Von Twitter zu Mastodon – Gedanken über Medienaneignungen

von Robert Heinze

Twitter ist ein schnelllebiges Medium. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass man dort die fünf Phasen der Trauer angesichts der Übernahme der Plattform durch Elon Musk innerhalb von sieben Tagen durchlief, teilweise gleichzeitig. Gut, die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens dauerte eigentlich schon an, seit der Kauf von Twitter  im April das erste Mal angekündigt worden war. Im Frühjahr war es nur eine kleine gallische Vorhut, die sich vorsichtig in Richtung Mastodon bewegte. Nachdem „Apartheid Clyde“ (Azealia Banks über Musk) mit einem Waschbecken ins Twitter-Hauptquartier (als Spiel mit dem Pun „Let that sink in“) gelatscht war, wurde die Flucht von der Plattform zu einer Welle, die die Server vieler größerer Mastodon-Instanzen überlastete, ebenso wie ihre Administrator*innen. Eugen Rochko, Entwickler der Software, die Mastodon zugrunde liegt, und Administrator der größten Instanz mastodon.social, berichtete in seinem letzten Update von gut einer Million aktiver Nutzer*innen insgesamt im letzten Monat, einer halben Million neuer Nutzer*innen und dazu mehr als tausend neu aufgesetzten Servern.

Gleichzeitig entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit auf Twitter ein Metadiskurs, ob Mastodon wirklich eine Alternative zu Twitter sei, was daran gut (nicht vom Marsdiktator in spe kontrolliert), schlecht (von niemandem kontrolliert), ganz nett (Verhaltensregeln, Atmosphäre), unbrauchbar (Usability) sei. Diskutiert wird, ob man trotz Gewohnheit und der Follower*innen, die man zusammengetragen hat, wirklich die „Höllenseite“ (Twitter über Twitter) verlassen solle. Daneben gibt es Anleitungen, Bekundungen, dass man bloß nicht denken solle, Mastodon sei wie Twitter, freundliche Mahnungen, geduldig zu sein und etwas zu erkunden, und die üblichen Witze über den Cringe der neuen Plattform (Tweeten heißt beispielsweise auf Mastodon auf Englisch „Toot“, was im Alltag eher Furzen als Tröten bedeutet). 

Metadiskurse über Medien

Im Ernst: Als Medienhistoriker beobachtet man die Entwicklung gerade mit einer gewissen Faszination. Metadiskurse über Medien sind schließlich nichts Neues. Der Radiohistoriker Andy Kelleher Stuhl hat in einem Blogbeitrag auch schon eine historische Einordnung versucht. Der Metadiskurs reiht sich in eine lange Geschichte der Medienaneignung ein, die vor allem seit dem Aufkommen technologisch komplexerer Massenmedien nach Stuhls explorativem Modell in ziemlich ähnlicher Weise verläuft: Bei der Einführung eines neuen Mediums gibt es eine relativ offene Experimentierphase, in der noch unklar ist, welche soziotechnische Form es eigentlich annehmen wird. Diese stabilisiert sich irgendwann – ein Medium etabliert sich (z.B. als „Öffentlich-Rechtlicher Rundfunk“ oder als Internet mit Standards wie TCP/IP-Protokollen, HTML als Programmiersprache für Websites und Institutionen, die sie durchsetzen und pflegen); dann automatisieren sich Prozesse und werden kapitalistisch verwertbar. 

Diese kapitalistische Verwertung höhlt sie irgendwann aus und verflacht die sinnhafte Ausdifferenzierung einzelner Kanäle, die ein Identifikationsangebot an Nutzer*innen machten. Darauf reagieren Nutzer*innen, indem sie sie zunehmend verlassen. Mit Verbreitung der Technologien und der „Protokolle“ (also Regelwerke) ihrer Nutzung werden aber auch die Möglichkeiten kreativer und neu konfigurierter Aneignung mehr, und das geringer werdende Interesse kapitalistischer Betreiber lässt den Medien wieder mehr Platz für explorative, experimentelle Nutzung. Am Beispiel des Web 2.0 wäre die Blogkultur ein Phänomen der frühen Phase, als noch relativ offen war, wie sich das interaktive Web entwickeln würde; die sozialen Medien sind ihre kapitalistische Weiterentwicklung, die jetzt in eine Stagnationsphase eintritt. 

Die aktuelle Beliebtheit von Mastodon wäre in diesem Modell die Reaktion auf diese Stagnation – Twitter zum Beispiel hatte bereits vor der Übernahme durch Musk Probleme. Dieses Entwicklungsszenario ist ein grobes Schema, und Stuhl gibt in seinem Blogbeitrag selbst zu, dass der experimentelle Strang vor allem in technisch relativ unaufwändigen Medien wie Radio und Internet immer da war und ist. Mastodon gibt es ja auch schon seit 2016, und es hat eine stabile, wenn auch kleine User*innenbase.

Mastodon ist dabei insofern weiterentwickelt, als es sehr bewusst so konstruiert wurde, dass bestimmte Dynamiken von Facebook oder Twitter unterlaufen werden. In seinem dezentralen und organisch entstehenden Ethos gleicht Mastodon früheren Alternativmedien, zum Beispiel den Freien Radios, die mehr auf Selbstermächtigung der Nutzenden zielten als auf Reichweite. Diese Selbstermächtigung, das zeigt eine Anekdote von Raul Zelik, konnte sogar über ihr üblicherweise offen erklärtes Ziel hinausgehen, marginalisierten Stimmen eine Öffentlichkeit zu verschaffen.

Medienproduktion als Medienkompetenztraining

In einer Favela in Caracas, so beschrieb es Zelik in einem Sammelband zur bolivarianischen Bewegung Anfang der 2000er in Venezuela, hatte sich im Zuge der Bewegung ein selbstorganisiertes Community-Radio gegründet. Sein Sender war nicht sehr stark und deckte nicht einmal die ganze Favela ab. Trotzdem arbeiteten viele aus der Favela im Radio mit. Es ging gar nicht darum, dass die Community ihr eigenes Medium hatte. Vielmehr stellte sich ein ganz anderer Effekt ein: Die im Radio arbeitenden Freiwilligen, die zum ersten Mal auf der anderen Seite der Medienproduktion – nämlich der redaktionellen, journalistischen und produzierenden – standen, begannen ihren eigenen Medienkonsum bewusster zu reflektieren. 

Die Beschäftigung mit und das Erlernen von Techniken der Informationsverarbeitung und -präsentation hatte ihnen viel bewusster gemacht, wie sehr die Medien, die sie konsumierten, ihre Weltsicht prägten. Sie hatten selbst das medial vermittelte Bild der Favela als Ort von Elend, Gewalt und Kriminalität internalisiert. Es war weniger die Bereitstellung alternativer Inhalte über ein populäres Medium als die eigene Arbeit daran, die den Effekt des Community Radios ausmachte.

Das hier Geschilderte ist kein einfacher Vorgang. Ich habe selbst in meiner Arbeit für Freie Radios erfahren, dass es etwas ganz anderes ist, sich auf einer akademischen Ebene mit Medien (-geschichte, -theorie usw.) zu befassen als in der Praxis zu arbeiten. Aktuell sehe ich in den Diskussionen um die „Migration“ von Twitter auf Mastodon, wie kompliziert der Vorgang eigentlich ist. Viele Twitteruser*innen bilden sich einiges auf ihre Medienkompetenz ein, denn sie sind in großer Zahl in Medien, der Akademie oder ähnlichen Bereichen tätig. Twittererfahrung und die besonders abgeklärte Beherrschung algorithmischer Dynamiken sind wichtige Distinktionsmerkmale auf der Plattform. 

Ich nehme mich da auch selbst gar nicht aus und musste schon ein paar Mal erkennen (nicht auf so spektakulär-virale Art wie Andere), dass ich selbst bei allem Bewusstsein über die algorithmischen Dynamiken von Twitter zu deren Opfer wurde. Umso erstaunlicher ist es, gerade dabei zuzuschauen, wie sich Veteran*innen von Twitter mühsam auf eine Plattform einstellen, die Twitter gerade ähnlich genug ist, dass man sein Medienerlebnis und seine Communities von dort übertragen will, aber gerade anders genug, dass sich dabei Reibungseffekte ergeben.

Mastodon und Twitter

Dabei besteht der Fehler schon darin, zu denken, Mastodon sei wie Twitter, nur unkommerziell. Mastodon ist auch nicht einfach ein „besseres“ oder „anderes“ Twitter, das auf bestimmte Aspekte von Twitter verzichtet und offen für Selbstverwaltung ist. Die Architektur von Twitter ist zu einem nicht geringen Teil bestimmt durch seine Funktion. Auf der Plattform sollen letztendlich möglichst viele Daten und ein möglichst großes Publikum gesammelt und gehalten werden. Das Ziel ist die Plattform profitabel zu machen, auch wenn Twitter dieses Ziel noch nie erreicht hat. Fällt dieses Ziel weg, ist die Form nicht nötig: Es braucht dann keine Strategien, um Nutzer*innen möglichst lange auf der Seite zu halten und die Plattform muss nicht um einen zentralen Algorithmus als Sortierfunktion gebaut werden, der diese Strategien ermöglicht bzw. geradezu erzwingt. 

Quote-Tweets, der Fokus auf Metriken in Form von Retweets und Likes, die ständigen Benachrichtigungen, an die wir uns gewöhnt haben, waren nicht von Beginn an Teil von Twitter, sondern wurden erst im Verlauf seiner Entwicklung hinzugefügt. Sie förderten nicht Gespräche, sondern Verbreitung und das Selbstmanagement von Verbreitung. Die Vorteile von Twitter – die Möglichkeit eines breiten Echoraums auch für marginalisierte Anliegen, die Möglichkeiten zum Aufbau und zur Pflege von Communities, die gegenseitige Kommunikation und Hilfe, der anarchische Witz – sind trotz und gegen diese zentrale Dynamik entstanden. Natürlich ist das Ziel bei Mastodon ein anderes. Aber Mastodon tut mehr: Indem es darauf verzichtet, die Beiträge der Timelines, Followempfehlungen und Hashtags algorithmisch nach Popularität zu sortieren, und eine föderierte, moderierte Struktur verschiedener Ebenen an Interaktion konstruiert, ermöglicht es seinen User*innen (zwingt sie aber auch), stärker selbst zu überlegen, wie, mit wem und über welche Inhalte sie miteinander interagieren wollen.

Open Source Traditionen

Mastodon reiht sich damit in eine Tradition des offenen, dezentralisierten Internets ein. Es wird oft (wegen der Art, wie Server miteinander kommunizieren) mit E-Mail verglichen, aber eigentlich kommt es eherden Blogs näher – zumal durch die höhere Zeichenanzahl der ursprünglich mal für Twitter gebrauchte Begriff „microblogging“ viel passender erscheint. Vor allem aber bringt mich Mastodon wie das kleine Radio in Caracas dazu, viel bewusster über meinen Gebrauch und Konsum von und mein eigenes Verhalten auf Twitter nachzudenken. Ich überlege genauer, wem ich folge und warum, in welche „Bubbles“ ich mich begebe, wenn ich mich auf bestimmten Instanzen anmelde. Selbst meine Kommunikation in den DMs ist eine ganz andere, weil ich mir viel bewusster darüber bin und es auf Mastodon auch klarer ausgesprochen wird, dass diese Gespräche nicht privat sind.

Das bedeutet auch: Arbeit. Wir müssen jetzt selbst miteinander absprechen, wie wir uns vernetzen; wir machen Listen, richten Gruppen ein, überlegen, auf welchen Instanzen wir uns anmelden, und wie, mit wem und über was wir kommunizieren. Das war auch auf Twitter immer schon Thema, aber lief dort häufig als eine Art konsequenzloser Nebendiskurs, während Likes, Retweets und „Ratios“ weiterhin selbstverständlich als Währung unserer Interaktionen anerkannt wurden. 

Ob dieses neue auf Mastodon geschaffene Bewusstsein Bestand hat, bleibt abzuwarten. Mastodon, mit seinen vielen einzelnen Admins, ist kein basisdemokratisches Medium. Sein Entwickler, Eugen Rochko behält weiterhin die Kontrolle und endgültige Entscheidungsmacht über neue Features – ein System, das in Open Source Kreisen als „Benevolent Dictator for Life“ (BDFL) beschrieben wird. Das führte bereits in der Vergangenheit zu viel Kritik. Den zentralen Konflikt, der innerhalb der Administratoren und Communities von Mastodon besteht, beschrieb die Journalistin Ana Valens schon 2019:

„One wants a community-driven government system to protect vulnerable users. The other believes only a BDFL can efficiently maintain Mastodon and promote its decentralized, open-source fediverse structure. Both are hopeful for Mastodon’s future, and yet, they represent diverging paths that Mastodon can take. […]Meanwhile, Mastodon’s users can’t even agree on how Mastodon should function, let alone whom it should serve. Figuring out an answer will decide Mastodon’s future—and whether its marginalized userbase has a place to call home.“

In diesen Konflikt kommt jetzt der Ansturm von Twitteruser*innen, die alle ihre Nutzungsgewohnheiten mitbringen. Das wird neue Probleme verursachen. Die Frage bleibt also, ob hier weiterhin eine technische Lösung für ein soziales Problem, nämlich wie wir uns und unsere Medien in einer kapitalistischen Gesellschaft eigentlich organisieren, gefunden werden soll.

Protokolle vs. Plattformen

Die aktuelle Begeisterung für „protocols over platforms„,  die auf die frühen Zeiten der Forenkultur des Usenet als Vorbild verweist, kann jedenfalls nur teilen, wer damals nicht die Kritik an der Organisation des Internets durch Protokolle verfolgte. Protokolle sind, abstrakt formuliert, Regelwerke, die das Verhalten der Teilnehmer an einem System festlegen – z.B. im Straßenverkehr, wo rote Ampeln, Stoppschilder usw. das Verhalten von Autofahrern bestimmen. Im Internet erhalten sie programmatischen Status: Protokolle wie TCP/IP und DNS regeln, wie Server untereinander kommunizieren und bestimmen so das physische Setup von Technologien bzw. „Hardware“. Alexander Galloway warnte bereits 2004, in Anschluß an Gilles Deleuze‘ bekannten Essay „Postscriptum über die Kontrollgesellschaften“, dass sich dadurch ganz neue, flexible und weniger transparenter Möglichkeiten der Kontrolle ergäben, die der Idee des Internet als „anarchischem“, „dezentralen“ und unkontrolliertem Ort entgegenstünden. Die Ironie des Internets sei, so Galloway, dass der gesamte web traffic, der eine anarchische und radikal horizontale Internetkultur ermöglicht, sich hierarchischen Strukturen in Form dominanter Protokolle wie TCP/IP und DNS unterwerfen müsse.

In Mastodon zu Zeiten der „Twittermigration“ stoßen also wieder einmal technische und soziale Organisation von Medien aufeinander. OpenSource heißt nämlich auch, dass zunächst einmal wirklich alle Zugang zur Software haben. Auch Rechtsextreme, wie beispielsweise die noch viel radikaler als Musk auf „free speech“ abzielende Plattform Gab und Trumps „TruthSocial“-Netzwerk, nutzen die Software – sind allerdings von praktisch allen anderen Instanzen „deföderiert“, also de facto geblockt und damit außerhalb des Netzwerks. Das deutet schon darauf hin, dass sich auf Mastodon durchaus auch Gedanken über die soziale Organisation des Mediums gemacht werden. Ein weiterer Beleg dafür sind die Anti-Harassment, antirassistischen, feministischen usw. Kommentarregeln, die sich die einzelnen Instanzen geben. Es wird sich zeigen, wie diese Reflexion der Nutzer*innen-Explosion standhält. 

Es ist außerdem fraglich, ob ein so arbeitsaufwendiges, von freiwilliger Arbeit und lokaler Infrastruktur abhängiges Medium global skalierbar ist. Bisher gibt es außerhalb der USA, Europa und Japan nur wenige Instanzen. Auch hier kann man auf Geschichten von Techies zurückgreifen, die z.B. in den 1980er Jahren in der Anti-Apartheid-Bewegung Masten und Sendegerät nach Südafrika brachten und dort halfen, diese aufzusetzen und zu betreiben; oder die GSM-Freaks, die heute noch helfen, im Ostkongo sichere Handynetzwerke aufzubauen. Zumindest befindet sich Mastodon in einer guten Tradition.

Foto von camilo jimenez

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner