmilch).

Ein Irrweg wäre es wohl, bei der Milch von Sarıçiçeks Naturtheater an Paul Celans schwarze Milch der Frühe aus der „Todesfuge“ zu denken und nicht an ein Land, in dem Milch und Honig fließt. Und doch schreibt sich der Lyriker auch in Celans Dichtung ein, wenn er seinen dritten und letzten Zyklus „Peristyl“ nennt. Denn so heißt nicht nur der von Säulen umgebene Innenhof eines Hauses in der antiken Architektur, sondern auch die Buchstabensäule der „archaischen Schreibmaschine“ der Sorte, die Yves Bonnefoys (1988) in der Pariser Wohnung des Dichters bemerkte. Geht der zweite Zyklus „Sammlung Prinzhorn“ über die durchschnittlichen Weisen des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens hinaus, so tritt der dritte in den Innenhof des Schreibens ein und thematisiert noch einmal das Ungenügen der poetischen Imagination, der Vorliebe für den poetischen blauen Himmel. Gleichzeitig bietet ereinen möglichen Weg, Dichtung fester in der Wirklichkeit zu verankern, ohne ihre gewohnten ästhetischen Mittel aufzugeben.

In dem letzten Gedicht des Bandes mit dem Titel „Phototaxis“ – der Begriff bezeichnet den Einfluss von Beleuchtungsstärke auf die Bewegungsrichtung von Organismen – schichtet Sarıçiçek eine Säule aus mit Spiegelstrichen getrennten Strophen auf, die den Turm zu Babel mit dem noch viel älteren und für Menschen unsichtbaren Luftturm vergleichen, in dem Insekten sich auf und ab bewegen. Hier folgt der Lyriker schließlich doch einem wichtigen Lehrsatz über ökologisches Schreiben, den die Lyrikerin Nancy Campbell (2020), im Wissen über das Klimaarchiv des Wostok-Eisbohrkerns, folgendermaßen formuliert: „Sei vollständig. Erzähl die ganze Geschichte; sämtliche Tage aller Jahreszeiten, Sommer wie Winter, von der Gegenwart bis zum Anbeginn der Zeit.“ 

Insekten, die das natürliche Licht von Mond und Sonne brauchen, um sich zu orientieren und um Pflanzen und Partner zu finden, werden durch die Anziehungskraft unserer ‚eigenen Gestirne mit dem blauen Licht‘ in ihrem Überleben bedroht – eine Umkehrung der Kosmologie, die bereits Blumenberg beklagt. Ähnlich wie bei den bereits angeführten lyrischen Traditionen verlegt Sarıçiçek auch in seiner Verarbeitung der philosophischen Zivilisationskritik Blumenbergs den Schwerpunkt von den intellektuellen auf die materiellen Konsequenzen menschlicher ‚Herrschaftssucht‘. Während Blumenberg beklagt, dass die Menschen durch die zielgerichtete künstliche Beleuchtung die Freiheit des Schauens unter den alles illuminierenden Lichtern des Himmels verlieren, bedichtet Sarıçiçek die Konsequenzen der menschlichen Lichtbeherrschung für Insekten, Larven von Schwämmen und Quallen. 

Als Alternative zum poetischen ‚Babeln‘ von „blauen Gefilden“ und „Vögel Wellen“ zu Beginn des Gedichtbands bietet er uns abschließend die „Bauluft“ der Taufliegen. Eine bloße Verschiebung, Umstellung, Transformation und Variation unserer Türme aus Lauten und Wörtern genügt, so legt Sarıçiçek nahe, um wenigstens lyrisch aus der Sackgasse des Anthropozän auszubrechen. Ein bedenkens- und lesenswerter Vorschlag.

Şafak Sarıçiçek: Im Sandmoor ein Android. Gedichte. Berlin: Quintus-Verlag, 2021. 64 Seiten. 14,00 Euro.

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