Kategorie: Feuilleton

Über Türen in Hörspielen – wie Geräusche Räume erzählen

von Andrea Geißler

EIN TÜRSPALT

Studio 7 ist das Hörspielstudio beim Hessischen Rundfunk. Es ist über dem Sendesaal in der Mitte des Rundbaus gelegen und an den Redaktionstagen umlaufe ich es ständig in viertel, halben oder ganzen Kreisen. Denn die Redaktionsbüros sind im äußeren Ring des Gebäudes untergebracht, die Türen vom umlaufenden Ringflur nach innen führen alle zum Studio. Ins Studio dringt nicht nur kein Ton von draußen, sondern auch kein Lichtstrahl. Dafür sind Tageslichtlampen in der Beleuchtung verbaut.

Wenn ich ins Innerste des Hörspiel-Studios will, dorthin, wo die großen Mischpulte und die Aufnahmetechnik sind, muss ich jeweils vier, fünf Türen passieren, denn es befindet sich im runden Kern des Gebäudes und ist gesichert wie ein Tresorraum: Es gibt Sicherungstüren mit Spezialschloss, Schallschutztüren, Flügeltüren zum Klavierraum und ganz normale Türen zwischen Küche und Aufnahmeräumen. Diese “Küchentüren” gehören bereits zu den Kulissen, wobei alle Kulissen dort akustisch gedacht sind. Darum hat eine Treppe auch zweigeteilte Stufen: die linke Trittseite aus Holz, die rechte aus Metall, akustisch sind es folglich zwei Treppen.

Die Türen jedenfalls tun ihr Bestes, um jegliche Eindringlinge abzuhalten. Das liegt daran, dass die Zeit durchgetaktet ist, wenn ein Hörspiel aufgenommen und produziert wird, sagen Regie und die Techniker*innen. Aber ich weiß, dass das nicht alles ist: es gibt eine bestimmte Intimität, die diese kleine Gemeinschaft im Inneren des Studios miteinander teilt und in die niemand eindringen soll.

LUFT

„Dass man einen ganzen Haufen Zeit zusammendrücken kann wie ‘n bisschen Luft in der hohlen Hand…“ – so heißt es in Marie-Luise Kaschnitz‘ Hörspiel „Was sind denn sieben Jahre“ (1955) und das trifft ziemlich genau, wie sich Hörspiele anfühlen: Sie sind viel „Luft in der hohlen Hand“ im Vergleich zu einem Buch, das greifbar aus Papier besteht. Sie sind auch „Luft“ im Vergleich zu einem Theaterstück, das in seiner Materialisierung auf einer Bühne – in Kulissen und Kostümen und überhaupt Körpern – so substanziell ist.
Dagegen ist ein Hörspiel erst in der Luft – im Ohr – wenn ein Play-Button gedrückt wird. Ist es darum in Wahrheit der Musik näher als der Literatur? Vielleicht.

„Dass man einen ganzen Haufen Luft zusammendrücken kann“, das sagt Tony über die sieben Jahre, die vergangen sind, seit sie ihren Mann zuletzt gesehen hat. Jetzt erst kehrt er zurück, Jahre nachdem der Krieg vorbei ist. Wie wird es sein, ihn nun wiederzusehen? Tony bezieht die Betten frisch, sie geht zum Friseur und fragt ihre Schwester, ob sie sich erinnere, wie sie vor sieben Jahren ihre Haare trug. Tony hat einen Tag Zeit, um sich nach der Nachricht über die Rückkehr auf eben diese vorzubereiten und ihre Erinnerungen zurückzurufen. Im Hörspiel sind die Zeit-Ebenen ineinander geblendet: die Reflexionen Tonys über ihre gegenwärtige Situation, ihre Erinnerungen und alltägliche Gespräche mit den Menschen, denen sie an einem solchen Tag gewöhnlich begegnet. Die Dialoge sind darum das Unmittelbarste, das im Hören besonders nahekommt; die Gedanken und Erinnerungen liegen ferner.

Die Germanistin Sieglinde Klettenhammer beschäftigte sich ausführlich mit Kaschnitz‘ Hörspielen und stieß auf eine Bemerkung, die Kaschnitz im Band „Engelsbrücke“ übers Hörspiel-Schreiben machte: Die Schriftstellerin schätze „die Möglichkeit, die Kategorien des Ortes, der Zeit und der Handlung” außer Acht lassen zu können, „mit diesen Kategorien nach eigenem Belieben umspringen, herumspringen“ zu können, „vor- und rückwärts, durch ein ganzes Leben, durch die Geschichte, durch die Welt“. Gleichzeitig sei es ein Leichtes, dabei eine „Formkraft“, zu wahren, „die das Auseinanderfallen verhütet und die einzelnen Glieder in einer ganz bestimmten, musikalischen Beziehung zueinander erhält.“ 

Ein anderer Schriftsteller dieser Zeit, Friedrich Dürrenmatt, hatte auf seine Art eine leichte, spielerische Herangehensweise an das Schreiben eines Hörspiels: „Man atmet anders im Hörspiel“, erklärte er 1964 gegenüber Dramaturg Heinz Hostnig. Er fände gewissermaßen „Entspannung“ im Hörspiel, er sei dabei nicht so besorgt um das Theater und die Bühne, um das „Auftreten von Menschen“ wie beim Schreiben eines abendfüllenden Theaterstücks.

SCHALL

Die Geschichte des Hörspiels umfasst nunmehr fast 100 Jahre: Am 24. Oktober 1924 wurde im Frankfurter Sender (damals „Südwestrundfunk AG“) das Hörspiel „Zauberei auf dem Sender“ live in den Äther gefunkt, gerade mal ein halbes Jahr, nachdem dort der Betrieb überhaupt erst aufgenommen worden war. Sendeleiter Hans Flesch schrieb die „Senderspielgroteske“ eigentlich als Störung des Sendebetriebs: Eine „Märchentante“ löst den abendlichen Spuk aus, denn sie möchte auch einmal um diese Zeit ein Märchen erzählen. Der Sendeleiter „Dr. Flesch“ versucht sie aufzuhalten, doch auf einmal geht es drunter und drüber: Das “Mütterchen” fängt an zu erzählen, Zahlen, Tanzmusik und sogar eine Trompete spielen durcheinander, bis es den Rundfunkleuten schließlich gelingt, den „akustischen Schabernack“ wieder in Ordnung zu bringen, wie es im Pressetext zur Neuproduktion des Hessischen Rundfunks von 1962 heißt. Denn Originalaufnahmen gibt es davon nicht, entsprechende Aufnahme- und Schnitttechniken wurden erst später entwickelt. Der experimentierfreudige Flesch allerdings hat das Hörspiel (und das Radio) in Deutschland nicht nur mit seiner „Zauberei“ geprägt, sondern auch mit seinem Verständnis, was dieses neue Medium sein könnte: Er holte die Literatur und die intellektuelle Szene ins Radio: Bert Brecht, Kurt Weill, Walter Benjamin, Paul Hindemith, später Theodor Adorno.

Aber die Geschichte des Hörspiels ist keine Geschichte von Männern. Im Gegenteil: unter den prägendsten Figuren waren Fränze Roloff und Cläre Schimmel. Die beiden Namen, die zusammen klingen wie ein Wortspiel, wurden oft in einem Atemzug genannt. Fränze Roloff, eigentlich Franziska, baute das Hörspiel im Hessischen Rundfunk auf. Cläre Schimmel, eigentlich Klara, tat dies beim Südwest Rundfunk.

Fränze Roloffs Hörspiele sind puristisch kammerspielartig inszeniert, zumeist ohne Musik, auffallend ist immer wieder die Bestimmtheit ihrer Inszenierungen, in ihren Dialogen bleiben Betonungen nicht vage. Es treten viele Männer in Hörspielen auf zu dieser Zeit, reden sehr vernünftig und überlegen. Frauen hingegen klingen eher wie Mädchen, mit einschmeichelnder Spielhaltung in hoher Stimmlage, allzeit bereit, ohnmächtig in männliche Arme zu fallen. Fränze Roloff ließ ihren Darstellerinnen diese klischeehafte Rolle nicht so leicht einnehmen – oder drängte sie nicht in diese Unterwürfigkeit, wie manche Regisseure das möglicherweise taten. In ihren Hörspielen klingen die Sprecherinnen jedenfalls wenig unterwürfig. Das ist sicher kein Zufall: Fränze Roloff wurde 1896 geboren, war zunächst Schauspielerin und um 1926 für einige Zeit Leiterin der Schauspielschule an der Berliner Volksbühne – und das, als sie selbst erst in ihren Zwanzigern war. Während der Nazi-Zeit tauchte sie unter, weil sie für den ihr unbekannten Vater keinen Arier-Nachweis erbringen konnte und nicht weiter an exponierter Stelle an der Berliner Volksbühne bleiben konnte. Nach dem Krieg holte man sie zu Radio Frankfurt, dem späteren Hessischen Rundfunk. Dort entwickelte sie den Kinder- und Jugendfunk und die Hörspielabteilung. Bis in die 70er Jahre hinein wirkte Fränze Roloff an rund 170 Produktionen mit – ob als Sprecherin oder in den meisten Fällen als Regisseurin. Damit ist sie eine der wichtigsten Pionierinnen für das Hörspiel im Hessischen Rundfunk. Die Erinnerung an sie wurde bisher vernachlässigt – sogar ihr genaues Todesjahr (1975) ist nicht öffentlich bekannt; einen Nachruf verbat sie sich zu Lebzeiten, all das ist nur auf Anfrage aus dem Unternehmensarchiv zu erfahren.

Zu Cläre Schimmel lässt sich immerhin ein Nachruf der Stuttgarter Zeitung finden, in dem sie als prägend für die „goldene Zeit des Hörspiels“ in den 50er Jahren beschrieben wird – damals lagen die Quoten der Zuhörenden regelmäßig in Millionenhöhe. Cläre Schimmel wurde in den 1930er Jahren erst als Opernsängerin berühmt, bevor sie sich der Schauspielerei zuwandte und eine Ausbildung zur Rundfunksprecherin machte. 1950 wurde sie beim Süddeutschen Rundfunk Leiterin der Hörspielabteilung. Ihr dramaturgisches Verständnis von Hörspielen erklärte sie einmal in einem Interview: sie wollte „nie mehr als die Sprache selbst sprechen lassen“.

Sieglinde Klettenhammer (wie auch Reinhard Döhl, Ulrike Schlieper u.a.) wies mit Blick auf die 50er und 60er Jahre auf die gängige Unterscheidung zwischen „wortzentriertem traditionellem“ und „schallorientiertem Neuem Hörspiel“ hin. Denn während die meisten Hörspiele aus dieser Zeit naturalistisch und mit wenigen (meist musikalischen) Akzenten inszeniert wurden, nutzte das „Neue Hörspiel“ die damals neuen technischen Möglichkeiten als dramaturgische Gestaltungsmittel: Schnitt, Überblendungstechniken und Montage. Dabei kam in den letzten 20 bis 30 Jahren noch eine weitere technische Neuerung hinzu, wie Leonhard Koppelmann und Silke Hildebrandt in „Archivschatz: Das Hörspiel vom Hörspiel“ beschreiben. Seit Tonspuren digital verfügbar sind und in unbegrenzter Zahl und Breite angelegt werden können, sind „invasive“ Schnitte, im Grunde irreversible „Zerstörungen“ der Tonbänder nicht mehr nötig. Damit ist der Spielraum etwa für experimentelle Montagen oder chorische Inszenierungen unendlich geworden.

SCHLÜSSELGERÄUSCHE

Die Geschichte des Hörspiels ist lang und respekteinflößend. Wie verorten wir uns darin, die selbst noch am Anfang stehen? Wie Hörspiele machen, Hörspiele schreiben nach 100 Jahren Hörspiel? Mir hilft das Öffnen von Türen. Ganz konkretes Beispiel: zwei Personen – vielleicht ein Paar – unterhalten sich und gehen in einen anderen Raum, dort setzt sich ihre Geschichte fort. Wäre dies ein Roman, so würde neben dem Dialog der beiden ihr Aussehen beschrieben werden, vermutlich der Raum, in dem sie sich bewegen, vielleicht welche Gedanken sie haben. Wäre es ein Theaterstück, so wäre die Präsenz ihrer Körper dominant für die Wahrnehmung des Publikums. Gestikulieren sie? Berühren sie einander? Wie füllen ihre Körper diesen Raum aus (oder nicht)?

Im Hörspiel hingegen könnte die Tür entscheidend für die ganze Szene sein: Sie ist Trenner, Öffner, Rahmengeräusch für die Verortung der beiden Figuren. Die Tür trennt die Unterhaltung in drinnen und draußen. Durch das Zufallen einer Tür wird möglicherweise erst klar, dass die beiden draußen waren, in der Öffentlichkeit und nun in einen privaten Raum eintreten, in dem ihre Aussagen ganz anders wahrgenommen werden.

Ich hatte einen solchen Tür-Schlüssel-Moment als ich für „Das Halbhalbe und das Ganzganze“ von Safiye Can Regie führte: Die beiden Hauptfiguren Sophia und Friedrich  kommen vom Einkaufen, öffnen die Haustür, scherzen weiter im Treppenhaus, öffnen die Wohnungstür mit einem Schlüssel, und als diese hinter ihnen zufällt, sind sie in einem Wohnzimmer unter sich. Für diese Szene wurden Sprachaufnahmen in zwei Räumen gemacht: „draußen“ im schalltoten Raum, (die Straßen-„Atmo“ wurde später daruntergelegt) „drinnen“ ist ein kleinerer Aufnahmeraum, der durch Stoffe, Holzmöbel und ein Bett behaglicher, intimer klingt. Das Fehlen der visuellen Wahrnehmung verlangt Spielenden eine paradoxe Schauspielleistung ab: Ob sie einander nahe sind, einander berühren, ist in einer Szene ja nicht zu sehen, nur zu hören. Also berühren sie sich bei den Aufnahmen gar nicht, sie nesteln an ihren eigenen Kleidern oder kneten ein Kissen, sie schmatzen auf ihre eigenen Handrücken, wenn ein Kuss zu hören sein soll. Ihre Stimmen verkörpern ihre Körper und mehr findet hinter den Kulissen nicht statt: In Wahrheit teilen sie sich nicht einmal ein Mikro. Zwei Liebende-Spielende im Hörspiel wahren so viel Distanz wie heimliche Liebespaare in ihren Briefen im 19. Jahrhundert.

Dagegen die Tür: an ihr ist alles echt. Ein paar Tage nach den Aufnahmen – Kristin Alia Hunold und Murat Dikenci („Sophia“ und „Friedrich“) waren längst abgereist – da saß ich mit der Cutterin und dem Tontechniker im Studio und wir bauten die Szene, wir bauten die Türen ein. Also hörten wir dutzende Tür-Aufnahmen an, die nicht in Frage kamen: „Die ist zu massiv, das ist ja ein Bunker!“ „Die geht nach draußen auf, nicht nach drinnen.“ „Jetzt sind sie ja in einer Kirche, nicht in einem Treppenhaus.“ „Die Tür schnappt zu wie eine Balkontür, das kann nicht sein.“ „Klingt nach Hörsaal, nicht nach Studenten-WG.“ – Es fanden sich die richtigen Türen, und die perfekten Schlüsselgeräusche – wie der Schlüssel nach dem Türschließen beiläufig in einer Schale abgelegt wird – nahmen wir selbst auf. Regie ist manchmal nur Geräusche machen.

SPRACHE

Dafür liegen auch Schreiben und Schneiden nah beisammen. Das Schreiben eines Hörspiels ist ein zweifacher Prozess des Kürzens und Verdichtens: Schon im Schreiben gilt der Versuch, alles Redundante zu streichen; sind die Texte aufgenommen, wird der Schnitt mit gleicher Strenge ausgeführt. Was übrig bleibt, muss dicht sein, schlüssig, mit klaren Bezügen in der Narration. Denn Hörende sind so viel ungeduldiger als Lesende. Wenn ein unverständlicher Satz sie aus dem Hörfluss wirft, sind sie verloren, sie werden abschalten. Wortzentriert heißt also: fokussiert, auf wenige Worte, die besser nachhallen als wiederholt werden.

Und doch ist Sprache auch eine besondere Möglichkeit des Hörspiels, vielmehr: Sprachen sind es. Ein Buch in Übersetzung löscht die Originalsprache im Normalfall vollständig, es ist keine Überschreibung, weil die Übersetzung das Original tilgt. Selten werden zweisprachige Ausgaben von Büchern angefertigt, in diesem Fall stehen die beiden Sprachen nebeneinander.
Das ist bei Audios anders: Simultan-Übersetzungen sind akustische Palimpseste. Die Originaltonspur liegt drunter, sie wird nur gedimmt, „geduckt“, wie man sagt. Anfang und Ende, die „Ränder“ bleiben dabei vollständig sichtbar.
Diese Sprach-Sichtbarkeit auf Tonspuren ist ein Potential, welches Hörspiel-Macher*innen inzwischen mehr und mehr zu nutzen wissen. Hier werden polyglotte Sprachflächen bewusst ineinander geblendet, sie unterlaufen sich gegenseitig, sie überschreiben einander. Sprachen wollen gehört werden und Inszenierungen lassen es zu.

Regisseurin und Komponistin Ulrike Haage gab bei meinem Hörspiel „Hyperbolische Körper“ den Sprachen viel Raum, oder vielmehr: Ebenen. In dieser Utopie unterhalten sich die russische Mathematikerin Sofia Kowalewskaja (geb. 1850) und die iranische Mathematikerin Maryam Mirzakhani (geb. 1977) über die Möglichkeit, statt realen Körpern „hyperbolische“ zu haben. Vielleicht könnte so wirkliche Gleichheit und Gleichberechtigung erreicht werden? Kowalewskaja und Mirzakhani streiten über diese Vision, erinnern sich an ihre Vergangenheiten, an Verluste von Kindheiten und sie vergegenwärtigen die Fragilität ihrer Körper. Ihr Dialog ist mehrsprachig und findet außerhalb der Zeit und außerhalb von Räumen statt. Hier sind Sprachen auch Flächen, Ebenen. Darum gibt es  weder Fragen nach den richtigen „Türen“ noch nach einem drinnen und draußen, Privatheit und Öffentlichkeit. Stattdessen ist die Frage der Räumlichkeit eine mathematische – und eine akustische. 

Das Hörspiel hat genug Spielraum für sprachliche und körperliche Utopien. Eine davon wird inzwischen häufiger in der Besetzung praktiziert: Rollen werden genderblind besetzt. Denn noch immer gibt es statistisch mehr Männerrollen, auch im Hörspiel gibt es besonders für Schauspielerinnen mittleren Alters wenige Rollen. Wo es möglich ist, versucht die Besetzung hier starre Geschlechtszuschreibungen zu umgehen: Männliche Jugendliche dürfen auch mal etwas androgyner klingen und mit einer jungen Schauspielerin besetzt werden – ein Beispiel ist etwa Lotte Schubert in Matthias Brandts „Blackbird“ (Regie: Leonhard Koppelmann). Ähnlich verhält es sich mit fabelhaften Wesen, sprechenden Tieren, Erzählstimmen: hier entscheidet die Stimmfarbe und weniger die Tonlage. Ohnehin gewinnen Verschiebungen an Bedeutung: Verschiebungen zwischen Text und Tonspur – wenn etwa Sprachen und Körper nicht notwendigerweise miteinander identifiziert werden. So entstehen Zwischenräume zwischen Text und Sprache ganz oft dadurch, dass Zeilen nicht mehr von denen gesprochen werden, denen sie im Text zugeordnet sind – wie in Das große Heft von Ágota Kristóf (Regie: Erik Altorfer).

Wohin geht es jetzt im Hörspiel? Die Entwicklung tendiert – wieder – zum seriellen Erzählen. Klassiker wie die „Herr der Ringe“-Großproduktion aus den 1990ern erleben eine Renaissance, ebenso wie Bastian Pastewkas lakonische Zwiegespräche mit den Schatten der Hörspielkrimi-Vergangenheit in seinem Kein Mucks!-Podcast und schließlich gehörte zu den erfolgreichsten Serien zuletzt die „10 Atemzüge“ vom Autorinnen-Team Simone Buchholz, Berit Glanz, Mareike Fallwickl und Karen Köhler. Worum es hier geht? Sagen wir: um alles das, was sich üblicherweise hinter verschlossenen Türen abspielt.

Beitragsbild runnyrem

Körper und Provokation – Über eine Werbekampagne der Familie Klum

von Annika Brockschmidt und Rebekka Endler

Zwei unterschiedliche, sehr schöne Frauen posieren in Unterwäsche, plakatiert lebensgroß an Haltestellen in ganz Deutschland. Soweit, so wenig ungewöhnlich – Calzedonia macht zur Zeit nach  diesem Rezept Werbung: Die eine Frau ist sehr schlank, die andere ist es nicht. Zwei Bikinifiguren, von denen eine noch bis vor wenigen Jahren nicht als solche hätte bezeichnet werden können, ohne dass eine öffentliche Debatte losgetreten wird. Dass es heute, 2023, kein Aufsehen mehr erregt, ist eindeutig als Fortschritt zu verzeichnen. 

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Die Sicht der anderen – Wie True Crime ethisch erzählen kann

von Isabella Caldart

Es müssen kaum noch Worte darüber verloren werden, wie beliebt True Crime ist. Spätestens seit dem Podcast „Serial“ (2014) ist die Popularität des Genres explodiert und hat mit dem Erfolg der Netflix-Serie „Monster: The Jeffrey Dahmer Story“ (2022) ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Werden wahre Verbrechen fiktionalisiert oder in Dokumentationen aufgearbeitet, so wird zumeist der Täter in den Fokus genommen und dadurch zur Identifikation mit ihm eingeladen – oder er wird sogar als Popstar stilisiert. Diese Art der Darstellung hat einen enormen Einfluss: Menschen mit Dahmer-Tattoos, der Verkauf von Murderabilia wie Dahmer-Ohrringe und -Decken, Eltern, die ihre Kinder zu Halloween als Dahmer verkleiden. Der Serienmörder wird allerorts gefeiert.

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Normalisierte politische Gewalt

von Annika Brockschmidt

Am 4. Dezember 2022 trafen acht Kugeln das Haus des Bernalillo County Commissioner Adriann Barboa. Am 11. Dezember folgten 12 Kugeln. Am 3. Januar diesen Jahres schlugen drei Kugeln in das Haus von Linda Lopez, Senatorin von New Mexico, ein, die den Distrikt 11 vertritt. Sie durchschlugen das Fenster des Schlafzimmers ihrer zehnjährigen Tochter, die zum Zeitpunkt des Angriffs schlief und durch die Schüsse geweckt wurde. Nachdem der State Representative (Bundesstaats-Abgeordnete) Javier Martínez von den Anschlägen auf die Häuser seiner Kollegen gehört hatte, überprüfte er sein eigenes Haus – und fand Einschusslöcher. Ziel der Anschläge waren in öffentliche Ämter gewählte Demokraten.

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Das Problem mit Bully – Mobbing, Queerness und ‚Der Schuh des Manitu‘

von Kais Harrabi

Als Teenager haben mich viele Filme geprägt: David Lynchs „Blue Velvet“ zum Beispiel, den ich das erste Mal mit 13 oder 14 nachts im Fernsehen sah und von dem ich nur die Hälfte begriff, der bei mir aber das Interesse an düsteren Geschichten mit moralisch komplexen Figuren geweckt hat. Die unzähligen Thriller und Actionfilme der 80er und 90er Jahre, die Gesichter von Schauspieler*innen wie Deborah Kara Unger oder Michael Ironside, die wie ein filmisches weißes Rauschen die Abende und Nächte vor dem Fernseher begleitet haben, alle 20 Minuten durchbrochen von Werbung für Sekt, Schnaps oder Telefonsex. Weder die Filme noch die beworbenen Produkte waren für Teenager sonderlich geeignet. Meine Mutter war verständlicherweise besorgt, was für einen schädlichen Einfluss all die Gewalt und der Sex im Fernsehen (und später auch im Kino) auf mich haben könnten. Dabei waren es gar nicht die Thriller und Actionfilme, die bei mir die tiefsten Spuren hinterlassen haben, sondern Komödien der frühen Nullerjahre, allen voran die von Michael „Bully“ Herbig.

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Tanz auf den Ruinen – Verfallserscheinungen in der Berliner Clubkultur

von Hannah Zipfel

Der Mythos eines blühenden Nachtlebens, das aus Chaos und Zerfall hervorgeht, ist seit der Weimarer Republik fester Bestandteil des Berliner Stadtimagos. Von Dekadenz und Aufbruch, wildem Hunger nach Extremen, oder einer fiebrige Lebenslust am Vorabend des Zweiten Weltkriegs erzählen  Publikationen, die mit Morgen ist Weltuntergang oder Ein Tanz am Rande des Abgrunds überschrieben sind. Der wohl bekannteste Allgemeinplatz in diesem Zusammenhang, ursprünglich Titel eines populären NS-Films von 1938, ist der Tanz auf dem Vulkan, der regelmäßig für die Beschreibung des Epochengefühls der Weimarer Republik herangezogen wird.

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Das Gegenteil von Sichtbarkeit: Ein neues Gesetz verbietet Bücher mit queeren Themen in Russland

von Norma Schneider

In russischen Buchhandlungen und Bibliotheken sind in den letzten Monaten viele Bücher aus den Regalen verschwunden. Bücher von Regimegegner*innen, die die russische Regierung zu „ausländischen Agenten“ erklärt hat, werden teilweise noch mit Packpapier eingewickelt und mit Warnhinweisen versehen angeboten, während Romane und Sachbücher, die sich mit queeren Themen beschäftigen, so gut wie gar nicht mehr verkauft werden. In den Bibliotheken kursieren Listen mit unerwünschten Titeln, die ausgesondert werden, und Buchhändler*innen schicken Tausende Bücher an die Verlage zurück.

Das liegt nicht nur daran, dass vormals beliebte Autor*innen nun vom russischen Staat zu Verräter*innen erklärt werden oder – wie im Fall des international bekannten Bestsellerautors Dmitry Glukhovsky – per Haftbefehl gesucht werden, weil sie den Krieg gegen die Ukraine kritisieren. Sondern der härteste Schlag, den die russische Regierung dem kulturellen Leben im Land versetzt hat, ist ein neues Gesetz, das seit Anfang Dezember 2022 die Verbreitung von „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen, Geschlechtsumwandlungen und Pädophilie“ verbietet. Da der Begriff „nichttraditionelle Beziehungen“ in Russland alles meint, was nicht hetero ist, ist davon auszugehen, dass das Gesetz einem vollständigen Verbot queerer Inhalte gleichkommt. Betroffen sind davon nicht nur Bücher, sondern auch Filme, Serien und sämtliche Print- und Onlinemedien.

Nicht traditionell ist nicht erwünscht

Für Verstöße gegen das Verbot sieht das Gesetz hohe Geldstrafen vor. Beim dritten Verstoß kann die Schließung des Medienunternehmens für neunzig Tage angeordnet werden.  Felix Sandalov, Cheflektor des Moskauer Verlags Individuum, der noch kurz vor Inkrafttreten des Gesetzes ein Buch über Homosexualität in der Sowjetunion veröffentlichte, sieht darin den Versuch, unerwünschte Verlage zur Schließung zu zwingen: „Neunzig Tage ohne Geschäftstätigkeit sind eine sehr lange Zeit. In diesem Zeitraum ist es nicht mal erlaubt, dass man seine Schulden begleicht. Ich denke, für die meisten Verlage sind neunzig Tage ohne Geschäftstätigkeit genug, um zu sterben.“ 

Viele Verlage sind verunsichert, denn was genau unter „Propaganda“ fällt, ist nicht klar definiert, in strenger Auslegung wäre es jede positive oder neutrale Thematisierung von LGBTIQ-Identitäten. „Aufgrund des vagen Wortlauts kann das Gesetz willkürlich ausgelegt werden, und die Grenzen dessen, was erlaubt und was verboten ist, bleiben unbestimmt (und das ist kein Zufall)“, schrieb die Literaturkritikerin Galina Yuzefovich im Dezember im oppositionellen Exilmedium Meduza. Deshalb sei die derzeitige Situation auf dem russischen Buchmarkt am besten mit „Bestürzung“ und „Ratlosigkeit“ zu beschreiben. „Die Branche ist erstarrt in Erwartung von Schauprozessen, die zeigen sollen, wie die Behörden die neuen repressiven Gesetze tatsächlich anzuwenden gedenken.“ Viele Verlage und Buchhändler*innen sind also besonders vorsichtig bei dem, was sie veröffentlichen und verkaufen.

Es seien nicht nur eindeutig queere Inhalte, die ins Visier geraten, erzählt Felix Sandalov. Bei den Behörden wurde eines der Bücher aus seinem Verlagsprogramm gemeldet, das zwar – so Sandalov – „ziemlich heterosexuell“ ist, in dem es aber um kinky Sex geht, was auch als nicht traditionell gelte. „Die Grenzen sind also sehr vage. Wenn man etwas schreibt wie: ‚Wir wollen heiraten und einen Haufen Kinder haben‘, ist das in Ordnung. Aber es gibt Millionen anderer Szenarien, und nicht alle davon sind willkommen.“

Die Zahl der Bücher, die potenziell von dem Gesetz betroffen sind, ist also sehr hoch. Denn Gegenwartsliteratur spielt nun mal meistens in der Gegenwart und wird „von Menschen mit einem zeitgemäßen Mindset“ geschrieben, wie Sandalov sagt. Gerade bei Übersetzungen aus dem Englischen dürften sich kaum aktuelle Romane finden lassen, in denen nur „traditionelle“ Beziehungen vorkommen. Und da viele Verlage, Buchhändler*innen und Betreiber*innen von E-Book-Plattformen dazu tendieren, lieber Titel in vorauseilendem Gehorsam aus dem Programm zu nehmen, statt die Grenzen auszutesten, sind die Auswirkungen auf den Buchmarkt – ganz zu schweigen von der Sichtbarkeit und Akzeptanz queerer Menschen – dramatisch.

Russlands Feinde: Der Westen und ein schwuler Liebesroman

Dass es gerade jetzt zur Verabschiedung dieses einschneidenden Gesetzes kam, hat mehrere Gründe. Russlands Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 war auch der Beginn einer innenpolitischen Verschärfung: Zahlreiche restriktive Gesetze wurden erlassen, Regierungs- und vor allem Kriegsgegner*innen werden noch stärker unter Druck gesetzt und wegen Kleinigkeiten wie einem kritischen Social-Media-Post zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Lange hatte sich die russische Regierung darum bemüht, nach außen den Schein einer pluralen Gesellschaft zu wahren, in der Vielfalt und Meinungsfreiheit zwar beschränkt, aber noch ausreichend vorhanden zu sein schienen, damit westliche Staaten keinen zu großen Imageschaden fürchten mussten, wenn sie enge politische und wirtschaftliche Beziehungen mit Russland führten.

Seit das Putin-Regime mit Beginn des Angriffskrieges auf direkten Konfrontationskurs mit dem Westen gegangen ist, braucht es sich nicht mehr zurückzuhalten. Tatsächlich blieb nach Verabschiedung des Gesetzes der Aufschrei im Ausland aus – wohl weil es nur ein weiterer Punkt auf der langen Liste der Ungeheuerlichkeiten seit dem 24. Februar 2022 zu sein scheint. Das Verbot queerer Inhalte unterstreicht Russlands politische Abgrenzung vom Westen. Seit Jahren werden in der staatlichen Propaganda Europa und die USA als feindliche Gesellschaften präsentiert, in denen angeblich die „traditionellen Werte“ verraten werden, vermeintliche Minderheiten den Diskurs bestimmen und Kinder zur Homosexualität erzogen würden, was langfristig zum Aussterben der Menschheit führen würde. Stimmung gegen „den Westen“ und für den Krieg zu machen, bedeutet in Russland immer auch, Stimmung gegen Toleranz und Vielfalt zu machen.

Der konkrete Anlass für das Gesetz, das nun den russischen Buchmarkt umkrempelt, hat tatsächlich mit einem Buch zu tun. Im Jahr 2021 erschien der Roman „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ von Katerina Silvanova und Elena Malisova im Verlag Popcorn Books. Der Schwesterverlag von Individuum hat sich auf Romane für junge Erwachsene spezialisiert, die sich mit Themen wie queerer Identität, Rassismus, Sexismus und Mental Health beschäftigen. „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ erzählt eine schwule Liebes- und Coming-of-age-Geschichte und wurde – nachdem der Roman auf TikTok viral ging – zu einem Bestseller. Etwa 300.000 Exemplare der romantischen Geschichte über zwei junge Männer, die sich im Pionier-Sommerlager kennenlernen, wurden verkauft. Eine Sensation: Nie zuvor hatte in Russland ein Buch mit queerer Thematik so viel Aufmerksamkeit erlangt – und queere Themen so viel Sichtbarkeit. Es war ein hoffnungsvolles Zeichen dafür, dass die russische Gesellschaft längst nicht so queerfeindlich ist, wie die Regierung sich es wünschen würde.

Das Regime reagierte entsprechend: Es gab Medienkampagnen gegen das Buch und den Verlag. Der nationalistische Schriftsteller Sachar Prilepin sagte öffentlich, dass er nicht traurig darüber wäre, wenn jemand den Verlag anzünden würde, und Fernsehpropagandist Dmitri Kisseljow nahm das Buch in den Abendnachrichten auseinander, wo er sogar laut daraus vorlas. Die Drohungen wurden so massiv, dass die beiden Autorinnen des Romans Russland verlassen mussten. Mittlerweile wurden sie zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Bei den Parlamentsanhörungen zum Gesetz gegen queere Inhalte wurden „Ein Sommer im Pionierhalstuch“ und der Verlag Popcorn Books mehrfach thematisiert, so dass wenig Zweifel bleibt, dass der Erfolg des Romans die Gesetzesinitiative wenn nicht provoziert, so mindestens vorangetrieben hat.

Eine Zukunft im Exil und im Untergrund

Als das Gesetz Ende November 2022 im Parlament verabschiedet wurde, aber noch nicht in Kraft getreten war, versuchten einige Leser*innen noch so viele Bücher wie möglich zu kaufen, bevor sie verboten sein würden. Popcorn Books starteten einen Ausverkauf ihrer Titel mit queerer Thematik, beim Verlag Individuum erlebte das kurz zuvor erschienene Buch über Homosexualität in der Sowjetunion „einen Tsunami an Verkäufen“, erzählt Felix Sandalov. „In diesem Fall musste man keine Werbung machen, weil die Leute ohne jeden Hinweis verstanden haben, dass es in absehbarer Zeit keine Chance mehr geben wird, etwas zu diesem Thema zu kaufen.“

In Zukunft werden die russischen Leser*innen Bücher zu queeren Themen wohl vor allem im Ausland oder bei internationalen E-Book-Plattformen finden. Verlage, die weiterhin Bücher mit queeren Themen veröffentlichen wollen, müssen nach kreativen Wegen suchen, der Strafverfolgung zu entgehen, und werden wohl langfristig nicht darum herumkommen, Dependancen im Ausland zu eröffnen. Innerhalb Russlands werden Autor*innen Bücher mit queeren Themen wohl nur noch in selbstproduzierten Kleinstauflagen veröffentlichen können. Der zu Zeiten der Sowjetunion verbreitete Samisdat – selbstverlegte Texte, die über inoffizielle Wege vertrieben werden, um die Zensur zu umgehen – wird eine neue Blüte erleben. Doch die Sichtbarkeit und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit eines queeren Bestsellers werden solche Publikationen nie erreichen können. Einige Leser*innen werden dem Medium Buch vielleicht auch ganz den Rücken kehren und queere Geschichten in anderen Medien suchen – in Fanfiction-Foren zum Beispiel, die ohnehin ein wichtiger Schutzraum für queere Narrative sind, nicht nur in Russland.

Die Zukunft der Schwesterverlage Popcorn Books und Individuum ist ungewiss. Anfang Januar wurde ein Strafverfahren gegen Popcorn Books wegen des Verstoßes gegen das neue Gesetz eingeleitet und der Verlag wird eine Geldstrafe zahlen müssen. Bisher sind solche Fälle vor allem individuell motiviert, Einzelpersonen reichen bei den Behörden Beschwerden über Inhalte ein, die sie anstößig finden. Auch die für die Medienaufsicht und Zensur zuständige Behörde Roskomnadsor hat bisher ihre Daten vor allem manuell durch Mitarbeiter*innen erfasst, so dass eine systematische Überwachung des Buchmarkts nicht möglich war. Doch es gibt bereits Pläne für eine automatisierte Überwachung des gesamten russischen Internets – und damit auch aller E-Books. „Die Ergebnisse werden dann in sehr kurzer Zeit geliefert. Das wird eine viel größere Wirkung haben und viel mehr Komplikationen mit sich bringen, für alle“, berichtet Felix Sandalov, und fügt hinzu: „Gleichzeitig glaube ich, dass man auch mit der Maschine Katz und Maus spielen kann, aber es ist schwieriger.“ Vor allem wenn man, wie Popcorn Books, bereits im Fokus der Behörden steht. „Ich denke nicht, dass Popcorn im Moment noch die Bücher in Russland herausbringen könnte, die sie früher veröffentlicht haben. Das wäre ein selbstmörderischer Akt“, sagt Sandalov. Deshalb gibt es Überlegungen, Literatur mit queeren Themen in Zukunft im Ausland zu vertreiben und nur den unverfänglichen Teil des Programms in Russland zu belassen.

Bei Sandalovs Verlag sieht die Sache noch ein wenig anders aus. Da bei Individuum vor allem Sachbücher zu aktuellen und oft kontroversen Themen veröffentlicht werden, ist der Verlag nicht nur vom Verbot queerer Inhalte betroffen, sondern auch von anderen restriktiven Gesetzen wie dem gegen die „Diskreditierung der russischen Armee“, die eine faktenbasierte Auseinandersetzung mit sozialen und politischen Themen kriminalisieren. „Es ist schwierig, die Realität, in der wir leben, aus Sachbüchern herauszuhalten. Wir müssen auf das reagieren, was vor sich geht, und das ist mit den bestehenden Gesetzen wirklich schwer zu machen“, sagt Sandalov. Doch er will weitermachen, solange es geht, und an geplanten Buchprojekten festhalten, auch wenn es sich ein wenig anfühlt „wie ein Minenfeld“, durch das er sich bewegen muss. „Mir ist klar, dass es erstaunlich ist, dass ein Verlag wie Individuum im heutigen Russland existieren kann. Mit jedem Tag wird mir mehr und mehr bewusst, dass das wie Schnee im Sommer ist, dass das eigentlich nicht sein kann. Das ist mir klar, trotzdem möchte ich so lange wie möglich daran festhalten. Aber ich weiß natürlich, wie das ausgehen wird.“ Es gibt deshalb auch für seinen Verlag Pläne, etwas im Ausland zu etablieren.

Das Ende der Repräsentation

Das Verbot der „Propaganda nichttraditioneller Beziehungen“ zeigt, dass die russische Regierung weder davor zurückschreckt, die Lebensrealität eines Teils der Bevölkerung zu Propaganda zu erklären, noch davor, das kulturelle Leben im Land vollständig umzukrempeln. Was das Gesetz im Vergleich zu anderen restriktiven Gesetzen so einschneidend macht, ist, dass es eben nicht nur Regierungskritik und explizit politische Themen in Russland betrifft, sondern bereits das offene Sprechen über den Alltag vieler Menschen kriminalisiert. Etwas so harmlos Erscheinendes wie ein unterhaltsamer Liebesroman wird nicht bloß zum Skandal, was bereits absurd genug erscheinen würde, sondern zur Straftat. Es scheint, als hätte die russische Regierung verstanden, wie wirkmächtig Sichtbarkeit und Repräsentation queerer Menschen sein kann, so dass sie versucht, sie um jeden Preis zu unterbinden.

Bisher sind die Folgen des Gesetzes noch nicht vollständig abzusehen, doch sie werden dramatisch sein. Dass ein russischer Streaming-Anbieter die Serie „Sex and the City“ nur noch in zensierter Version ausstrahlt – die Wörter „schwul“ und „lesbisch“ wurden herausgeschnitten – ist wohl nur die erste absurde Folge dieser neuen Realität. „Es kann sein, dass einige der wichtigsten Romane der Weltliteratur in Zukunft nicht auf Russisch erscheinen werden, weil eine Nebenfigur in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung ist“, erklärte die Literaturkritikerin Natalia Lomykina im März 2023 gegenüber Forbes.

Aufgeschlossene Leser*innen in Russland werden wohl auch in Zukunft Wege finden, die Texte zu lesen, die sie interessieren, und russische Autor*innen, die sich weigern, sich selbst zu zensieren, werden Möglichkeiten finden, ihre Texte zu veröffentlichen. Vieles davon wird allerdings außerhalb des russischen Buchmarkts stattfinden – im Samisdat, auf im Ausland gehosteten Onlineplattformen, in Exilverlagen. Doch die Texte, die dort veröffentlicht werden, erreichen nur diejenigen, die gezielt nach ihnen suchen. Repräsentation von queeren Themen in der Massenkultur wird es keine mehr geben, und damit auch nicht die Möglichkeit, unpolitische Menschen in Russland dazu zu bringen, die staatliche Propaganda zu hinterfragen. Queere Menschen werden so weiter in die Unsichtbarkeit gedrängt und einmal mehr die Realität zur Propaganda erklärt.

Social-Media-Benimmkolumne: Schade, du hast den Alt-Text vergessen

von Franziska Reuter

Es ist jetzt ziemlich genau ein Jahr her, dass Twitter die Alt-Text-Funktion für alle Nutzer:innen sichtbar gemacht hat. Schon wieder so ein Satz, den nur versteht, wer Social Media benutzt. Für die Glücklichen, deren Aufmerksamkeitsbedürfnis oder Job sie nicht auf soziale Medien gezwungen hat: Alt-Text bietet die Option, jedes geteilte Bild mit einer Beschreibung zu versehen, die sehgeschädigte oder blinde Menschen sich vorlesen lassen können. Manchmal ist das entscheidend zum Verständnis des Tweets. Sichtbar zu machen, welche Bilder mit Alt-Text versehen sind und welche nicht, hat auf Twitter eine ganz neue Dimension von Konfliktpotential freigeschaltet. Aber dazu später.

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Im Osten nichts Neues – Über den Bestseller von Dirk Oschmann

von Peter Hintz

Der relative Mangel an ostdeutschen Führungsfiguren im hiesigen Kultur- und Wissenschaftsbetrieb wird in Deutschland medial auf verschiedene Weise aufgenommen: Mit Optimismus, dass es nach und nach mehr wird, mit Realismus, dass es für die aktuelle Situation historische, politische und soziale Gründe gibt, oder mit eingeschränktem Fatalismus, dass für andere Ostdeutsche alles schief läuft, sich aber zumindest die eigene Ossi-Brand pushen lässt.

Dirk Oschmanns Langessay Der Osten. Eine westdeutsche Erfindung (Ullstein 2023) hat bereits Platz 2 der Spiegel-Bestsellerliste erreicht. Es handelt sich um ein Debattenbuch aus dem postfaktischen Zeitalter. Nicht nur wartet das Sachbuch mit populistischen Thesen zur anhaltenden Marginalisierung Ostdeutscher durch Westdeutsche auf, zur Immunisierung vor naheliegender Kritik betont der Autor gleich selbst in der Einleitung, dass es ihm gar nicht auf Genauigkeit ankomme: “Statt auf Differenzierung und Relativierung setze ich auf Zuspitzung, Schematisierung und personifizierende Kollektivsprechweise”. Oschmann, der ursprünglich aus Gotha stammt und in Leipzig als Professor für Germanistik tätig ist, befürchtet, dass ansonsten sein politisches Anliegen “bestenfalls unscharf, wenn nicht gar unsichtbar bleibt”.

Unsichtbar bleibt für Oschmann sonst die Geschichte einer BRD-Hegemonie über den Osten, die nichts weniger als den Imperialismus des Kaiserreichs in Afrika sowie die nationalsozialistische “Ostpolitik” fortsetze: “‘Buschzulage’ und ‘Aufbau Ost’ – ein rassistischer Begriff aus der Zeit des deutschen Kolonialismus einerseits und eine menschenverachtende Wortbildung aus der Sprache der Nazis andererseits: Darin verdichten sich die zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten”. Als ob das Problem dieser Neunzigerjahre-Sprache nicht vor allem darin bestand, dass privilegierte Westdeutsche und privilegierte Ostdeutsche sich wechselseitig zu Opfern von white man’s burden und rassistischer Diskriminierung erklärten, während in der Nachbarschaft die Asylheime brannten.

Je drastischer Oschmann die ostdeutsche Unfreiheit und die westdeutsche Fremdherrschaft herbeiredet und das interne politische Geschehen im Osten – nicht zuletzt den Rechtsradikalismus – dabei ausblendet, desto weniger überzeugend ist seine Argumentation. Pauschale Thesen von einer ‘antiautoritären Prägung’ des Ostens durch den Umsturz ‘89, die durch AfD und PEGIDA popularisiert worden sind, sind historisch nicht haltbar. Wenn Oschmann schreibt, dass man Ostdeutschen, die “teils mit hohem persönlichen Risiko eine Diktatur in die Knie gezwungen haben, nicht erklären [muss], was Demokratie ist”, so sollte dabei zwischen DDR-Regimegegnern und Regimeprofiteuren unterschieden werden. Letztere spielen bei Oschmann kaum eine Rolle, ‘die Ostdeutschen’ waren in der Opposition oder zumindest passive Opfer des Systems. Nach dieser Begründungsschablone verengt der Literaturwissenschaftler Oschmann hohe AfD-Ergebnisse im Osten auf westdeutsche Täter wie Björn Höcke sowie auf das Versagen der westorientierten übrigen Parteien.

Ähnliche Klischees werden auch in Oschmanns Verhandlung der ostdeutschen Literaturszene deutlich, einem Schwerpunkt des Buchs, in dem es vorrangig um kulturelle Machtansprüche des Westens gehen soll: “Die DDR-Literatur, die Anfang der Neunzigerjahre in Bausch und Bogen verdammt wurde, interessiert keinen mehr. Man kennt und liest sie nicht, weil sie aus dem ehemaligen Osten kommt und deshalb nichts wert sein kann.” Mit Verweisen auf tatsächlich (Inge Müller, Franz Fühmann) und eigentlich gar nicht vergessene Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem Osten (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller, Brigitte Reimann) biedert Oschmanns Buch sich an ein bestehendes gebildetes Publikum in Ost und West an, ohne dass es ihm gelingt, etwas Neues zur “DDR-Literatur” zu sagen. Zum Beispiel dazu, dass der ebenfalls erwähnte Leipziger Schriftsteller Wolfgang Hilbig gerade in den USA eine Renaissance erlebt.

Ingo Schulze liefert dem Buch einen Blurb, obwohl Schulzes letzter, erzählperspektivisch äußerst komplex konstruierter Roman, Die rechtschaffenen Mörder (S. Fischer 2020), selbst eben die nicht einseitig ‘westdeutschen’, sondern wechselseitigen kulturellen Projektionen auf den Osten abbildet. Schulzes Roman destabilisiert damit sowohl Sachsen-Romantik à la Uwe Tellkamp als auch journalistische Dämonisierungsversuche im Sinne eines berüchtigten (und eigentlich falsch verstandenen) Spiegel-Covers, an dem sich Oschmann abarbeitet. Statt etwas Unerwartetes dazu zu schreiben, rekapituliert Oschmann auch bloß den neueren Kunststreit zwischen dem ostdeutschen Maler Neo Rauch und dem westdeutschen Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, versucht daran zu beweisen, dass es der ostdeutsche Kunstbetrieb schwerer hat als der im Westen – als ob diese Debatte nicht auch den steigenden Einfluss von ostdeutschen Künstlern im (inter)nationalen Diskurs zeigen könnte.

Nach Oschmann ist “die seit 1990 gesamtgesellschaftlich mit am meisten benachteiligte Gruppe […] die der ostdeutschen Männer insbesondere der Jahrgänge 1945-1975 […], das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR”. Oschmann bezieht sich dabei auf die historisch-soziologische Studie Lütten Klein (Suhrkamp 2019) von Steffen Mau, die eine Benachteiligung von Teilen der ostdeutschen Bevölkerung vor allem am Arbeitsmarkt, aber auch in anderen sozialen Feldern nachweist. Im Gegensatz zu Oschmann ist nach Mau der Osten aber eben keine simple Projektions- und Konstruktionsfläche des Westens. Ein Verständnis der Transformation des Ostens seit der Wende verlangt auch einen Blick auf die DDR-Gesellschaft vor 1989. Faktoren wie die ethnische Homogenität der DDR, der lange Zeit niedrigere Ausbildungsstand und Akademikermangel im Osten, Abwanderungsbewegungen sowie die – von engagierten Ostdeutschen selbst initiierte – politische Ausgrenzung der alten SED- und Stasieliten müssen dabei ebenso zentraler Teil der Erzählung sein wie westdeutsche Machtinteressen, Netzwerke und Administratoren. Oschmann hingegen betont die Rolle negativer Stereotype über Ostdeutsche im öffentlichen Diskurs, erfindet einen ‘antiostdeutschen’ Rassismus und verfehlt damit strukturelle Ursachen für empfundene Probleme. Aber bekanntlich enthält sein Buch ja einen Undifferenziertheits-Disclaimer, der interessanterweise dann doch nicht gilt, wenn es darum geht, herauszustellen, dass Hitler Österreicher war.

Kuriositäten, die ein weiteres Ergebnis von Unterkomplexität mit Ansage sind: Als Teil von Oschmanns Versuch, eine allgemein negative Konnotation des “Ostens” im öffentlichen Diskurs herzuleiten, präsentiert er die Stadt Leipzig als geteilt in einen attraktiven Westen und in einen “fast verrufen[en]” Osten. Für mich als Leipziger ist das einigermaßen befremdlich, da sich schon seit einigen Jahren eben auch der Leipziger Osten zur Hipster- und Studentengegend gentrifiziert. Zum mangelnden Stadtinteresse passend findet Oschmanns Buchpremiere aber gar nicht am Ort seiner Professur in Sachsen statt, sondern in Prenzlauer Berg, bekanntlich ebenfalls hip und historisch in Ostberlin gelegen.

Positive Entwicklungen seit der Wiedervereinigung etwa die sich angleichenden Niveaus bei Löhnen und Arbeitslosigkeit, Industrieboom und Modernisierung der Infrastruktur, steigende Zufriedenheit in den ostdeutschen Bundesländern – weist Oschmann mit Verweis auf das Debate-Me-Primat zurück: “Natürlich verstehe ich auch den Wunsch nach ‘differenzierter Darstellung’. Die gibt es aber nun schon in Hülle und Fülle – und interessiert den Westen überhaupt nicht”. Aha. Als ob Oschmanns Populismus nicht vor allem an eine Leserschaft in den ostdeutschen Bundesländern verkauft werden soll, statt sonst wen überzeugen zu wollen.

Neue politische Romane jüngerer ostdeutscher Autorinnen und Autoren bieten sozialkritische Gegenerzählungen zu Oschmanns eigenem pessimistischen Narrativ, was aber auch einen möglichen ostdeutschen Generationenkonflikt offenbart. Das ist vor allem erwähnenswert, weil Oschmann sie als das, “was der Westen sich vom Osten denkt” verächtlich macht. Diese Texte leisten ihre eigene Gedächtnisarbeit durch fiktionalisierte Jugenderinnerungen der sogenannten “Baseballschlägerjahre”. Im Hinblick auf solche autofiktionalen Romane kann man Oschmanns Faszination für die “Verknüpfung von subjektiver Geschichte und sozialer Analyse” teilen, nur ist Oschmanns eigener Text viel eher polemisch als analytisch und ordnet seine eigenen, für sich genommen erhellenden autobiografischen Anekdoten aus dem deutschen Universitätsbetrieb, dieser Polemik unter.

Hendrik Bolz’ Nullerjahre (KiWi 2022) etwa zeichnet aus der Ich-Perspektive ein schier endloses, fast rauschhaftes Panorama schulischer Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in den 2000er Jahren. Diese Gewalt ist politisch aufgeladen durch rassistische, schwulenfeindliche und antisemitische Rhetorik und gestützt durch die Abwesenheit von Kontrollinstanzen. Oschmann verkennt völlig, dass solche Erinnerungen eben nicht nur affirmativ ein westdeutsches Publikum erreichen wollen, sondern zuerst einer jüngeren ostdeutschen Generation insgesamt eine Stimme geben. Bolz’ empathischer Roman verschweigt nicht die Strukturschwächen des Ostens im Vergleich zum Westen, sondern macht eben durch sein Verlegen der Handlung in die vermeintlich boomenden “Nullerjahre” auf sie aufmerksam. Vielschichtiger als Oschmanns Wessi-Ossi-Opfergeschichte erzählt der Roman die Erzeugung von Männlichkeit zwischen Autorität und Vorbildern, Klasse und Weißsein.

Eine Gewaltgeschichte erzählt auch Anne Rabes spannungsreicher, aus weiblicher Perspektive geschriebener Debütroman Die Möglichkeit von Glück* (Klett-Cotta 2023), der fast zeitgleich mit Oschmanns Buch erschienen ist und mit gegenwärtigen Verklärungen der DDR aufräumt. Diese Verklärungen sind heute weniger im konsumistisch-nostalgischen Stil von Good Bye, Lenin! (2003) gehalten, sondern entdecken den Osten gern als kulturkonservative Alternative des ‘kleinen Mannes’ zum liberalen Westen. Anne Rabes Protagonistin Stine, wie der Ich-Erzähler von Nullerjahre von der Ostseeküste, stammt aus einer Familie von DDR-Funktionären. Eine Archivrecherche über ihren Großvater führt sie zu den Ursprüngen und Nachwirkungen der autoritären DDR-Pädagogik, die ihre Kindheit und Jugend in den Nachwendejahren prägen. Gerade zum Verständnis von sozialen Brüchen nach ‘89 ist also das Wissen um kontinuierliche Machtverhältnisse nicht nur im Westen, sondern auch im Osten notwendig.

Zwar ist Oschmanns Buch inzwischen von einem halben Dutzend Leitmedien besprochen worden und in der Bestsellerliste gelandet, doch neue Impulse außerhalb längst bekannter fatalistischer Narrative vermag es nicht zu geben. Für die Rezeption eines in einer überregionalen Tageszeitung erschienenen Textes, den Oschmann für Der Osten auf Buchlänge erweitert hat, dreht der Autor aber schon mal eine kapitellange Siegerrunde. So verkündet er:

“Mein FAZ-Artikel Wie sich der Westen den Osten erfindet ging am 3. Februar kurz vor Mitternacht online: Bereits um 0.04 Uhr bekam ich die erste positive Reaktion aus der Schweiz. […] Mir sind per E-Mail und per Post Studien, Aufsätze und Bücher zum Thema geschickt worden, von Soziologen, Historikern, Politologen und Linguisten, die das ungeheure Ausmaß der Benachteiligung mit Fakten und Daten belegen. – Offenbar hat der Text einen Nerv getroffen.”

Jenseits des Matterhorns lässt sich Folgendes konstatieren: Oschmanns Intervention im Namen einer deklassierten lost generation von ostdeutschen Männern, die sich inzwischen nahe vorm oder schon im Rentenalter befinden, kann merkwürdig verspätet wirken und ist, wie auch das angefügte fünfzehnseitige Literatur- und Anmerkungsverzeichnis zeigt, ein Kompilat von über dreißig Jahren Debatte zum Thema. Doch gerade in seiner Umwandlung von Kränkungsgefühlen in Tatsachen und in seiner Läuterungserzählung, in der Oschmann sich als enttäuschter Grün-Liberaler präsentiert, knüpft sein Buch an aktuelle populistische Redeweisen an, die eine sich als marginalisiert empfindende weiße Männlichkeit politisiert.

Unterbrochen wird Oschmanns Polemik-Performance immer wieder durch versichernde Einschübe, dass er sich möglichen Einwänden gegen die Überzogenheit seiner Rhetorik selbst bewusst ist: “Der Ton stört gewaltig, ich gebe es sofort zu. Denn ich sage ja nichts Neues, aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei”. Und vielleicht nimmt gerade diese völlige Transparenz, intellektuell unehrlich zu sein und ein gewaltiges Medienereignis bewirken zu wollen, dem Buch das Potenzial, dies über erwartbare Talkshowauftritte, Zustimmung der Unzufriedenen und verdiente Verrisse hinaus tatsächlich provozieren zu können.

* Anne Rabe ist selbst Autorin bei 54books; mir lag vorab ein Manuskript ihres Romans vor.

Es schimmert, es glüht, es funkelt – Zur Ästhetik der KI-Bilder

von Roland Meyer

Da war es wieder, dieses Leuchten. Anfang März kündigte Open AI ein „experimentelles“ Update seiner KI-Bildgenerierungssoftware Dall-E an, und viele der Ergebnisse, die bald auf Twitter und anderswo zirkulierten, wirkten auf den ersten Blick seltsam vertraut: Strahlten sie doch jenen auratischen Glanz aus, der zuvor für allem für die Produkte der Konkurrenz von Midjourney typisch schien. Doch Midjourney, das zunächst vor allem als Spezialist für’s „Malerische“ galt (oder, weniger freundlich ausgedrückt: für eher kitschige Fantasy-Illustrationen), scheint mittlerweile Dall-E auch in Sachen „Fotorealismus“ den Rang abzulaufen – und das ist vermutlich der Grund, warum Open AI sein KI-Modell, rund ein Jahr nach seiner spektakulären Premiere, derzeit generalüberholen lässt.

Das Update, vorläufig nur für einen exklusiven Kreis von Beta-Tester*innen verfügbar, soll schärfere Details liefern, eine höhere Bildqualität und realistischere menschliche Gesichter. Doch was es vor allem zuverlässig liefert, so hat es der Konzeptkünstler Nils Pooker, der es bereits ausprobieren durfte, treffend benannt, ist „fluffy glamour glow“: Ein diffuses Schimmern, Funkeln und Glühen, als ob die Bilder von innen heraus leuchten würden.

KI-Modelle wie Dall-E, Midjourney oder die ebenfalls beliebte Open-Source-Variante Stable Diffusion versprechen, nahezu jeden nur denkbaren visuellen ›Stil‹ perfekt zu imitieren. „In the style of …“ im Prompt scheint zu genügen, um vom Pinselstrich van Goghs über den spezifischen Look der Pixar-Filme bis zur Anmutung alter Polaroids alle möglichen ‚Stile‘ auf einen beliebigen Bildgegenstand zu applizieren. Stil, im allerweitesten Sinne des Wortes verstanden als Bündel wiedererkennbarer formaler Qualitäten, wird so zum scheinbar beliebig einsetzbaren Parameter der Bilderzeugung. Doch die sich ankündigende ‚Midjourneyfizierung‘ von Dall-E macht deutlich, dass zumindest die kommerzielle KI-Bildgenerierung, wie sie derzeit vermarktet wird, auch ihren eigenen wiedererkennbaren Stil ausbildet – eben jenen „fluffy glamour glow“, der sich, wie Pooker auf Twitter demonstrieren konnte, beim neuen Dall-E selbst da einstellt, wo man die Software um eine Paul-Klee-Variation oder ein Landschaftsgemälde im Stil Gustave Courbets bittet.

Dieser Look diffusen Schimmerns, Glühens und Funkelns ist kein genuines Produkt ‚künstlicher Intelligenz‘. Varianten des Looks finden sich auf Instagram oder in aktuellen Werbekampagnen, auf Buchcovern und in TV-Serien, und zahlreiche Youtube-Tutorials führen vor, mit welchen „Glow“-Effekten sich Bilder in Photoshop zum Leuchten bringen lassen. Doch seine eigentliche Heimat scheint er auf Plattformen wie DeviantArt gefunden zu haben, einer kommerziellen Online-Kunst-Community, auf der aktuell 48 Millionen registrierte Nutzer*innen ihre digitalen Werke anbieten. Nicht zufällig wird DeviantArt, ebenso wie Midjourney und Stability AI (die Firma hinter Stable Diffusion), derzeit in den USA von einer Gruppe von Künstler*innen wegen Urheberrechtsverletzung verklagt: Die Plattform soll nämlich ihren eigenen Bildgenerator auf Stable-Diffusion-Basis, „Dream Up“, unter anderem mit den Bildern der Kläger*innen trainiert haben.

Welche Rolle die Millionen von digitalen Illustrationen und Fotografien auf DeviantArt für das Training von Midjourney oder der neuen Dall-E-Version gespielt haben, bleibt zwar bislang das Geheimnis der Firmen, aber wer sich ein wenig auf dem Midjourney-Discord oder anderen einschlägigen Foren umschaut, erkennt schnell, dass die ästhetischen Vorlieben, die bei DeviantArt vorherrschen, auch dort dominieren. Das betrifft das einschlägige Motivrepertoire zwischen Science-Fiction und Fantasy, Manga und Märchenwelt, Cyber- und Steampunk, ebenso wie eher formale Aspekte der Farbigkeit und Bildkomposition. Wenn sich also, jenseits charakteristischer Artefakte wie der anhaltenden Schwierigkeit der KI, anatomisch überzeugende Hände zu generieren, derzeit so etwas wie ein Stil kommerzieller Bildgenerierungssoftware abzeichnet, dann ist es letztlich wohl der Stil von DeviantArt.

Charakteristisch für diesen Stil ist jenes diffuse, aber intensive Licht, das weniger von einzelnen Lichtquellen zu stammen als vielmehr aus dem gesamten Bild herauszustrahlen scheint – ein Effekt, der sich in der KI-Bildgenerierung, die ja im Gegensatz zu Raytracing oder anderen klassischen Verfahren der Computergrafik kein optisches Modell der Lichtführung kennt, noch verstärkt. Denn KI-Bildgeneratoren simulieren Lichtführung als rein visuelles Phänomen: Sie sind, anders als etwa Renderingprogramme, unfähig zur exakten Berechnung von Lichtstrahlen und ihren Effekten, aber sehr effizient darin, Licht und Schatten visuell stimmig in der Bildfläche zu verteilen. Darin ähnelt Bildgenerierung, selbst bei scheinbar ›fotorealistisch‹ anmutenden Bildern, weit mehr der Malerei als der Fotografie oder anderen optischen Medien. Tatsächlich ist das vielleicht eine der Pointen jener Ästhetik des Schimmerns, die sich mit Midjourney und dem neuen Dall-E durchzusetzen scheint: Der vermeintliche fotografische Realismus, auf den viele dieser Bilder zielen, ist primär ein malerischer Effekt.

Verstärkt wird das diffuse Leuchten durch ein wiederkehrendes Farbschema, das sich –– mal mehr, mal weniger deutlich – durch den Output dieser kommerziellen KI-Tools zieht. Es ähnelt dem seit einigen Jahren überaus beliebten „Teal and Orange“-Look, der mittlerweile in zahlreichen Blockbuster-Filmen und Streaming-Serien zum Einsatz kommt, als Standard-Filter bei Instagram verfügbar ist und zum Beispiel von Adobe als der einschlägige Look des 21. Jahrhunderts vermarktet wird, um Videos und Fotos mehr „Leben“ einzuhauchen. Dabei geht es darum, bestimmte Bildpartien, vor allem die Hauttöne menschlicher Gesichter, in warmen, orange-gelblich leuchtenden Farben wie von Sonnenschein durchflutet vor einem eher kalten, blaugrünlichen Hintergrund hervortreten zu lassen. Zentrale Bildmotive rücken so in den Fokus der Aufmerksamkeit, das Bild wirkt kontrastreicher, lebendiger, zugleich durch das reduzierte Farbspektrum auch einheitlicher und harmonischer – ein Look, der zugleich zeitgenössisch wie vage nostalgisch anmutet (mehr dazu bald in Berit Glanz‘ neuem Buch über Filter).

Wer einmal auf solche forcierten Warm-Kalt-Kontraste geeicht ist, wird sie im Output der Bildgeneratoren immer wieder entdecken: Insbesondere die Kombination von warmen Kupfer- und Bronzetönen mit blaugrünlichen Metallic-Farben, typisch für viele Fantasy- oder auch Steampunk-Illustrationen auf DeviantArt, legt sich als glänzender Farbschleier auch über vermeintlich fotorealistische KI-Bilder. Eine Variante dieses Schemas ist der Kontrast von hellem Türkis und dunklem Magenta oder „ultra violet“, ein Look, der vage an 80er-Jahre-Cyberpunk-Ästhetik erinnert und wie „Teal and Orange“ in den letzten rund zehn Jahren beinahe zu einem Klischee des Color Grading, der Farbabstimmung für Kino und TV, geworden ist. Im Farbglanz kommerzieller KI-Bildgenerierung verdichten, verstärken und verfestigen sich so die visuellen Trends der jüngsten Vergangenheit.

Damit aus dem bloßen Glänzen aber ein wahrhaftes Funkeln wird, muss noch ein weiteres Element hinzutreten. Typisch für viele der Bilder auf DeviantArt wie für den Output von Midjourney erscheint die Kombination extremer Detailschärfe in einzelnen Bildelementen, auch solchen, die im Schatten oder Hintergrund liegen, mit diffusen atmosphärischen Unschärfen und selektiv weichgezeichneten Konturen. Besonders augenfällig wird das dort, wo es um etwa Wolken, Haare oder schimmerndes Fell geht: das „fluffy“ in „fluffy glamour glow“.

Der partielle Weichzeichner erinnert an den beliebten „Bokeh“-Effekt, bei dem Bildhintergründe in der Unschärfe verschwimmen; die hyperrealistische Detailliertheit wiederum ähnelt jenen Effekten, die etwa iPhones der neueren Generationen mittels »Deep Fusion« und High Dynamic Range (HDR) erzeugen, indem sie eine Vielzahl unterschiedlicher Einzelaufnahmen algorithmisch miteinander verrechnen. Dabei entstehen standardmäßig Bilder, die häufig irritierend artifiziell wirken: Wolkenformationen etwa, die sich so übernatürlich kontrastreich vom Himmel abzeichnen, dass sie, wie Kyle Chayka im New Yorker schrieb, an die „übersaturierten Horizonte von Anime-Filmen oder Computerspiele“ erinnern. Der „fluffy glamour glow“ führt so einen Trend der Aufhebung aller Grenzen zwischen fotografischer Aufzeichnung und algorithmischer Halluzination fort, der dank computational photography längst unsere smarten Geräte erfasst hat.

Insbesondere bei Midjourney tritt zur typischen Farbigkeit und selektiven Detailschärfe noch ein weiteres wiedererkennbares Stilelement hinzu: Zentrale Bildmotive werden nicht selten in die Bildmitte gerückt, und wenn der Hintergrund nicht ohnehin räumlich unbestimmt bleibt, erscheint er meist als zentralperspektivischer Tiefenraum, dessen Fluchtpunkt häufig ebenfalls in der Bildmitte liegt. In früheren Versionen der Software waren zudem bestimmte Kompositionsschemata wie mittig positionierte Figuren vor leuchtenden, sich nach außen hin abdunkelnden konzentrischen Kreisformen so typisch für deren Output, dass etwa das durch einen Kunstpreis auf einer Landwirtschaftsmesse in Colorado berühmt gewordene Bild des Amerikaners Jason Allen für nahezu alle außer der Jury auf den ersten Blick als Midjourney-Produkt erkennbar war.

Inzwischen ist die Variationsbreite größer geworden, doch immer noch gibt es eine wahrnehmbare Vorliebe für frontale, symmetrische Kompositionen, die manchmal auch wie mit einer leichten Fischaugenoptik verzerrt und so noch stärker auf die Bildmitte hin ausgerichtet erscheinen. Unterstützt wird dies gerne durch einen auch auf Instagram beliebten Effekt: eine subtile Vignettierung, die die Ränder dunkler erscheinen lässt und das Bildzentrum umso stärker hervorhebt. All diese Stilmittel, die sich nicht zuletzt dank einschlägiger Apps und Filter in unterschiedlichem Maße in vielen Bildern finden lassen, die heute auf digitalen Plattformen zirkulieren, zielen auf denselben Effekt: Das zentrale Bildmotiv soll gleichsam aus dem Bild hervortreten und direkt unseren Blick adressieren.

Was KI-Tools wie Midjourney derzeit mit diesen ästhetischen Standardvorgaben massenhaft produzieren, lässt sich leicht als Kitsch abtun. Dennoch lohnt es, dessen formale Qualitäten möglichst genau zu beschreiben. Denn dieser Stil kommerzieller Bildgenerierung ist keineswegs willkürlich oder bedeutungslos. Vielmehr verweist er auf zeitgenössische ästhetische Werte, die sehr viel mit den Medien zu tun haben, mit denen wir heute Bilder betrachten. Digitale Bilder sind für die Anzeige auf mobilen Displays bestimmt: Es sind Bilder aus Licht auf kleinen leuchtenden Rechtecken, die uns direkt und individuell ansprechen sollen.

Mehr denn je, so scheint es, erwarten wir von Bildern heute, dass sie zugleich aus sich heraustreten und uns in ihren Bann ziehen. Umso stärker sie dabei glänzen, umso erfolgreicher erscheinen sie gegenüber all den anderen Bildern, mit denen sie konkurrieren und die stets nur einen Klick oder eine Wischbewegung auf dem Touchscreen weit entfernt sind. Doch wo alles schimmert, glüht und funkelt, droht es zugleich, immer austauschbarer zu werden. Es ist daher wohl nur eine Frage der Zeit, bis die KI-Firmen beginnen, das Leuchten ihrer Bilder wieder ein wenig zu dimmen. Tatsächlich deutet manches, was bereits von der neuesten, mittlerweile fünften Midjourney-Version zu sehen ist, darauf hin, dass genau das geschieht.

Der Autor dankt allen, die diese Phänomene mit ihm im 54books-Discord diskutiert haben.