Ziemlich beste Freundinnen. Selene Marianis Debütroman „Ellis“

von Hanna Sellheim

Der Klappentext von Selene Marianis Debütroman Ellis, erschienen 2022 im Wallstein Verlag, mutet vage bekannt an. Er verspricht: „Deutschland und Italien. Zwei Freundinnen zwischen Nähe und Distanz.“ Auf seiner Instagram-Seite verlost der Verlag den Roman mit einer Packung Abbracci-Kekse, die darin eine Rolle spielen. Italien, Freundinnen, Dolce Vita und zuckersüße Vermarktungsstrategien – das klingt verdächtig nach #ferrantefever, dem Hype um die „Neapolitanische Saga“ von Elena Ferrante, die weniger mit literarischer Innovation und mehr mit der Geheimniskrämerei um die wahre Identität der Autorin hinter dem Pseudonym Aufsehen erregte. Aber diese Vermarktung verwundert, wirft man einen Blick ins Buch: Denn was hier erzählt wird, ist keineswegs eine Freundschaftsgeschichte, sondern die Erzählung einer unglücklichen lesbischen Liebe. Doch das wird nie explizit und man fragt sich: Warum eigentlich?

Die Handlung des Romans ist knapp bemessen: Ellis, in Deutschland und Italien aufgewachsen, wird in der Schule gemobbt und ist kreuzunglücklich – bis sie Grace kennenlernt. Die beiden streiten und vertragen sich, verlieren den Kontakt, treffen sich schließlich nach zehn Jahren wieder und reisen gemeinsam zu Ellis‘ Großeltern nach Italien. Der Roman ist durch Ellis‘ Ich-Perspektive fokalisiert und in sehr kurzen, szenenhaften Kapiteln erzählt, wobei wiederholt zwischen den Zeitebenen von Kindheit und Gegenwart hin- und hergesprungen wird.

Kitsch und Atmosphäre

Andere Themen, die sich aus den Eckpunkten der Handlung logisch ergeben, finden vor allem am Rande Erwähnung; etwa Kindheitstraumata oder die Frage nach kultureller Zugehörigkeit. Mariani verwendet durchaus einfallsreiche Vergleiche („Mein Verhalten der letzten Tage steigt in mir auf wie Sodbrennen“) und wohlüberlegte Formulierungen („würge Themen heraus, kläglich klein sehen sie aus, wir schieben sie hin und her, unschlüssig“). Manches davon ist geprägt von einer recht aufdringlichen Wortwörtlichkeit, manches von schamlosem Kitsch:

„Ich habe mich verliebt, oft und jedes Mal unsterblich…“ Ich muss lächeln. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Doch die eingebauten Referenzen schaffen ein überzeugendes Panorama der frühen Nullerjahre, die schlaglichtartigen Szenen bauen atmosphärische Bilder von italienischem Sommer und der gräulichen Langeweile deutscher Mittelstädte.

Und dann ist da eben die Beziehung von Ellis und Grace, die sich als nur halbherzig erwiderte Verliebtheit entfaltet. An Grace fällt Ellis zuerst und wiederholt der Vanilleduft und ihre blauen Augen auf, es entspinnt sich ein Spiel von Beobachten und Näherkommen. Insbesondere die Berührungen mit Grace sind es, die Ellis detailreich beschreibt. Da kleben schwitzige Arme aneinander, Hände liegen zu nah beieinander, Wangen berühren Hälse und Ellis ist der Anblick von Grace‘ nacktem Körper unangenehm.

Suggestive Bildsprache

Dies entwickelt sich zu einer durchaus überzeugenden Schilderung von gay panic:

Es ist unmöglich, sich nicht zu berühren, wenn ich nicht herunterfallen will. Der Film geht los, nach fünf Minuten die erste Liebesszene. Ich merke, wie mein Nacken sich versteift. Ich spüre Grace‘ warmen Körper an mir, habe das Gefühl, das [sic] sie mich ansieht. Ich versuche, normal zu atmen. Als endlich die Szene wechselt, lege ich mich erleichtert etwas entspannter hin. Vergeblich versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren, schaffe es nicht.

So liest sich der Roman, als sei er in Codes geschrieben, die ganz bewusst einen Subtext des queeren Begehrens erzeugen. Es geht nie um Sex und doch gleichzeitig irgendwie immer, suggestive Anspielungen sind omnipräsent. Ellis sitzt „auf einer nackten Matratze“ , die Ballettlehrerin „schiebt ihre Beine scherenförmig auseinander“, ein Kater sieht aus, „als hätte jemand auf seinem Gesicht gesessen“, und bei Grace sind „die Innenseiten der Lippen noch weinrot“. Auch gar nicht subtile Beschreibungen körperlicher Vereinigung passen sich in das Bild:

Chiara und ich schaukeln, wie andere Freundinnen laufen – aus zwei Körpern wird einer. Mit der gleichen Biegung im Rücken drücken wir uns nach oben. Dort, der Pause zwischen Ein- und Ausatmen gleich, bleiben wir ganz kurz stehen, mit geschlossenen Augen.

Ellis zeigt derweil in der gesamten Erzählung kein Interesse an Männern, auf Grace‘ männliche Schwärme und Partner ist sie zugleich unverhohlen eifersüchtig.

Die queeren Andeutungen reichen bis zu Referenzen: Ellis‘ „Mund voll ungesagter Worte“ ist verdächtig nah an Anne Freytags „Mund voll ungesagter Dinge“ – einem erfolgreichen Jugendbuch, das eine Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt. Und von „Blau ist seine Lieblingsfarbe“ ist es nur ein Katzensprung zu „Blau ist eine warme Farbe“, dem wohl bekanntesten und umstrittensten lesbischen Liebesfilm.

Dabei nähert sich die Erzählung immer wieder asymptotisch der Ausbuchstabierung, insbesondere als Ellis‘ Vater auftaucht und ihr nahelegt: „Du schaust sie an wie sonst niemanden“ und „Du musst es ihr sagen.“ Dieses Es, das unausgesprochen zwischen den Zeilen schwebt, findet aber nie seinen Weg in die Ausformulierung, sondern bleibt stets Implikation. Coming-Out-Andeutungen häufen sich, bleiben aber unausgesprochen.

Als es schließlich doch zum Kuss zwischen Ellis und Grace kommt, folgt daraus jedoch weder für die Handlung noch für die Reflektion etwas; wenige Seiten später ist das Buch beendet. Das Ende verbreitet noch ein bisschen vage Self-Love-Share-Pic-Aufbruchsstimmung und fasert dann aus.

Best Friends Forever?

Wieso wird der Roman also trotz des offensichtlichen Inhalts so verschämt vermarktet als Freundschaftsgeschichte? Der Umschlagtext spricht von der „problematische[n] Dynamik ihrer Freundschaft“ und fragt recht naiv: „Was hält Ellis und Grace zusammen?“ Spielte sich dieselbe Geschichte schließlich zwischen einem Mann und einer Frau ab, sie würde wohl kaum so angeteasert. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen, die aber alle keine wirklich zufriedenstellende Antwort liefern: 

1. Der Roman (und mit ihm die Akteure drumherum) ist sich selbst seines queeren Subtextes nicht bewusst. Angesichts des oben gezeigten Umfangs der Anspielungen scheint das allerdings eher abwegig. 

2. Der Roman ist sich dessen bewusst, versucht aber, einem queeren Themen eher abgeneigten Publikum diese unterzujubeln, auch indem ganz bewusst der Ferrante-Hype angezapft wird. Hierbei stellt sich aber die Frage nach der Motivation: Dass solche Codierungsstrategien früher notwendig waren, um Bücher überhaupt auf dem Markt zu platzieren, liegt auf der Hand[1], aber warum sollte es heute noch im Interesse eines Verlags sein, die eigenen Produkte auf diese Weise zu maskieren? Gerade im Kontext des Pride Month erstaunt es, dass Wallstein den queeren Gehalt nicht mehr ausschlachtet. 

3. Man könnte den Roman lesen als fokalisierte Erzählung einer Figur, die keine Sprache für ihr eigenes Begehren hat, die ihr Gefühl des Andersseins verschiebt von der sexuellen auf die kulturelle Andersartigkeit, die in einer heteronormativen Welt gezwungen wird, sich selbst zu zensieren, um nicht weiter aufzufallen: „Ich lerne vorauszusehen, wann die Lauteste lacht, lache vor ihr, spüre ihren wohlwollenden Blick wie warmes Wasser, das mir den Nacken hinunterläuft. Früher war jeder Blick entlarvend, jetzt nicht mehr, jetzt bleiben sie auf der Oberfläche kleben. Ich weiß jetzt, was meine Stärke ist: mich anpassen.“ Doch das beantwortet nicht, warum das in den Paratexten dann nicht besser aufgefangen wird.

So scheint es am plausibelsten zu vermuten, der Text kapituliere vor der historischen Übermacht überkommener, heteronormativer und latent homophober Klischees und Stereotype von ‚natürlicher Nähe‘ zwischen ‚befreundeten‘ Frauen. Denn diese Muster haben eine Geschichte: Ellis ist keineswegs das einzige Beispiel für die Vermarktung lesbischer Geschichten unter dem Etikett der ‚engen Frauenfreundschaft‘. Der Film Grüne Tomaten (Fried Green Tomatoes) von 1991 erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen in Alabama Anfang des 20. Jahrhunderts – gibt das aber nie offen zu. Der Trailer betont „friendship“ und „best friends“. Die Zusammenfassung auf Filmstarts.de verspricht etwas von „tiefe[r]“ und „innige[r] Freundschaft“. Dabei legt die 1987 veröffentlichte Buchvorlage Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café von Fannie Flagg, einer offen lesbischen Autorin, das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe recht eindeutig nahe. Kino-Zeit.de immerhin bemerkt: „Bedauerlich ist, dass die romantischen Gefühle zwischen den beiden jungen Frauen, die in Flaggs Roman angelegt sind, im Film auf ein rein platonisches Verhältnis reduziert werden.“

“Grüne Tomaten”: Queercoding par excellence

Doch auch das ist nicht wahr: Denn der Film ist voller Codes, die eine romantische Beziehung zwischen den Protagonistinnen Idgie und Ruth suggerieren, auch wenn dies eher im Subtext geschieht. Idgie wird als Tomboy eingeführt, weigert sich, für eine Hochzeit ein Kleid anzuziehen und läuft lieber in Hosen rum. Das allein ist selbstverständlich kein Indikator für lesbische Orientierung, die zärtliche Darstellung von Ruths und Idgies Beziehung, die im Grunde als Ehepaar zusammenleben und gemeinsam ein Kind großziehen, jedoch ist es definitiv. Berührungen und Küsse auf die Wange werden in Close-Ups gezeigt. Eine besonders eindrückliche Szene zeigt die beiden bei einem Food Fight, der mit Beeren-Geschmiere und erschöpfendem Rangeln auf dem Fußboden unschwer als Sex-Chiffre zu erkennen ist, und vom Sheriff unterbrochen wird, der die beiden darauf hinweist, gerade etwas Unerhörtes getan zu haben. Auch eine der Schlüsselszenen, in der Idgie für Ruth Honig erntet und auf die das Paar bei späteren Liebeserklärungen immer wieder Bezug nimmt („I‘ll always love you, the bee charmer“) arbeitet mit einer Bedeutungsverschiebung, die den queeren Gehalt hervorhebt: „I heard there are people who could charm bees. I have just never seen it done before today. You’re a bee charmer, Idgie Threadgoode. That’s what you are. A bee charmer.“ Im Anschluss an diese Aussage greift Ruth mit zwei Fingern in das Honigglas, das Idgie ihr hinhält, und leckt den Honig ab. Sexuell suggestive Bildlichkeit funktioniert also auch in anderen Fällen als Code für queeres Begehren – auch wenn dieser nicht von allen Rezipient*innen entziffert wird. So ist der Film durch die Vermarktung im Einklang mit Mainstream-Diskursen im kollektiven Bewusstsein eingegangen als Freundschaftserzählung – und der queere Hintergrund somit vergessen.

Lesbische Unsichtbarkeit

Es ist inzwischen zum Meme geworden, dass Historiker:innen (oder, vielleicht treffender, Historiker) zusammen lebende, einander Liebesbriefe schreibende Frauen als gute Freundinnen oder Mitbewohnerinnen vermuten. Zuweilen führt diese Verleugnung von Offensichtlichkeiten zu Absurditäten wie dem folgenden Satz auf der Wikipedia-Seite zu Vita Sackville-West, der Geliebten von Virginia Woolf: „Die Freundschaft war von großer Zuneigung und gegenseitiger Bewunderung geprägt, und zumindest zeitweise auch sexueller Natur.“ Auch in eindeutigeren Fällen kommt das Freundschaftslabel zum Einsatz: Netflix fasst Call Me by Your Name als Film über eine „lebensverändernde Freundschaft“ zusammen. In gravierenden Fällen führt ein solcher Bias zur Verfälschung von Forschungsergebnissen, nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch etwa in der Archäologie.

Die Grenzen und Grenzüberschreitungen von Liebe und Freundschaft zu diskutieren und Zwischenbereiche aufzuzeigen, ist ja keineswegs falsch – doch scheint es in diesen Fällen um etwas anderes zu gehen, nämlich die Leugnung romantischer queerer, und vor allem lesbischer, Liebe und Sexualität, die Diskriminierungen perpetuiert. Denn die Gleichsetzung von lesbischen Liebesbeziehungen mit engen Frauenfreundschaften macht queere Lebensrealitäten unsichtbar.[2] Während männliche Homosexualität jahrzehntelang kriminalisiert wurde, ist weibliche vor allem ignoriert worden.

Doch auch diese spezifisch lesbische kulturelle Unsichtbarkeit[3] ist problematisch und hat gesellschaftliche Auswirkungen – durcheinander geratene Definitionen von Liebe und Freundschaft, von Begehren und Bewundern sind deshalb keineswegs trivial. Warum? Die Antwort ist so einfach wie pathetisch: Weil Repräsentation Bedeutung hat und schafft. Weil Entstigmatisierung wichtig ist. Formate wie The L Word oder kürzlich erst Princess Charming haben gezeigt, wie wichtig es auch heute noch ist, immer wieder zu betonen, dass lesbische Liebe real und etwas anderes als enge Freundschaft ist, dass nicht alle Lesben aussehen, wie Onkel Ralf sich Lesben vorstellt, dass Frauen romantische Gefühle und sexuelles Begehren empfinden, auch zueinander, und dass es okay ist, das auch ganz explizit so zu benennen. Jetzt muss das wohl nur noch im deutschen Literaturbetrieb ankommen.


[1] Byrne Fone argumentiert weiterführend, dass die „friendship tradition“ den Ausdruck leidenschaftlicher, gleichgeschlechtlicher Gefühle überhaupt erst ermöglicht. (Vgl. Homophobia. A History. Metropolitan Books, 2000. 333.)

[2] Vgl. Kirsten Plötz: „Weitgehend ignoriert. Lesbisches Leben in der frühen Bundesrepublik“. In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Hg. von Gabriele Dennert et al. Querverlag, 2007. 29.

[3] Vgl. Ulrike Hänsch: Individuelle Freiheiten – heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. Leske + Budrich, 2003. 59.

Beitragsbild von kyo azuma

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