Weiterleben müssen – Einige Gedanken über vier zuversichtliche Bücher

von Matthias Warkus

Texte, die damit beginnen, ihre eigene Geschichte zu erzählen, sind oft öde und anstrengend. Es ist nicht ohne Grund ein Klischee, dass schlechte Vorträge bei Poetry-Slams oder offenen Lesungen oft damit anfangen (oder sich gar darin erschöpfen), dass jemand vom Anruf mit der Aufforderung, etwas zum Thema des Abends zu schreiben, erzählt. Daher habe ich erhebliche Skrupel, diesen Text so einzuleiten, aber nachdem ich nun  fast drei Jahre lang daran gescheitert bin, es irgendwie anders zu machen, fange ich tatsächlich mit seiner Entstehung an.

Cover »Guten Morgen, Abendland«Eigentlich sollte es also Sommer 2018 mit einer Rezension von Bernd Ulrich, Guten Morgen, Abendland (Kiepenheuer & Witsch, 304 S.) losgehen. Das Buch war damals bereits ein Jahr alt und bekanntlich sind politische Journalistensachbücher vom vergangenen Jahr das einzige, was noch älter ist als die Zeitung von gestern. Meine anfängliche Motivation, das Buch trotzdem rezensieren zu wollen, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren, aber sie muss damit zu tun gehabt haben, dass ich einen aufschlussreichen und unterhaltsamen Verriss witterte.

Immerhin handelt es sich um ein Buch, das zwar von jemandem kommt, der sich selbst mit Verve als Teil einer linksliberalen, grünennahen Elite beschreibt, aber doch immer wieder unreflektiert Vokabular (Deutschland als »übermoralisierte[] Gesellschaft«, 215; »Chauvinismus der guten Menschen«, 248) und Denkfiguren (der »Vergiftungsgrad« ›islamischer‹ Communities als umgekehrtes Maß ihrer ›Integrationsfähigkeit‹, 48) eines von Rechten geprägten politischen Diskurses übernimmt. Geradezu realsatirisch war auch, dass Ulrich ein Sachbuch mit einem szenischen Einstieg beginnen lässt, bei dem er, Journalist im besten OK-Boomer-Alter, mit seiner 23 Jahre jüngeren Partnerin einen Poetry-Slam in den USA besucht (vgl. 20 ff.; das Buch ist übrigens seinen drei Kindern aus erster Ehe gewidmet, 5).

Es schien also vielversprechend. Der Entwurf zum Verriss blieb dann allerdings aus privaten Gründen länger unfertig liegen. Drei Jahre später ist es endgültig sinnlos geworden, Ulrichs Buch noch detailliert zu besprechen, das sich in weiten Teilen mit Donald Trump in seinem ersten Regierungsjahr beschäftigt und fertiggestellt wurde, als man noch Angst vor Steve Bannon hatte. Man kann aber aus ihm einen wichtigen Grundgedanken mitnehmen: »Die Ansprüche der Menschen steigen schneller als alles, was die Politik ihnen bieten kann« (27; er paraphrasiert damit ein kurz darauf folgendes Zitat von Barack Obama). Wenn man so will, ist alles, was danach kam und sich in diesem Text niedergeschlagen hat, der Versuch einer Auseinandersetzung mit diesem Gedanken, und dafür bin ich Ulrich dann doch dankbar.

Cover »Warum es uns noch nie so gut ging«Das nächste einschlägige Buch war im Oktober 2018 Martin Schröder, Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem ständig von Krisen reden (Benevento, 228 S.)*. Schröder ist empirisch arbeitender Soziologe mit einem Gespür für relevante Themen im aktuellen medial-politischen Diskurs; er hat u.a. mit Arbeiten zu Berufungschancen von Frauen im deutschen Hochschulsystem (nach seinen Erkenntnissen deutlich besser als die gleichqualifizierter Männer), zur Wahlmotivation von AfD-Wählern (nicht ökonomisch erklärbar, sondern rein durch Ablehnung von Zuwanderung) und zu Generationenunterschieden (nicht messbar – »Generationen gibt es nicht«) für einiges Aufsehen gesorgt.

Sein Buch mit dem selbsterklärenden Titel stellt eine gut lesbare und weitgehend unpolemisch geschriebene Zusammenfassung von Befunden zum Wohlergehen der Menschheit als Ganzes dar; gewissermaßen ein schmaleres und unaufgeregteres deutschsprachiges Pendant zu Steven Pinkers ebenfalls 2018 erschienenem Enlightenment Now. Schröder beschreibt relativ bekannte Sachverhalte, z.B., dass Terrorismus hierzulande ein im Vergleich zum Straßenverkehr völlig vernachlässigbares Risiko darstellt (vgl. 72–76) oder dass Kriminalität und Kriegsgewalt auf einem welthistorischen Tiefstand sind (vgl. 76–80 u. 145–155). Er bespricht aber auch überraschendere Befunde – zum Beispiel, dass das Sozialkapital in der deutschen Gesellschaft, soweit es empirisch messbar ist, keineswegs abnimmt und von grassierender Vereinsamung oder Erschöpfung durch entgrenzte und verdichtete Arbeit zumindest objektiv nicht die Rede sein kann (vgl. 90–100). Endgültig quer zu verbreiteten Überzeugungen liegt die Feststellung, dass sich nicht nachweisen lässt, dass der Wohlstand der Industrieländer auf Kosten des Rests der Welt geht (vgl. 105–134).

Ich hatte sofort die Idee, Schröders und Ulrichs Buch zusammen zu rezensieren, denn der oben erwähnte Gedanke von Bernd Ulrich erklärt auch für Schröder, warum wir eben »trotzdem ständig von Krisen reden«, obwohl es der Menschheit nach nahezu allen Aspekten, die sich quantifizieren lassen, so gut gehen soll wie noch nie. Auch für Schröder zeigt die allseitige Wahrnehmung von Chaos, Verfall, Inkompetenz und drohendem Zusammenbruch, dass nicht etwa die objektiv erbrachten Leistungen der verschiedenen gesellschaftlichen Systeme zurückgingen, sondern diese im Gegenteil weiter stiegen, die Ansprüche an die Leistungen jedoch eben noch schneller.

Schröder drückt es in Bezug auf Luftverschmutzung so aus: »Nicht die Luft wird also schlechter, aber unsere Ansprüche an gesunde Luft steigen schneller, als die Luft sauberer werden kann« (69). Dass es gerade in den sozialen Medien völlig akzeptiert ist, staatliche Leistungssysteme, in denen das Volumen der Ausgaben seit Jahrzehnten wesentlich stärker steigt als die Inflation (z.B. die Jugendhilfe oder auch das Gesundheitssystem) als »kaputtgespart« zu bezeichnen, wäre dann einfach eine Ausprägung eines allgemeineren Phänomens. Es besteht sicherlich auch ein Zusammenhang mit dem, was Odo Marquard die »zunehmende Penetranz der negativen Reste« genannt hat: Kriminalität wird beispielsweise umso bemerkenswerter und auffälliger, je seltener sie im Alltag wird, weswegen in einer Gesellschaft mit historisch niedriger Kriminalität – wie unserer eigenen – diese medial nicht etwa besonders wenig thematisiert wird, sondern gerade besonders stark.

Man könnte sich nun also darauf fokussieren, an solchen Trends zu diskutieren, was schwerer wiegen sollte: die Entwicklung in die grob richtige Richtung oder aber die (ja auch berechtigte) Entwicklung unserer Ansprüche. Man könnte auch schlicht nach Differenzierung verlangen, selbst wenn dies in einer Gesellschaft schwierig wird, die medial notorisch unfähig ist, bei positiven Trends, sofern sie überhaupt wahrgenommen werden, zwischen »das läuft eigentlich in die richtige Richtung« und »alles in Butter, der Rest geht von selbst« zu unterscheiden. Die gegenwärtigen Verhältnisse legen einem aber, wenn man sich dies vornimmt, zwei Steine in den Weg.

Einer davon ist die aktuell stattfindende Verwüstung der Erde als Biotop, vor allem, aber nicht nur durch die menschengemachte Klimaveränderung. Ein kursorischer Blick auf die Szenarien, mit denen die Klimaforschung unsere Zukunft zu erfassen versucht, kann schnell den Eindruck entstehen lassen, dass all der historische Fortschritt bei den Lebensbedingungen der Menschheit, selbst wenn man den Befund Schröders ansonsten vollständig akzeptiert, vergleichbar mit Reparaturen, Renovierungen und Dekorationsarbeiten in einem Haus mit morscher Kellerdecke ist: Ganz gleich, um wie viel besser es den Bewohnern mit jedem Jahr möglicherweise geht, ihre Existenz und alle ihre Errungenschaften sind dennoch ständig durch die kommende Katastrophe bedroht, solange das Hauptproblem nicht angegangen wird.

Schröder spricht das Insektensterben und andere Rückgänge von Biodiversität nur sehr kurz und ohne eindeutige Einordnung an (vgl. 71f. u. 137–139); er konstatiert: »Niemand weiß wirklich, ob die Abnahme von Biodiversität ein Problem ist« (138). (Das ist eine Nischenmeinung, aber eine argumentierbare.) Die Klimakatastrophe handelt er weniger kursorisch ab, bleibt aber weitgehend optimistisch: »Die verfügbaren Daten legen vielmehr nahe, den Klimawandel als nächstes einer ganzen Reihe von Problemen anzusehen, die die Menschheit bisher doch recht zufriedenstellend gelöst hat« (144). Das klingt, wenn man bösartig sein möchte, doch sehr nach der berühmten Weihnachtsgans, die Mitte Dezember feststellt, dass in ihrem bisherigen Leben alles glatt gelaufen ist. Die vorsichtig deeskalierende Bewertung der Klimaproblematik bei Schröder steht zudem unter der Kautele, dass es die Menschheit tatsächlich schaffen wird, den Ausstoß von Klimagasen schnell und nachhaltig zu verteuern und dadurch starke Anreize zu ihrer Vermeidung zu setzen – eine Strategie, die seit Jahrzehnten die Klimapolitik beherrscht und bisher keine Effekte gezeitigt hat.

Ich möchte an dieser Stelle darauf verzichten, näher auf das in den letzten Jahren etablierte Genre von Essays und Monographien zum philosophischen und psychologischen Umgang mit dem Faktum einer ultimativen ökologischen Katastrophe einzugehen. Einige Denkfiguren daraus wie »Eco-Anxiety« oder »Trauern um den Planeten« haben bereits mehr oder minder popkulturellen Status erlangt; ich habe selbst große Schwierigkeiten, mich von meiner eigenen emotionalen Verstrickung in diese Überlegungen freizumachen. Mir scheint es in jedem Falle wichtig, näher auf einen viele Kommentare (und auch weite Teile verschiedener klimaschutzaktivistischer Bewegungen) leitenden Gedanken einzugehen, nämlich den eines Zusammenhangs von Kapitalismus, Klimakatastrophe und individuellem psychischem Leid.

Vielen ist es einerseits längst ein Gemeinplatz, dass sich das aktuelle Klimaproblem nicht lösen lasse, ohne den Kapitalismus zu beseitigen.** (Dabei verstehe ich unter »das aktuelle Klimaproblem« den seit Jahrzehnten bestehenden Widerspruch, dass immer neue politische Initiativen, Verpflichtungen und Beschlüsse zur Reduktion des Klimagasausstoßes einer stetigen und ungebremsten Zunahme dieses Ausstoßes gegenüberstehen.) Wenn man allerdings mit Schröder anerkennt, dass sich das Wohlbefinden der Menschheit als Ganzes (modulo Klima) in einer seit spätestens 1991 vom Kapitalismus dominierten Weltgesellschaft nicht nur nicht verschlechtert, sondern sogar stark verbessert hat, spricht dies andererseits natürlich gegen eine Abschaffung des Kapitalismus.

Verlangt man von sich oder anderen nun eine klare und kompromisslose Stellungnahme pro oder contra Abschaffung des Kapitalismus, muss dieser Widerspruch aufgelöst werden. Eine gängige Strategie hierzu – mit durchaus langer Tradition – ist es, dabei den Wert der materiellen, quantifizierbaren Verbesserungen der Conditio humana in Frage zu stellen, da diese zugleich mit nicht (oder zumindest schwerer) quantifizierbaren Verschlechterungen einhergingen.

Das wäre dann auch der zweite Stolperstein: die Frage, ob denn all der messbare Fortschritt die Menschen wirklich glücklicher gemacht hat und noch macht. (Schröder würde dazu übrigens klar sagen: ja, und zwar sowohl in Deutschland als auch weltweit – zumindest, soweit wir das wiederum messen können, vgl. 100–103 sowie 175–180.) Wenn die Menschheit ohnehin kapitalismusbedingt auf dem Weg in eine Zukunft ist, die eine subjektive Hölle für jeden Einzelnen bedeutet, dann wäre die objektive irdische Hölle, die der Klimazusammenbruch bedeuten mag, das perfekte Pendant – innere und äußere Verwüstung bildeten zusammen ein starkes Zeichen für die Hinfälligkeit des Ganzen, und einen radikalen, umfassenden und sofortigen Bruch zu fordern wäre nicht nur plausibel, sondern geradezu zwingend.

Cover »Macht der Kapitalismus depressiv?«Zentrum der Diskussion ist dabei häufig ein Zusammenhang, der im Titel eines weiteren Buchs, auf das ich dann im Frühjahr 2019 stieß, plakativ auf den Punkt kommt: Martin Dornes, Macht der Kapitalismus depressiv? (Fischer, April 2016, 160 S.). Die Frage scheint, wenn man sich den journalistischen (aber auch sozialwissenschaftlichen) Output der letzten Jahre zum Thema anschaut, längst beantwortet. Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, dass die politisch-ökonomischen und auch medialen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit die Arbeitnehmer*innen, aber zum Beispiel auch bereits Schüler*innen in den westlichen Industriestaaten reihenweise in die Depression oder andere seelische Störungen trieben, ebenso wie die sozialen Medien die junge Generation in den Narzissmus.

Überraschenderweise beantwortet Dornes die Titelfrage allerdings mit einem kräftigen Nein: »Summa summarum kann man festhalten, dass weder epidemiologische Studien noch die anderen genannten Indikatoren (Suizid, Alkoholkonsum, Lebenszufriedenheit) für eine Zunahme psychischer Störungen oder sozialer Desintegration in den letzten 40 Jahren sprechen« (31). Dies ist umso schlagender, da Dornes’ Schrift zwar durch übersichtliche Länge, aber auch große wissenschaftliche Differenziertheit (und anspruchsvolle Sprache) gekennzeichnet ist. Er schreibt kein Pamphlet, sondern beansprucht, die Frage durch Rückgriff auf den aktuellen Stand der (v.a. auch klinischen) psychologischen Forschung zu beantworten.

Dabei ergibt sich in verschiedenen Punkten ein Fazit, das wieder an die Erklärung von Ulrich, Schröder und Marquard erinnert: Die Phänomene haben sich nicht vermehrt, nur die Methoden zu ihrer Sichtbarmachung bzw. Diagnose und (im Falle seelischer Störungen) ihrer Therapie haben sie salienter gemacht (vgl. 32–42). Auch Dornes spricht in seinem Fazit von einer »gesunkene[n] Bereitschaft, sich mit existierenden Unvollkommenheiten abzufinden« (129). Damit möchte er ausdrücklich nicht behaupten, dass es nicht auch in bestimmten Feldern eine Zunahme seelischer Probleme gibt; er konstatiert sogar ausdrücklich, dass neue Formen von »Leiden an der Arbeit« (123) aufgetreten sind. Auch behauptet er nicht, dass es keinen Grund gäbe, den Kapitalismus zu kritisieren. Eine »Depressionsepidemie« oder Ähnliches sei aber nicht der Grund, warum man dies tun sollte.

Das Muster, das ich beschrieben habe, und das bei allen besprochenen Autoren angesprochen wird, scheint mir über das Gebiet psychischer Störungen hinaus eines zu sein, das unser gesamtes Verhältnis zu unserer Lebenswelt charakterisiert. Dieses Verhältnis ist ein in allen Teilen medial und wissenschaftlich-technisch vermitteltes. Daher stellt sich bei jeder wahrgenommenen Veränderung eines Phänomens die Frage: Hat das Phänomen selbst sich verändert? Oder lediglich die Charakteristik eines oder mehrerer der Glieder der zwischen uns als einzelnem urteilenden Subjekt und dem Phänomen gespannten Vermittlungskette?

In manchen Fällen ist dies leicht zu entscheiden: Dass beispielsweise über den Brand in einer Remscheider Zoohandlung am 5.1.2020, der sonst höchstens eine lokale Zeitungsmeldung wert gewesen wäre, deutschlandweit berichtet wurde, ist eindeutig dadurch erklärbar, dass das Motiv »brennende Tiere« durch die Buschfeuerkatastrophe in Australien und den Brand im Krefelder Zoo wenige Tage zuvor mediale Aufmerksamkeit bekommen hatte. Die Tendenz des Mediensystems, insbesondere im sozialmedialen Zeitalter, durch selektive Berichterstattung spektakuläre Meldungen stets als Teil einer Welle erscheinen zu lassen, ist einfach zu durchschauen.

Am anderen Ende des Komplexitätsspektrums stehen Befunde wie der Dornes’ zu Kapitalismus und Depression. Ganze epochenprägende politische Topoi wie »Sozialabbau«, »Altersarmut«, »Ausländerkriminalität« haben eine Doppelstruktur: Durch eine Systemveränderung (wie z.B. die Einführung der Grundsicherung im deutschen Rentensystem), den Neuzuschnitt einer Statistik oder ein einschneidendes Nachrichtenereignis, das Aufmerksamkeit auf ein Thema lenkt, werden Phänomene einerseits sichtbarer gemacht. Aber andererseits ändern sich auch tatsächlich Befunde, soweit es irgendwie möglich ist, das Phänomen quantifizierend zu betrachten. So ist es möglich, jede wahrgenommene Änderung zumindest oberflächlich plausibel in beliebige Richtungen zu interpretieren. (Ein Beispiel ist, wenn man dem Politikwissenschaftler Floris Biskamp folgt, der »Rechtsruck« in Deutschland seit 2014: Dieser wäre dann kein Phänomen neu aufgekommener Einstellungen, sondern lediglich eines verstärkter Transmission bestehender Einstellungen ins politische System – ermöglicht durch das Aufkommen der AfD – und, damit einhergehend, einer verstärkten Wahrnehmung des ohnehin Stattfindenden.)

Hinzu kommt, dass im Anschluss an die Kritische Theorie ein einflussreicher gesellschaftstheoretischer Denkstil existiert, der zumindest in seiner klischeehaften, tradierten Form*** die Kritik daran, sich überhaupt am Quantifizierbaren zu orientieren, mit einem zutiefst pessimistischen Blick auf die Gegenwart und Zukunft der westlichen Industriegesellschaften verbindet. Hier und da wurde Dornes beispielsweise sofort unter Ideologieverdacht gestellt, weil er mit Zahlen aus der klinischen Psychologie in einer Weise operiert, die zumindest die Folgerung zulässt, dass es positive Entwicklungen beim gegenwärtigen seelischen Befinden der deutschen Bevölkerung gebe. Der Umkehrschluss, dass jede pessimistische Betrachtung, ohne sich an Zahlen messen lassen zu müssen, erst einmal ernst zu nehmen sei, wirkt für mich (der ich zugegebenermaßen auch halber Laie im Geschäft der Ideologiekritik bin) nicht zwangsläufig weniger ideologisch. (Aufschlussreich ist hier übrigens der Zusammenprall von Dornes und Hartmut Rosa in einem bereits einige Jahre alten FAZ-Streitgespräch.)

Cover »Was genau war früher besser?«Während ich nun also monatelang darüber brütete, was ich mit Ulrich, Schröder und Dornes anstellen sollte, kam relativ zufällig noch ein weiteres Buch dazu. Sehr optimistisch (und sehr undeutsch) ist das dünne Bändchen des französischen Philosophen Michel Serres, Was genau war früher besser? (Suhrkamp, 80 S.), das im März 2019, zwei Jahre nach dem Erscheinen des Originals**** (und weniger als drei Monate vor dem Tod des Verfassers) auf Deutsch erschienen ist. Serres erzählt in seinem Buch von sehr Bekanntem wie dem langen europäischen Nachkriegsfrieden, der gestiegenen Lebenserwartung oder der postheroischen »Entschärfung« der jungen Generation, in der es rar geworden ist, noch einen Teenager zu finden, der darauf brennt, in den Krieg zu ziehen; aber auch von sehr Persönlichem wie einem abenteuerlichen, anarchischen Krantransport im Jahre 1953.

Man kann diesen »optimischen Wutanfall« (so der Untertitel) als heitere Bilanz eines fast 90-jährigen lesen, aber auch tatsächlich als Wutanfall: als ein einziges Anschnauzen der »Meckergreise« (7 u. passim), die doch bitte zur Kenntnis nehmen sollten, in welcher Welt sie wirklich leben, bevor sie sich ins Frankreich der 1950er-Jahre zurückwünschen, dieses untergegangene Land aus schneidendem Körpergeruch (45), madigen Lebensmitteln (52f.), Geschlechtskrankheiten und häuslicher Gewalt (61). Das Buch ist im Kontext der bereits besprochenen meines Erachtens vor allem deswegen lesenswert, weil es eben so optimistisch ist, obwohl es gegen jede Quantifizierung geschrieben, zutiefst anekdotisch, subjektiv und autobiographisch ist. Ein solcher Text von jemandem, den man mit Recht als kritischen Intellektuellen bezeichnen kann und der auch des Konservatismus unverdächtig ist, ist schlicht eine Rarität, und allein deswegen sollte man ihn gelesen haben.

*

Das war es also. Drei Jahre, vier Bücher, brennende Wälder, glühende Sommer und der Versuch, irgendwie aus alledem schlau zu werden. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn auch ich am Ende dieses Textes noch etwas persönlicher werde. Ich habe in den letzten Jahren versucht, mit meiner eigenen Verzweiflung angesichts der sich um uns herum vollziehenden Klimakatastrophe unter anderem dadurch klarzukommen, dass ich die auf mich einprasselnden Hiobsbotschaften und meine eigenen Reaktionen darauf in die sozialen Netzwerke gejagt habe. Mir wurde deswegen »Hysterie« vorgeworfen oder »die Apokalypse herbeibeten zu wollen«; andere machten sich ernsthaft Sorgen um meine seelische Gesundheit. Daher weiß ich, dass ich mir den Satz »Es ist eine Qual, weiterzuleben« nicht unkommentiert erlauben kann, weil sonst der*die eine oder andere Angst bekommen könnte, ich wollte mir tatsächlich etwas antun.

Aber ich muss es dennoch sagen. Es ist eine Qual, weiterzuleben. Nicht in dem Sinne, dass ich Leben für schlimmer als Nichtleben hielte, sondern in dem Sinne, in dem es beispielsweise eine Qual ist, eine lange Autofahrt zu einer auf dem Sterbebett liegenden Angehörigen hinter sich bringen zu müssen und dabei nicht zu wissen, ob man sie am Ende der Reise noch lebend antreffen wird. Das Qualvolle ist gerade, dass nicht sicher ist, ob und in welchem Zustand die Menschheit das Fegefeuer, durch das sie derzeit geht, wieder verlassen wird beziehungsweise welche Interventionen (selbst wenn sie nicht verwirklichbar sein sollten) dazu gegebenenfalls notwendig sind oder wären.

Was das Ergebnis und womöglich der Sinn einer geschichtlichen Epoche ist, kann man auch in diesem Fall erst wissen, wenn man sie durchlebt hat, so sehr man sich bereits jetzt Klarheit wünscht. (Schröders Position ist übrigens ziemlich eindeutig, auch wenn er nirgendwo ein politisches Programm formuliert: Er fordert, um der Menschheit eine auch weiterhin glänzende Zukunft zu sichern, eine sozialdemokratisch-grüne Politik mit höheren Steuern auf Spitzeneinkommen und CO2-Ausstoß sowie eine aufklärerische Bildungs- und Medienpolitik.)

Bekannte, die dabei waren, haben mir versichert, dass die Qual des Durchlebenmüssens der aktuellen Klimasituation vergleichbar ist mit jener des Durchlebenmüssens einer Hochphase des Kalten Krieges oder der verschiedenen ökologischen Panikphasen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich bin zu spät geboren, um selbst etwas dazu sagen zu können. Die Last, mit der dieses Durchlebenmüssen auf mir und uns ruht, scheint mir jedoch so groß, dass mir der Gedanke absurd vorkommt, es könnte schon einmal jemandem ähnlich gegangen sein. Dafür spricht die über das geschätzte Ende meines eigenen Lebens (ca. 2074) weit hinausgehende Dauer der Epoche, die zu durchleben ist, um Klarheit zu erlangen, gepaart mit der bereits jetzt schmerzhaften Konkretheit der Bedrohung angesichts von offensichtlich klimabedingten Großschadensereignissen wie einander jagenden Brandkatastrophen kontinentalen Ausmaßes oder den zehntausendfach mörderischen europäischen Hitzesommern.

Aber auch das kann ich nicht wissen. Die schiere Masse des Weiterlebenmüssens neben der absurden Wahrscheinlichkeit eines Endes der menschlichen Zivilisation zu Lebzeiten meiner hypothetischen Enkelkinder verzerrt meine Weltwahrnehmung wie ein schwarzes Loch, während ich gleichzeitig meine alltäglichen Lebensvollzüge unbekümmert fortsetze, koche, esse, arbeite, Tee trinke, Rechnungen schreibe, Versicherungen vergleiche und Geld fürs Alter zurücklege, als wäre alles in Ordnung. Die Versuchung, die Unsicherheit dadurch zu reduzieren, dass man davon ausgeht, dass es schiefgehen wird beziehungsweise die einzige Lösung in völlig unrealistischen historischen Brüchen bestünde (wie z.B. der globalen und vergleichsweise instantanen Einführung eines Sozialismus, der auf ökologischem Gebiet völlig anders funktionieren müsste als die gewesenen realsozialistischen Versuche), ist groß: denn es ist immer noch weniger qualvoll, zu wissen, dass das Ende ein böses sein wird, als das Ende gar nicht zu kennen.

Dies erklärt zumindest für mich, warum die beiden Extrempositionen so attraktiv sind. Auf der einen Seite ist da die Idee, dass die Klimakatastrophe nur die Zuspitzung einer Zusammenbruchstendenz von überhaupt allem darstellt, auch und gerade im Inneren unserer Seelen, dass es also eine zwangsläufige Verbindung zwischen einer »Depressionsepidemie« und dem Kohlendioxidspiegel gibt. Ebenso wird umgekehrt die Vorstellung, dass eigentlich alles in bester Ordnung sei und man sich bloß nicht allzu sehr aufregen solle, dadurch attraktiv, dass sie so stark mit Merkmalen seelischer Gesundheit assoziiert wird – zugespitzt könnte man sagen: Man ist nicht Klimaoptimist, weil man allgemein optimistisch wäre oder gar gute Gründe für Optimismus sähe, sondern man ist Klimaoptimist, um Abwesenheit von »Hysterie«, gute Laune und gelassenes Urteilsvermögen zu demonstrieren.

Die Auseinandersetzung mit der Frage, ob wirklich alles schlechter wird oder im Gegenteil die drohende Apokalypse eine Menschheit heimsucht, die in vielen, wenn nicht den meisten Lebensbereichen auf einem guten Weg ist, ist für mich tatsächlich auch eine Auseinandersetzung mit meinem eigenen Restleben, eine Entscheidung darüber, welche Farbe ich dem eigenen Weiterlebenmüssen verleihe. Ich weiß nicht, wie es anderen geht. Ich kann noch nicht einmal klar sagen, welche Option ich eigentlich schlimmer fände, den Verlust von etwas Rettbarem oder das vorgezeichnete Ende von etwas völlig Verderbtem. Aber nach heutigem Stand scheint mir: Die Qual wird nicht von mir genommen. Es ist vieles, wenn nicht alles offen. Die Menschheit lebt in keiner irdischen Hölle, sie steuert auch auf kein irdisches Paradies zu, alles um mich und in mir bleibt zutiefst weltlich, und niemand nimmt es mir ab, zu fiebern und zu hoffen.

Dieser Text war bereits vor der Pandemie inhaltlich abgeschlossen und ich habe entschieden, ihm bei der letzten Überarbeitung nicht noch ein weiteres Thema aufzubürden. Für wertvolle Anregungen und Kritik danke ich neben dem 54books-Team Dr. Maren Behrensen, Münster, Dr. Christoph Koch, Hamburg, Dr. Hanno Sauer, Utrecht, und Dr. Dietrich Schotte, Leipzig.

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*Offenlegung: Ich habe 2014/2015 zusammen mit Martin Schröder an einem Weiterbildungsprogramm für Wissenschaftskommunikation teilgenommen, aber nur wenige Worte mit ihm gewechselt.

**Ich bin mir alles andere als sicher, dass eine Abschaffung des Kapitalismus das Klimaproblem lösen wird, u.a., da der Realsozialismus bewiesen hat, eine Spreizung zwischen Absichtserklärungen und tatsächlicher Umweltzerstörung aufrechterhalten zu können, die noch weit über das hinausging, was die kapitalistischen Industrieländer in dieser Hinsicht leisteten und leisten. Dabei bin ich mir bewusst, dass alle, die heutzutage ernsthaft die Abschaffung des Kapitalismus propagieren, die Überzeugung mitführen, es müsse und werde diesmal selbstverständlich ganz anders laufen.

Umschlag »Das Rätsel Sigma«Ein interessanter Lesetipp zum Thema: In Karl-Heinz Tuschels Science-Fiction-Roman Das Rätsel Sigma (Neues Leben, 1974 u.ö., 239 S.) sind in einer ins Jahr 1996 projizierten DDR von der Abschaffung des Verbrennungsmotors in den Innenstädten bis hin zum vollständigen Kunststoffrecycling alle ökologischen Probleme, die uns in der BRD 2021 beschäftigen, zumindest im Grundzug gelöst.

***Nur zur Sicherheit sei angemerkt, dass nur die allerwenigsten, wenn überhaupt irgendwelche aktuell im Anschluss an die Kritische Theorie tätigen seriösen Wissenschaftler*innen dem Zerrbild des im »Grandhotel Abgrund« eingerichteten, nichts als ewig das Schlimmste befürchtenden »Adorniten« genügen – im Gegenteil kommen von ihnen häufig sogar aufgrund ihrer Differenziertheit überraschend wenig düstere Beschreibungen der Verhältnisse, gerade wenn man sie mit den unablässig geäußerten polemischen Untergangsfantasien aus z.B. der wirtschaftsliberalen Ecke vergleicht.

****Das Original heißt interessanterweise « C’était mieux avant », also »Vorher war es besser«.

Photo by Steven Weeks on Unsplash

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