
Dies ist nicht nur das Beispiel für ein besonders gelungenes Gedicht, sondern auch eine interessante Anekdote im Nachgang meiner Überlegungen zu Übersetzungen (Teil 1 und Teil 2). Wandrers Nachtlied ist wohl eines der berühmtesten Gedichte Johann Wolfgang Goethes, das von ihm auf die Wände der inzwischen als Goethehäuschens bekannten Bretterbude geschrieben wurde. Das Original ist inzwischen nicht mehr vorhanden, da die Hütte 1870 abbrannte, nur ein Faksimile im Häuschen erinnert an das Grafitto des Dichterfürsten.
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Will man die Schönheit eines deutschen Gedichtes auch mit Nicht-Deutsch-Sprechenden teilen, übersetzt man; so zum Beispiel ins Japanische. Entdeckt nun ein Franzose mit Vorliebe für japanische Lyrik dieses, vermeintlich japanische, Gedicht, mag er es vielleicht seinerseits ins Französische übersetzen und am Ende der Spirale steht wieder eine Übersetzung ins Deutsche. Oh Wunder was bei einem solchen Stille-Post-Spiel herauskommt:
Stille ist im
Pavillon aus Jade.
Krähen fliegen
Stumm zu beschneiten Kirschbäumen im Mondlicht.
Ich sitze
Und weine.
In diesem Sinne mag man, mag ich, Sinn und Unsinn von Übersetzungen erneut überdenken und noch einmal das wunderschöne Original lesen.
Oder hören:
Wenn man nun aber kein Japanisch oder Deutsch kann? Soll einem dann das alles verschlossen bleiben? Und was ist mit Homer – nur noch für die schrumpfende Zahl derjenigen, die Altgriechisch lesen können? Ich glaube schon, daß es Übersetzungen braucht.
Im Thomas-Mann-Handbuch habe ich erst gestern wieder gelesen, daß er nicht nur die von ihm stark rezipierte russische Literatur, sondern auch sehr viel Englisches und Französisches in Übertragungen las.
Zum Nachtlied, das im Kommentar meiner Goethe-Ausgabe immerhin eine ganze Seite zugestanden bekommt, auch ein dort gefundener Literaturhinweis:
Wulf Segebrecht, Johann Wolfgang Goethes Gedicht ‚Über allen Gipfeln ist Ruh‘ und seine Folgen. Zum Gebrauchswert klassischer Lyrik, München/Wien 1978.
Natürlich lese ich weiter Übersetzungen, allein schon weil ich außer Deutsch nur Englisch lesen kann, was würde sonst aus meinem Flaubert?! Andererseits lädt doch eine solche Übersetzungspanne zum Schmunzeln ein.
„Zum Gebrauchswert klassischer Lyrik“ klingt sehr gut – vielleicht könnte man das mal an einem Sonntag …
Sehr putzig das Ganze auch in Kehlmanns „Vermessung“, kennst du das?
Oh weh, das ist zu lange her, klär mich auf.
Oh, mein Aufklärungskommentar ist anscheinend nicht angekommen, das ist ja schade. Dann noch mal: In der Vermessung der Welt versucht Humboldt das Gedicht ins Spanische zu übersetzen, dargebracht wird das Ganze natürlich wieder in indirekter Rede und das klint so:
„Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt“