Autor: Simon Sahner

Mitherausgeber von 54books, freier Autor und Literaturwissenschaftler an der Universität Greifswald

Taliban, Reichsbürger, Nazis – Die Kritik an Klimaaktivist*innen hat sich radikalisiert

von Simon Sahner

Die Radikalisierung im Kampf um die Abwendung der Klimakatastrophe war lange befürchtet worden. Jetzt ist sie da. Im Streit um die aktuelle Aktion der sogenannten „Letzten Generation“ ist sie unübersehbar. Radikalisiert haben sich allerdings weniger die Aktivist*innen, sondern vielmehr ihre Kritiker*innen – jedenfalls auf einer verbalen Ebene.

Am vergangenen Wochenende hatten einige Vertreter*innen der „Letzen Generation“ das Denkmal „Grundgesetz 49“ an der Berliner Spreepromenade mit einer Flüssigkeit beschmiert, die sie selbst in Anführungszeichen als „Erdöl“ bezeichneten. Später stellte sich heraus, dass es sich um Tapetenleim und schwarze Dispersionsfarbe gehandelt hatte. Längst ist das Denkmal wieder sauber. Die unzureichende Klimapolitik, so die Aussage der Aktion, beschädigt unsere Grundrechte. Die Aktivist*innen inszenierten, was sie den Politiker*innen vorwerfen: Klimapolitik geht nicht weit genug und zerstört das, was unseren Staat und unser System zusammenhält. Das Grundgesetz verschwindet hinter den Wirtschaftsinteressen der Politik – dargestellt durch das „Erdöl“, das den Grundgesetzestext auf dem Denkmal unlesbar werden lässt. Das Grundgesetz per se war nie in Gefahr und sollte nicht zerstört werden, auch nicht symbolisch. Ein Akt, der in seiner Aussage relativ klar scheint – so klar, dass es beinahe überflüssig ist, ihn hier zu erläutern.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob einige Politiker*innen und Journalist*innen nicht Willens oder nicht in der Lage waren, diese Ebenen und die Aussage der Aktion zu erkennen. Sie demonstrierten jedenfalls vor allem eines: Eine rhetorische Radikalisierung. Frank Müller-Rosentritt, Bundestagsabgeordneter der FDP, warf den Aktivist*innen vor „gegen den Staat und gegen die freiheitlich, demokratische Grundordnung“ zu stehen und beschimpfte sie als „Abschaum“. Kristin Lütke, ebenfalls FDP, behauptete, die Verfassung sei mit Füßen getreten worden. Alexander Throm von der CDU äußerte, die „Letzte Generation“ habe ihre „Missachtung gegenüber unserem Grundgesetz deutlich gemacht.“ Noch einen Schritt weiter trieb es der SPD-Abgeordnete Michael Roth, der der „Letzten Generation“ vorwarf „ähnlich wie die Taliban“ Kunst zu zerstören. Der Journalist Nikolaus Blome wiederum befürchtete, als nächstes würden Bücher verbrannt und verglich die Klimaschützer*innen mit der Reichsbürger-Bewegung.

Drastische Vergleiche und Diffamierung

Man muss sich darüber wundern, dass anscheinend keine dieser Personen, deren Aufgabe es unter anderem ist, das alltägliche Theater des politisch-gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen, die Aussage der Aktion erkannt hat, oder besser: erkennen wollte. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie entweder bereits so voller Wut auf die Aktivist*innen sind, dass ihre Tweets und Äußerungen Kurzschlussreaktionen darstellen, oder dass sie selbst die gebotene Bühne für eine Inszenierung ihrerseits nutzen wollten. Die Vergleiche, die sie bemühten, könnten jedenfalls drastischer nicht sein. Mit den Bücher verbrennenden und Menschen vernichtenden Nationalsozialisten, den kulturzerstörenden und mordenden Taliban und den staatsfeindlichen Reichsbürgern stehen hier die Aktionen in einer Reihe mit Menschheitsverbrechen und rechtsrevolutionären Umsturzversuchen. 

Dass die Menschen hinter dem Protest gleichzeitig noch in menschenfeindlicher Überspitzung als „Abschaum“ bezeichnet werden, überdreht die verbale Eskalationsspirale vollständig. Die Masse an solchen verbalen Entgleisungen aus einem Umfeld, das einen Teil der Gewalten des Staates repräsentiert, ist erschreckend. Vor allem, weil sie als die Legitimierung einer Entwicklung erscheinen, die teilweise nicht mehr bei verbalen Attacken bleibt. Längst sind Klimaschützer*innen immer wieder das Ziel körperlicher Übergriffe und Gewalt. Mit wutentbrannten Gesichtern ziehen Autofahrer*innen Aktivist*innen von der Straße, treten nach ihnen oder fahren direkt auf sie zu, wobei Demonstrant*innen teilweise auch schon angefahren wurden. Auch die Schmerzgriffe, die die Polizei teilweise anwendet oder androht, reihen sich hier ein.

Die Aussagen der Politiker*innen und Journalist*innen befeuern damit eine Stimmung, die offenbar in Teilen der Bevölkerung herrscht und die gefährliche Ausmaße annimmt. Dabei sind die Vergleiche mit Nazis, Taliban und Reichsbürgern nicht nur haarsträubend, sie zeigen auch, wie die Klimaaktivist*innen bis in die höchsten Kreise des Staates und der Gesellschaft gesehen werden: Als Staatsfeinde und Terrorist*innen. Bisher war es meistens allerdings die RAF, zu der eine Linie gezogen wurde. Dass die „Letzte Generation“ mit der RAF nichts gemein hat, hat vor nicht allzu langer Zeit Bernd Ulrich in der ZEIT überzeugend erläutert. 

Auf dem Boden der demokratischen Grundordnung

Das gilt auch für alle anderen terroristischen Gruppen. Die Ziele der Aktivist*innen sind gerade nicht der Staat und unsere Grundrechte. Im Gegenteil, die Aktion vom Wochenende zeigt in ihrer Symbolik sehr deutlich, dass ihnen das Grundgesetz am Herzen liegt und sie es durch die Politik beschmutzt sehen. Während Reichsbürger und ehemals die RAF den Staat und seine demokratische Grundordnung zerstören wollen, will die „Letzte Generation“ genau das beschützen. Ihre Forderungen an die Politik stehen so zentral auf der Grundlage eines demokratischen Systems und fußen auf Respekt vor Politik und Demokratie, dass der Vorwurf der Staatsfeindlichkeit absurd erscheint.

Die Einführung eines Tempolimits von 100 km/h, ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket und einen Gesellschaftsrat, „der Maßnahmen erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 emissionsfrei wird“ – das ist alles. Durch die Erläuterungen dieser Forderungen zieht sich durchgehend der Respekt für demokratisch gewählte Politiker*innen als zentrale Wirkungsträger*innen für die Umsetzung dieser Forderungen. Die demonstrative Bereitschaft zur Diskussion, die auf der offiziellen Website der Bewegung beschrieben wird, ist beeindruckend und zeugt von einem grundsätzlichen Interesse an Debatten, das man auf Seiten ihrer Gegner*innen kaum findet. Explizit ist da die Rede davon, dass die Teilnehmenden an dem geforderten Klimarat „per Los gefunden“ werden sollen. „Veganer:innen und Autofans“ sollen gemeinsam zu Lösungen kommen.

Diskutieren statt Diffamieren

Die Forderungen kann man im Kern diskutieren und ob ein universelles Monatsticket jetzt 9€ oder vielleicht auch 19€ kosten könnte und auch ob das Tempolimit am Ende doch bei 120km/h liegt, wäre Verhandlungsmasse. Von einem Angriff auf Staat und Ordnung ist aber nirgendwo etwas zu sehen. Und das wissen auch diejenigen, die der „Letzten Generation“ genau das vorwerfen. Entscheidend ist vielmehr, dass die scharfe Verurteilung der Aktionen und die Parallelisierung mit Terror und Staatsfeindlichkeit vor allem zwei Effekte hat. Der eine ist das Schüren einer grundsätzlichen Wut in Teilen der Bevölkerung, die sich – nicht zu Unrecht – von der „Letzten Generation“ gestört fühlt. 

Viel sinnvoller und der Funktion von Politik angemessener wäre es, Brücken zwischen aufgebrachten Aktivist*innen mit nachvollziehbaren Anliegen und aufgebrachten Bürger*innen, die im Stau stehen, zu schlagen. Beispielsweise, indem man die Forderungen anerkennt, sie zur Debatte stellt und der Öffentlichkeit aufzeigt, dass die Ideen der „Letzten Generation“ grundsätzlich vor allem eines nicht sind: Absurde Vorschläge, die unsere Ordnung bedrohen.

Der zweite Effekt der verbalen Radikalisierung aus der Politik ist eine Absicherung der eigenen Position. Mit Terrorist*innen wird nicht verhandelt und mit Extremist*innen auch nicht. Wenn man also Menschen mit diskutierbaren Forderungen zu Terrorgruppen und extremistischen Organisationen erklärt, schließt man sie damit aus dem offiziellen Diskurs aus und muss sich zumindest auf einer Sachebene auch nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen. Anders als terroristische Vereinigungen, mit denen tatsächlich nicht debattiert werden sollte, respektiert die „Letzte Generation“ den Staat und seine demokratische Grundordnung allerdings auf einer ganz grundsätzlichen Ebene. Der erste Wert, den sich die „Letzte Generation“ auf die Fahne schreibt, ist Gewaltfreiheit in Verbindung mit einer Bestätigung des Rechtssystems: „Wir akzeptieren die Konsequenzen unserer Taten und stehen mit unserem Gesicht und unserem Namen dazu.“ Deswegen ist die Gleichsetzung mit der Reichsbürger-Bewegung auch faktisch falsch.

Wer schadet dem Klimaschutz?

Man kann von den Aktionen der „Letzten Generation“ halten, was man will, und ob die unterschiedlichen Formen des Protests jede für sich genommen legitim und sinnvoll ist, ist diskutabel. Ob es eine angemessene Geste ist, ein Denkmal mit Farbe zu beschmieren, das von einem israelischen Künstler zu Ehren des Textes geschaffen wurde, der die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden hervorgebracht hat, ist zumindest fragwürdig. Dazu gehört aber auch die Wahrheit, dass hunderttausende Jugendliche bei den Protesten von Fridays For Future zwar ein neues Bewusstsein für Klimaschutz erzeugt haben, das jedoch nicht zu zentralen Politikwechseln geführt hat, die ausreichen würden, um die größten Auswirkungen der Klimakatastrophe abzuwenden. 

Der Vorwurf der Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Aktion habe dem Klimaschutz geschadet, ist deswegen auch absurd. Dem Klimaschutz schadet in erster Linie die Politik, wenn sie nicht handelt und dazu gehört auch die Vermittlung notwendiger, unpopulärer Entscheidungen. Eine Bewegung zu diffamieren, deren Forderungen zumindest in ihrer vernünftigen Grundhaltung anerkannt werden könnten, schadet jedenfalls dem Klimaschutz mehr als die ein oder andere unbedachte Aktion, bei der außer materiellem Minimalschaden nichts passiert ist.

Man muss von Politiker*innen und Journalist*innen nicht erwarten, dass sie bei Protestaktionen, die Straßen blockieren und Denkmäler und Gemälde symbolisch beschmutzen – zerstört wurde keines – applaudierend daneben stehen. Man kann aber erwarten, dass ihre Kritik differenziert und angemessen ist und dass sie versuchen, sich konstruktiv mit dem auseinanderzusetzen, was solche Aktionen auslöst. Sonst sind es am Ende manche aus Politik und Journalismus, die sich vorwerfen lassen müssen, einen Diskurs radikalisiert und dem Klimaschutz geschadet zu haben.

Foto von Markus Spiske auf Unsplash

Wie wir lesen (sollen) – Amazon, TikTok und die Literatur

von Simon Sahner

Als vor etwa 20 Jahren Serien wie „The Sopranos“ und „The Wire“ das Erzählen in ein goldenes Zeitalter des Fernsehens führten, war häufig die Rede davon, dass sie in der Tradition des Romans stünden: große horizontale Erzählbögen, komplexe Handlung, detaillierte Figurenentwicklung und der Anspruch gesellschaftlich Relevantes zu erzählen. Dieser Vergleich war auch der Versuch, einem Medium, das sonst als reine Unterhaltung verschrien war, einen hochkulturellen Anstrich zu verleihen. Der Vergleich mit Literatur hat noch jedes andere Medium geadelt, deswegen hat auch Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhalten.

Wirft man allerdings einen Blick auf die Entwicklung des Literaturmarktes seitdem, muss man feststellen, dass sich der Einfluss heute umgekehrt vollzieht. Waren es im Jahr 2002 die Gesellschaftsromane des 19. Jahrhundert, die vermeintlich ihren Weg ins Fernsehen gefunden hatten, kann man heute beobachten, wie die Streaming-Serie den literarischen Bereich übernommen hat. Das hat mit zwei zentralen Spielfiguren auf dem Literaturmarkt zu tun: Amazon und TikTok.

Der sogenannte Everything-Store Amazon dominiert in Deutschland den Buchhandel. In einer Umfrage in Deutschland unter Menschen, die im letzten Jahr Bücher gekauft haben, gaben 60 Prozent an, bei dem Online-Versand bestellt zu haben. Wenn es um eBooks geht, besitzt Amazon mit seinem Kindle-Store fast eine Monopolstellung. Diese Situation ist in den meisten Ländern in Europa und Nordamerika ähnlich. Wie sehr der Buchhandel von dem Onlinekaufhaus abhängt, zeigen auch Rebecca Giblin und Cory Doctorow in ihrem neuen Buch „Chokepoint Capitalism“. In ihren Überlegungen zum Einfluss kapitalistischer Strukturen auf den Kulturmarkt, beschreiben sie Amazon als Monopson, das Gegenstück von Monopol.

Der Flaschenhals des Marktes

Monopson bezeichnet die Situation, in der es für eine Vielzahl von Anbietern nur einen Käufer gibt. Das führt dazu, dass ein Käufer einen überaus großen Einfluss auf die Gestaltung von Preisen nehmen kann, weil die Anbieter keine andere Wahl haben, als an diesen einen Käufer zu verkaufen. Der Chokepoint (dt. Flaschenhals) des Buchhandels ist Amazon, weil es sich kein Verlagshaus, sei es auch noch so groß, leisten kann, seine Bücher nicht dort anzubieten. Diese Situation betrifft zwar vor allem Verlage, die jedes ihrer Bücher auf Amazon platzieren müssen, sie betrifft aber auch Selfpublisher, denen Amazon überhaupt erst die Möglichkeit gegeben hat, gelesen zu werden und auch ohne Verlage die Chance auf einen literarischen oder ökonomischen Erfolg zu haben.

Die enge Verbindung zwischen dem Verkauf von Literatur und Amazon wirft eine Frage auf, die an den Grundfesten unserer Vorstellung einer autonomen Literatur rütteln könnte. Es geht um die Überlegung, welchen Einfluss Onlineriesen wie Amazon auf das Erzählen und die Gestalt von Literatur unserer Gegenwart haben. Einen Teil dieser Frage wirft Mark McGurl in seinem Buch „Everything and Less. The Novel in the Age of Amazon“ auf. Die provokante These, die seinen Ausführungen zugrunde liegt, besteht darin, dass Amazon die literarische Innovation vorantreibt, die einst von der Moderne und den Avantgarden getragen wurde. Das läge daran, dass der Vertrieb von Literatur durch Amazon einen signifikanten Einfluss darauf habe, wie Literatur geschrieben wird. Die schiere Übermacht von Amazon auf dem Buchmarkt nimmt nicht nur Einfluss darauf, wie wir Bücher kaufen, sondern auch darauf, wie wir lesen. Literatur, mit der Geld verdient werden soll, muss den Gesetzen des Marktes folgen. Um McGurl zu paraphrasieren: Literatur kann nur das hervorbringen, was der Markt erlaubt, und der Markt ist Amazon.

Tatsächlich ist diese These mindestens gewagt, denn letztlich beschreibt McGurl mit Blick auf die Gestaltung einer bestimmten Art von Literatur – der Genre-Literatur – nichts explizit Neues. Inspirierend für das Gespräch über den Literaturmarkt der Gegenwart sind seine Ausführungen aber in jedem Fall, weil sie zeigen, wie unter den Bedingungen, die Amazon geschaffen hat, Literatur verkauft und gelesen wird. Und das hat auch Folgen für die Produktion.

Leser*innen als Kund*innen

Die Überlegungen von McGurl und Giblin/Doctorow gehören zusammen, denn die uneingeschränkte Marktmacht von Amazon führt dazu, dass sich die Gegenwartsliteratur den Vertriebsstrukturen des Onlinehandels anpasst. Der Konzern selbst produziert keine Inhalte, hat aber inzwischen durchaus selbst Strukturen eines Verlagshauses mit mehreren Imprints entwickelt. Anders als “normale” Verlage vertreibt der Megakonzern aber nicht nur eigene Bücher, sondern alle. Da Amazon tatsächlich den gesamten Verteilungsprozess des Buchmarkts regelt und jeden, der Literatur herstellt – Verlage und Autor*innen – , von sich abhängig macht, wird das Unternehmen selbst zu einem entscheidenden Faktor im Literaturbetrieb. Amazon sieht die Leser*innen in erster Linie als Kund*innen, deren Wünsche der Konzern nicht nur erfüllen, sondern auch erzeugen will. Für McGurl geht es dabei vor allem um Kundenbedürfnisse, “über allem steht das Bedürfnis nach einer verlässlichen Quelle des Komforts, oder eines Nutzens in seiner ursprünglichen Bedeutung, in der Nutzen eher mit einem Gefühl des Wohlbefindens zu tun hatte als mit der nüchternen infrastrukturellen Sparsamkeit, an die der Begriff heute erinnert.” In dieser Logik werden die Autor*innen zu Dienstleister*innen, die ein bestimmtes Produkt in einer bestimmten Form herstellen, um ein Grundbedürfnis zu sichern, in diesem Fall das Bedürfnis nach immer verfügbarer Literatur.

Amazon und andere Onlinedienste wie Spotify, Netflix und Disney+ haben unsere Art zu konsumieren verändert, weil sie uns mit allem, was wir brauchen und wollen in kürzester Zeit versorgen. Auf Literatur, Musik, Filme und Serien können wir innerhalb von Sekunden zugreifen, alle anderen Produkte und Lebensmittel können wir uns innerhalb von nicht einmal 24 Stunden liefern lassen. Diese absolute Verfügbarkeit erzeugt nicht nur Überfluss, sondern auch den Anspruch, alles zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben. Das Konzept des Binge-Watchings ist zu einer verbreiteten Rezeptionsform der Streamingserie geworden und die Musik für jede Stimmung ist immer griffbereit. 

Auch wenn Literatur inzwischen zu einem nicht unbedeutenden Anteil genauso konsumiert wird, wird Literatur bisher im öffentlichen Diskurs von dieser Art des Kulturkonsums weitgehend ausgenommen – sonst hätte man während der Pandemie-Lockdowns die Buchhandlungen schließen können. Bücher konnten ja schon damals digital erworben werden. Die konsequente Verfügbarkeit von eBooks im Kindle-Store und die leichte Zugänglichkeit durch Über-Nacht-Bestellung direkt an die Haustür aber haben diesen Konsummodus längst auch in den Literaturmarkt überführt. Amazon ist also daran gelegen, dass wir als Leser*innen immer mehr Lesestoff wollen und diesen auch sofort bekommen können. Anders gesagt, Amazon will, dass wir lesen, wie wir Serien schauen: immer und überall und am besten schon mit Blick auf die nächste Folge.

Lesen in Serie

Serien selbst sind in der Literatur keine Neuheit. Die Perry-Rhodan-Reihe erscheint seit 1961 in Serie und schon Honoré de Balzac erzählte in literarischen Reihen. Amazon aber hat dieses Prinzip durch seinen Status als eigene digitale Publikationsplattform auf das nächste Level gehoben, indem es seinen Kund*innen ermöglicht, wie bei einem Streamingdienst über das Abo-Modell Kindle-Unlimited eigene Literaturserien quasi streamen zu können. 

Mit Reihen wie „Tofino Bears“, die Spieler einer kanadischen Eishockey-Mannschaft in jedem Buch in Liebesabenteuer schickt und „explizite Szenen“ garantiert, hat Amazon den Publikationsmodus von Streaming-Serien vollständig auf den Literaturmarkt übertragen. Trotz ihrer stolzen Länge von jeweils ungefähr 250 Seiten sind die zehn Folgen in zwei Staffeln im Sommer 2022 und im Januar 2023 bei Amazon erschienen – im Abstand von etwa ein bis zwei Wochen. Ähnlich wie bei anderen Literaturserien, ist hier das Konzept „Autor*in“ ins Wanken geraten, weil diese Form der Publikation nur von mehreren Personen getragen werden kann. Zwar werden die einzelnen Bücher von jeweils einer Person unter Pseudonym geschrieben, jedoch zeichnen insgesamt fünf Schreibende verantwortlich für die Reihe. Letztlich handelt es sich hier um eine Art Writers Room für Literatur. Literatur dieser Art sprengt den Rahmen der Gattung Roman, die Bücher sind in Form und Publikation die literaturgewordene Streaming-Serie.

Reihen – oder Serien – wie „Tofino Bears“ gibt es auf Amazon unzählige. Sie sind genuine Produkte des Onlinekaufhauses und nur dort erhältlich. Vor allem sind sie auch äußerst erfolgreich. Die aktuellen Bände sind regelmäßig auf den ersten Plätzen der Amazon-Kategorien „Top 100 Kindle-Shop“, „Liebesromane“ und „Zeitgenössische Liebesromane im Kindle-Shop“. Sie sind das Extrembeispiel dafür, wie Amazon unser Leseverhalten und das Schreiben von Literatur beeinflusst. Dieser Einfluss zeigt sich aber nicht nur in solchen Extrembeispielen, sondern auch in Literatur, die beinahe noch traditionell produziert wird, aber deren Autor*innen teilweise erst über Amazon als Selfpublisher die Chance bekamen, ihre Romane zu publizieren. Einige dieser Autor*innen sind inzwischen zu traditionellen Verlagshäusern gewechselt und bescheren ihnen mit immer neuen Romanen Millionengewinne.

Eine solche Geld- und Romangarantie ist die US-amerikanische Autorin Colleen Hoover. Sie platzierte sich im vergangenen Jahr mit acht Titeln auf den Jahresbestseller-Listen des SPIEGEL und bescherte dem Buchmarkt einen Umsatz von mehr als 20 Mio. Euro. Auch die deutsche Autorin Mona Kasten hatte großen Erfolg. Sie konnte im letzten Jahr zweimal einen Titel in der Hardcover-Bestenliste des SPIEGEL platzieren. Ihr Roman „Fragile Heart“ ging mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren ins Weihnachtsgeschäft. Es handelt sich bei Hoover und Kasten also um die mit am meisten gelesene Art von Literatur in Deutschland im Jahr 2022.

Was diese beiden Autorinnen neben dem Erfolg und dem Genre „Romance“ gemeinsam haben, ist der Beginn ihrer Karrieren auf einer Amazon-Selfpublishing-Plattform und die Dauerpräsenz ihrer Bücher auf TikTok. Das Phänomen BookTok, also die Inszenierung von Büchern und des Lesevorgangs, ist längst zum Massentrend geworden, der einen enormen Einfluss auf den Literaturmarkt hat. Das Siegel „TikTok made me buy it“ ist inzwischen ein ähnlicher Ausweis für Popularität wie der Spiegel-Bestseller-Aufkleber und eine eigene Suchkategorie bei Amazon. Die deutsche Ausgabe von Hoovers Megaseller „Nur noch ein einziges Mal“ liegt zwei Jahre nach Erscheinen noch in den deutschen Top 20 der meistverkauften Bücher auf Amazon, in manchen Kategorien gar noch auf Platz 1.

Dabei schreiben Hoover und Kasten sogar vergleichsweise langsam – wobei „langsam“ hier immer noch relativ zu sehen ist. Hoover hat in den letzten zehn Jahren 21 Romane und drei Novellen veröffentlicht, Mona Kasten 14 Romane in den letzten acht Jahren. Damit sind die beiden Autorinnen und andere aus diesem Segment der Romance-Literatur für junge Erwachsene die Schnittstelle zwischen der Amazon-Literatur und dem traditionell eher trägen Buchmarkt, weil sie erst durch Amazon zu publizierenden Autorinnen wurden und nach den ersten großen Erfolgen in traditionelle Verlagshäuser wechselten.

TikTok und der Leserausch

Die Selbstinszenierung der Leser*innen in den sozialen Medien als rauschhaft Lesende, die bei einem Roman von Emma Scott „noch nie so viel geweint“ haben oder Hoovers Romane „in weniger als 24h gelesen haben“, ist der sichtbare Beweis für die Sogwirkung dieser Literatur als Binge-Konsumerlebnis. Zwar erscheinen die Romane nicht im Rhythmus von wenigen Wochen, aber ihre Darstellung auf TikTok und die immer noch kurzen Publikationszyklen zeigen, wie nahe der Vergleich mit Streamingserien auch hier liegt. Die Bücher werden geradezu inszenatorisch verschlungen, große Stapel weisen darauf hin, wie viel gelesen wurde, und die Leser*innen beraten sich gegenseitig dabei, wie man besonders gut in den Binge-Modus kommt. Diese Form der Rezeption hat inzwischen auch TikTok als lukrativ erkannt. Vergangenen November schloss TikTok eine Partnerschaft mit mehreren großen englischen Verlagshäusern ab, die es User*innen ermöglicht, Bücher direkt über die App zu kaufen. Damit hat TikTok zwar längst nicht die Marktmacht von Amazon, aber es ist ein weiterer Schritt in die Richtung Einfluss auf den Literaturmarkt zu nehmen.

Der einzelne Roman ist auch hier beinahe irrelevant geworden, entscheidend ist, dass die Leser*innen den erwartbaren Lesestoff von den entsprechenden Autorinnen bekommen. Die Romane von Hoover, Kasten oder auch Scott sind sich zum Verwechseln ähnlich: eine (meist weiblich gelesene) Hauptfigur in Alter und Milieu nahe genug an der Zielgruppe, um Identifikation zu erzeugen, und weit genug von ihr entfernt, um als Eskapismus funktionieren zu können. Der Erzählton in der ersten Person ist locker und anspielungsreich, die Handlung ein chaotisches, mal witziges und mal dramatisches Liebesleben. 

Die ersten Seiten entwerfen schnell ein Bild von der Erzählfigur, die durch Rückblenden und Andeutungen ähnlich einer Pilotfolge bei Serien die Story anbahnt. Zentral ist auch das US-amerikanische Setting, unabhängig davon, ob die Romane von deutschen oder US-Autorinnen stammen. Die einzelnen Bände der „Tofino Bears“ folgen einem ähnlichen Muster, nur dass hier männliche Sportler im Mittelpunkt stehen. Es handelt sich im Grunde genommen um klassische Genre-Literatur, die unter den Bedingungen eines Lesemarktes im 21. Jahrhundert entsteht und vertrieben wird. 

Das Erzählen im Genre ist die zentrale Form von Literatur in einem Betrieb, dessen Strukturen von Amazon dominiert werden und der mit Hilfe von TikTok Millionenbestseller hervorbringt. Für McGurl liegt das auch daran, dass Genre-Literatur in ihrer Grundidee einem Prinzip folgt, das unseren Medienkonsum im 21. Jahrhundert bestimmt: Streamingdienste und die permanente Verfügbarkeit von allen Produkten erzeugen nicht nur Verlässlichkeit selbst, sondern auch den Wunsch danach. Alles ist immer verfügbar und wir wissen, was wir wo bekommen. Das Gleiche gilt für die Literatur von Hoover und Kasten und jede andere Form von Genre. Es ist eine Literatur der gut konsumierbaren Verlässlichkeit in einem festen Rahmen. Das war Genre-Literatur schon immer und Amazon und TikTok haben erkannt, dass die Regeln, nach denen Kultur im 21. Jahrhundert konsumiert wird, dem Genre-Prinzip entgegenkommen. Deswegen hat Amazon längst eine Streaming-Plattform für Literatur geschaffen, die seine Leser*innen zuverlässig mit der Unterhaltung versorgt, die sie sich wünschen. TikTok ist gerade dabei.

Du musst dein Lesen ändern

Für die Literatur und ihre Produzent*innen ist diese Entwicklung Chance und Gefahr zugleich. In einer krisengeschüttelten Branche kann eine solche Form des Konsums lukrativ sein und hohe Einnahmen generieren, von denen Verlage im sogenannten Hochkulturbereich oft nur träumen können. TikTok kreiert über die Begeisterung seiner Nutzer*innen inzwischen Millionenbestseller und kann sie auch verkaufen und Amazon verhilft selbstpublizierenden Autor*innen im Idealfall zu finanzieller Stabilität oder gar Reichtum – an dem aktuell noch Verlage teilweise mitprofitieren. Gleichzeitig garantiert diese Entwicklung vor allem hohe Verkäufe über Amazon und festigt damit die erdrückende Abhängigkeit des Buchmarktes von dem Online-Riesen. 

Diese Entwicklung bietet jedoch immerhin die Chance zu Überlegungen zum Selbstanspruch von Literatur im kulturellen Diskurs. Genre-Literatur wird auf Amazon zwar in ähnlicher Weise gelesen und auf TikTok inszeniert, wie wir Serien schauen, aber diese Art der Literatur findet kaum ihren Weg in die öffentliche Debatte oder das feuilletonistische Gespräch über Literatur. Das war bei Genre-Literatur in den letzten Jahrhunderten meistens so. Die Streaming-Serie hat diese Grenzen gerade wegen ihres großen Spektrums inzwischen überwunden. Selbst in akademischen Kreisen und im Feuilleton ist man sich inzwischen einig, dass man schnell produzierte und unterhaltsame Serien am Wochenende am Stück schauen kann, ohne sein Selbstbild als gebildete*r Kulturconnaisseur*in zu zerstören.

Wir schauen völlig selbstverständlich die x-te mittelmäßige bis peinlich-kitschige Star-Wars-Serie in einem Rutsch und sprechen darüber genauso, wie wir uns über das neue Serien-Meisterwerk aus dem Hause HBO freuen. Lesen aber gilt im bildungsbürgerlichen Milieu und im feuilletonistischen Diskurs weiterhin als anspruchsvolle Tätigkeit, die unter Rechtfertigungsdruck gerät, wenn sie als Unterhaltung dient, die wie eine Serie digital konsumiert wird. Dabei ließe sich zumindest die Frage stellen, ob nicht in der streamingähnlichen Publikationsform von Literatur und dem populären Diskurs auf TikTok Chancen sichtbar werden, die auch bei literarischen Reihen ein Spektrum wie bei den Serien entstehen lassen könnten. Wenn Literatur die leicht konsumierbare Action-Serie oder die Romanzenreihe kann, warum soll sie nicht Serien entwerfen, die im Feuilleton oder auf Twitter diskutiert werden wie HBO-Serien? 

Foto von Sunrise King auf Unsplash

Virale Welterklärer – Die Rhetorik von Richard David Precht und Serdar Somuncu

von Simon Sahner

Kürze ist ein zentrales Paradigma der Gegenwart. Die knapp und bündig vermittelte Nachricht und der leicht konsumierbare Block an Wissen, den man zwischendurch mitnehmen kann, sind entscheidend für eine Mediengesellschaft, die vorrangig nebenbei Nachrichten und Informationen aufnimmt. Damit arbeiten Apps wie Blinkist oder Infotainment-Accounts auf TikTok teilweise sehr erfolgreich. Niklas Kolorz beispielsweise hat diese Form der elegant unterhaltsamen Wissensvermittlung in seiner #MindBlownUniversity auf TikTok perfektioniert. Sein Account ist ein Paradebeispiel dafür, wie man in wenigen Minuten viel Wissen auf ansprechende Art vermitteln und dadurch Interesse anstoßen kann.

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„Heute kamen die Gangster nach Bremen“ – Die Geiselnahme von Gladbeck und ihre Bilder

von Simon Sahner

Ein braungebrannter Mann, der in einem äußerst knappen orangenen Slip Geld in Plastiktüten vor einer Glastür ablegt, Polizisten in den bieder wirkenden beige-grünen Uniformen der 1980er Jahre, unschlüssig die Hände in die Hüften gestützt, ein engagierter Fotograf im eierschalenfarbenen Sommerjackett im Gespräch mit einem Geiselnehmer, Reporter*innen, die ein Auto umringen, ein ungepflegt wirkender Mann, der mit einer Pistole vor den Kameras gestikuliert, Männer, mit Frisuren zwischen lang und kurz, die Laternenmaste erklimmen, um besser sehen zu können, die Tristesse mittelgroßer und großer westdeutscher Innenstädte, die dröge Weite von erhitzten Autobahnen und dazwischen ein brutales Verbrechen. 

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Echter Krieg, unsichere Bilder – Wahrnehmung und Erzählungen in Sozialen Medien

von Simon Sahner

„This is a Romeo Foxtrot. Shall we dance?“

Mit diesen Worten legt der sonnenbebrillte Lieutenant Colonel Kilgore einen Schalter am Tonbandgerät um und über den Lärm der rotierenden Flügel der Helikopter erklingt Richard Wagners „Walkürenritt“. Die sichtbar nervösen Soldaten schauen sich teilweise irritiert an, während die hymnischen Klänge scheppernd im Hintergrund zu hören sind. In der ikonischen Szene aus dem Kriegsfilm Apocalypse Now fallen in diesem Moment zwei Ebenen des Erzählens ineinander, die meistens voneinander trennbar sind, die von Form und Inhalt.

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Lagerfeuer reloaded – „Wetten, dass?“ und die Sehnsucht nach dem Millennium

von Simon Sahner

Im Februar 2001, das neue Jahrtausend hatte gerade erst begonnen, fragte der damals etwa fünfzigjährige Thomas Gottschalk, was eigentlich mit dem Rock’n’Roll passiert sei. Er habe die „Schnauze voll“ von der Musik seiner Kinder, der gute alte Rock solle bitte zurückkommen. Heute, 20 Jahre später, scheint ein großer Teil des deutschen Fernsehpublikums die sogenannte gute alte Zeit um das Millennium zurück zu wollen. Gottschalk sprach damals eher von der Zeit in den 1970er und 1980er Jahren. Nostalgie nach vergangener, vermeintlich besserer Zeit hat immer Konjunktur, was vielleicht mehr über Erinnerung und Verdrängung aussagt als über diese vermissten Zeiten. 

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Freizeitparks für Millenials – Ein Blick auf die Romane von Sally Rooney

von Simon Sahner

Freizeitparks oder Ausstellungen, in denen fiktive Welten und Wesen aus Büchern und Filmen zum vermeintlichen Leben erweckt werden, sind heute ebenso wie Merchandise ein etablierter Teil der Entertainment-Industrie. Davon zeugen Verkleidungen und Accessoires aus der Harry Potter-Welt ebenso wie die Wizarding World of Harry Potter oder das Disneyland Paris und dort insbesondere auch die Attraktionen zu Fluch der Karibik. Bei diesen erlebnisgewordenen Fantasiewelten handelt es sich um Produkte großer fiktionaler Fantasy-Narrative, die eine Welt entwerfen, die von unserer Alltagsrealität so weit entfernt ist, dass wir als Rezipient*innen darin aufgehen können. Wie aufregend, wenn es möglich ist, diese Fiktionen für ein paar Stunden zu betreten oder man sich zum Beispiel durch einen Spielzeugzauberstab seinen Fantasieheld*innen näher fühlen kann.

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Der Stoff aus dem Meme-Träume sind – Deepdive in die digitale Kultur

von Simon Sahner

Manchmal ist es erst einmal nur eine Ahnung, ein Aufscheinen von bestimmten Schlagwörtern im unübersichtlichen Feed der Twitter Timeline oder im endlosen Strom von TikTok-Videos. Begriffe oder Namen werden wiederholt genannt, etwas, das viele beschäftigt, ist aufgetaucht. In den Kommentaren zu Tweets wird über etwas gesprochen, was auf den ersten Blick nicht greifbar erscheint. Beim Durchscrollen erfüllt einen das gleiche Gefühl wie, wenn man sich zu einer Gruppe dazu setzt, die sich seit längerer Zeit unterhält. Alle teilen ein Wissen, das man sich selbst erst erschließen muss, bevor man selbst ins Gespräch einsteigen kann. „wie heisst das ding auf dem zuckerberg steht und wo kann ich das machen“, fragt @chr_eichler. @scheeewittchen schreibt „mark zuckerberg hat das meer angez“, „Ja, das ist echt ein Video von und mit Mark Zuckerberg und die Musik war auch schon drin“ (@derlampenputzer). Wenige Klicks weiter habe ich das Video gefunden, das Mark Zuckerberg zur Feier des amerikanischen Nationalfeiertags am 04. Juli 2021 auf Instagram veröffentlicht hat. Es zeigt den Facebook-Gründer auf einem elektrischen Surfbrett vor einem bewölkten Abendhimmel. In der Hand hält er eine amerikanische Flagge, die im Fahrtwind flattert, musikalisch unterlegt ist das Video mit dem Pop-Country-Klassiker „Country Roads“. Innerhalb von Stunden haben Twitternutzer*innen das Video tausendfach geteilt und in ein Meme verwandelt. Besonders häufig wird dabei auf das Video einer beschädigten Öl-Pipeline Bezug genommen, das vor allem ein brennendes Loch im Meer im Golf von Mexiko zeigt und das in den ersten Julitagen omnipräsent in sozialen Medien war. „Mark Zuckerberg einf auf dem Weg das Feuer im Meer zu löschen“ (@avocadogucci)

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Flucht aus Platons Höhle – Über Bilder und Irritation

von Simon Sahner

Auf dem Foto, das ich von Maudie Giffard auf Twitter finde, schaut mich die junge Frau Anfang 30 zögerlich lächelnd durch die Kamera an. Die Haut in ihrem Gesicht ist leicht gerötet und glänzt etwas, ihr Ausdruck verrät eine Überforderung. Sie sieht aus als wäre sie gerade nach einiger Anstrengung wieder zur Ruhe gekommen. Die schulterlangen braunen Haare sind leicht zerzaust, die ebenso braunen Augen blicken in die Kamera als hätten sie nur wenige Sekunden gehabt, um sich reflexartig auf den Moment der Bildaufnahme einzustellen. Vielleicht ist sie gerade nachts aus einem Club gekommen und jemand hat sie überraschend fotografiert. Maudie ist 31 Jahre alt, lebt in einer offenen Beziehung und wohnt im Stadtteil Moskowski der russischen Hauptstadt Moskau.

Maudie existiert nicht.

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Vorlagen der Angst – Wie von Krebs erzählt wird

von Simon Sahner

Mit dem Gedanken, es gebe ein Reich der Kranken und eines der Gesunden und von Geburt an besäßen wir die Staatsbürgerschaft für beide, eröffnet Susan Sontag ihren berühmten Essay über Krebs und Krankheit als Metapher. Sie wolle dennoch nicht beschreiben, fährt sie fort, wie es ist, in das Reich der Kranken auszuwandern und dort zu leben, sondern stattdessen die Fantasien schildern, die es umranken. Ihrer eigenen Überzeugung zum Trotz, dass Krankheit eben – entgegen dem Titel ihres Essays – keine Metapher ist, beginnt sie also ihre Analyse des Reichs der Kranken mit einer solchen. Man ist verleitet bei dem Gedanken an ein Leben, das sich in zwei Reichen abspielt, an die einleitenden Worte von Charles Dickens‘ Eine Geschichte aus zwei Städten zu denken: „Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.“ Weiterlesen