Tödliche Theorien – Rechtsradikale Verschwörungserzählungen und das Versagen der Medien

von Annika Brockschmidt

Am 14. Mai 2022 fuhr der 18-Jährige White Supremacist P.G. zum „Tops“ Supermarkt in Buffalo, New York, mit dem Ziel, Schwarze Menschen zu töten. Er ermordete zehn Menschen und verwundete drei, bevor er festgenommen wurde. Alle  Opfer waren Schwarz. Sehr schnell wurde klar, dass es Rassismus war, der die Taten inspiriert hatte. Der Täter hatte ein hasserfülltes, 180-Seiten langes Manifest online gestellt, bevor er die Morde beging – die er live auf Twitch streamte. Außerdem analysierten Expert:innen sein digitales Tagebuch, das hunderte Seiten von Information beinhaltet – unter anderem die Geschichte, wie er radikalisiert wurde. P.G. nennt sich einen „Faschisten“ und einen „Nazi“ und sagt offen, dass es sein erklärtes Ziel ist, Schwarze Menschen zu töten. Er glaubt an den rassistischen Verschwörungsmythos, der White Replacement genannt wird – also „Weißer Austausch“. Der Mythos vom White Replacement ist eine Kombination zweier Verschwörungsnarrative: Great Replacement (in deutschen rechten Kreisen taucht er oft als „Umvolkung“ auf) und White Genocide („Weißer Genozid“).

Während der Verschwörungsmythos vom „Weißen Genozid“ in Zirkeln von Neonazis und White Supremacists populär ist, hat es der Mythos vom Great Replacement längst in den konservativen Mainstream geschafft. In den letzten Wochen wurde vermehrt darüber berichtet, dass prominente Medienvertreter wie Tucker Carlson von Fox News, immerhin Moderator der zuschauerstärksten Show im US-amerikanischen Kabelfernsehen, in den letzten Jahren wieder und wieder eine Kombination aus beiden Narrativen beworben haben, die als White Replacement bekannt ist. 2021 sagte Carlson in seiner Show

Ich weiß, dass die Linke und all die Gatekeeper auf Twitter wortwörtlich hysterisch werden, wenn man den Begriff „Austausch“ benutzt, wenn man suggeriert, dass die Demokratische Partei versucht, die aktuelle Wählerschaft zu ersetzen, die Wähler, die jetzt Stimmen abgeben, gegen neue Leute, gehorsamere Leute auszutauschen, die aus der Dritten Welt stammen. Aber dann werden sie hysterisch, weil das wirklich gerade passiert. Sagen wir es einfach: Das ist wahr. 

„Dritte Welt“ ist ein Code für nicht-Weiße Wähler:innen – denn Carlson hat nur ein Problem mit nicht-Weißer Einwanderung: „Jedes Mal, wenn die einen neuen Wähler importieren, werde ich als aktueller Wähler entrechtet.“ Er hatte in seiner Show auch schon gesagt:

Jeder will daraus eine race – Sache machen, ,ooh, die White Replacement Theorie.’ Nein nein nein, das ist eine Frage von Wählerrechten. Ich habe weniger politische Macht, weil sie eine brandneue Wählerschaft importieren…Warum sollte ich mich zurücklehnen und das einfach hinnehmen? Die Macht, die ich als Amerikaner habe, die mir zur Geburt garantiert wird, ist: ein Mann, eine Stimme. Und sie verwässern das.

Ursprünge

Aber was ist der Ursprung dieser beiden Narrative, die Carlson miteinander verbindet? Der Verschwörungsmythos vom „Great Replacement“ stammt aus Frankreich, dort taucht der Ausdruck um 1900 unter dem Namen le grand remplacement auf. Die Trilogie Le Roman de l’énergie nationale aus der Feder des antisemitischen und rassistischen Autors Maurice Barrès machte den Verschwörungsmythos bekannt: Die „Westliche“ (Code für weiße, christliche) Kultur befände sich in einem Belagerungszustand. Nicht-Europäer würden versuchen, die Europäer durch ihre höheren Geburtenraten zu „ersetzen“. 

In einigen Versionen ist der „Austausch“ Teil einer geheimen, jüdisch-konnotierten Elite, die versuche, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Der Ursprung des Verschwörungsmythos in Frankreich ist vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte des Landes zu sehen. Bekannter wurde The Great Replacement mit der Veröffentlichung Jean Raspails Roman Le Camp des saints (1973) – Stephen Miller, früherer Redenschreiber und Politikberater Trumps, ist übrigens ein großer Fan des Buchs. Darin wird Frankreich von „dunkelhäutigen Flüchtlingen“ überrannt – das Weiße, christliche Europa fällt, es herrschen Terror und Chaos. Ein ähnliches Narrativ findet sich auch im Roman Die Kandidatin von Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber – 54books hat darüber berichtet. 

Während The Great Replacement aus Europa stammt, entwickelte sich der Verschwörungsmythos des White Genocide in den USA. Er tauchte um 1900 auf, doch seine Wurzeln gehen auf die Zeit der Sklaverei und auf die Angst weißer Sklavenhalter vor Aufständen zurück. Der angebliche White Genocide werde von einer geheimen Gruppe geplant – es fallen oft Begriffe wie New World Order – auch dies ein Code, der Juden meint. Im Verschwörungsmythos White Genocide geht es darum, dass Weiße durch einen von der Einwanderung von Black and People of Colour ausgelösten Race War ausgelöscht werden sollen. Populär machte ihn der Eugeniker Madison Grant 1916 in seinem Buch The Passing of the Great Race

Weiter popularisiert wurde der Verschwörungsmythos vom White Genocide durch die Turner Diaries (1978) von William Luther Pierce. 1995 ahmte der Oklahoma City Bomber bei seinem Anschlag eine Szene aus den Turner Diaries nach und tötete dabei 168 Menschen. Die Turner Diaries und ihr Verschwörungsmythos vom White Genocide lesen sich als eine How-To Anleitung für gewaltbereite White Supremacists, die von einer „arischen Revolution“ träumen. Diverse Massenmörder haben sich auf den White Genocide als Motivation bezogen. Die Turner Diaries sind heute quasi die Bibel der White Supremacists und vielleicht das einflussreichste Buch unter amerikanischen Neo-Nazis. Das Buch beeinflusste Terrorgruppen wie The Order und die Aryan Republican Army

Zahlreiche White Supremacists  haben ihren Glauben an einen White Genocide oder White Replacement als Motivation für ihre mörderischen Taten genannt. Und auch wenn wir weiter in der Geschichte zurückgehen, hinterlässt der Verschwörungsmythos Tod und Vernichtung: Im 20. Jahrhundert spielte der Glaube an ein White Replacement eine zentrale Rolle in der Ideologie der Nationalsozialisten. Jason Stanley, Philosophie-Professor aus Yale, der sich auf Forschung zum Faschismus spezialisiert hat und der Nachfahre von Holocaust-Überlebenden ist, schrieb im Guardian:

Die Theorie vom White Replacement war das dominante strukturierende Narrativ der Nazi-Ideologie. Adolf Hitler verkündete seine genozidalen Absichten ebenfalls in einem langen Manifest über die angebliche jüdische Bedrohung der Weißen Zivilisation geschrieben, das 1924 unter dem Namen Mein Kampf veröffentlicht wurde. Hitler war ebenfalls besessen von der Idee einer Masseneinwanderung und der Bedrohung, die diese für die “Weiße Zivilisation” darstelle.

Diesen historischen Hintergrund sollte man vor Augen haben, wenn man beispielsweise Berichterstattung über angebliche migrant caravans bei Fox News sieht und in anderen rechten Medien liest. Sie kommen auch in den Turner Diaries vor. 

Auf dem Weg in den Mainstream

Als Neonazis 2017 in Charlottesville, Virginia aufmarschierten, skandierten sie “Jews will not replace us” – “Juden werden uns nicht ersetzen”. Und während einige Journalist*innen zumindest darauf hinwiesen, dass White Supremacists Juden nicht als “Weiß” wahrnehmen, versagten die meisten doch darin, den rassistischen, antisemitischen Verschwörungsmythos zu benennen, der hinter dem Schlachtruf steckte (mit einigen Ausnahmen – wie diesem Artikel im New Yorker). Gleichzeitig war das Narrativ bereits schleichend auf dem Weg in den republikanischen Mainstream. In der medialen Berichterstattung blieb das weitgehend unerwähnt.  

Carlson war und ist bei weitem nicht der Einzige, der in der amerikanischen Rechten Versionen des Verschwörungsmythos vom Great Replacement dem Mainstream zugeführt hat. Auch prominente Republikaner:innen wie Elise Stefanik – immerhin die drittranghöchste Republikanerin im Repräsentantenhaus – haben sich seinem rassistischen Kreuzzug angeschlossen. Stefanik ist fest verankert im Mainstream der Partei. Sie hat nicht nur in der Vergangenheit mit der Lüge des White Replacement Wahlkampf gemacht, sondern hat ihre Unterstützung des Verschwörungsmythos sogar nach den rassistischen Morden von Buffalo erneut bestätigt. 

Und während einige große Medienoutlets wie die New York Times und die Washington Post die Motivation des Mörders als rassistisch bezeichnet haben, hantierten andere Medien nach wie vor mit Euphemismen wie racially motivated, anstatt offen von Rassismus zu sprechen – obwohl der Schütze sich selbst als Rassisten bezeichnet hatte. Dieser Artikel in The Week erwähnt beispielsweise sogar, dass der Mörder „sich als… White Supremacist bezeichnet hatte”, und verwendet trotzdem in der Überschrift die euphemistische Umschreibung „racially motivated“. 

US-Medien sind nicht die einzigen, die regelmäßig daran scheitern, offenen Rassismus auch klar so zu benennen. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung bezeichnete den Mörder in der Überschrift eines Artikels ihrer US-Korrespondentin als “mutmaßlichen Rassisten” – 12 Stunden nach den tödlichen Schüssen, als die Motivation des Schützen bereits bekannt war. (Mittlerweile wurde die Überschrift geändert). 

Es ist begrüßenswert, dass große Medien über die rassistische Ideologie des Mörders von Buffalo berichten, über White Replacement, Great Replacement und White Genocide. Dass es erst jetzt in diesem Umfang geschieht, ist allerdings auch das Ergebnis eines langewährenden, eklatanten Medienversagens.

Republikaner haben seit Jahren offene White Supremacist-Rhetorik in den konservativen Mainstream eingeführt, haben offen vom Great Replacement gesprochen. Anstatt diese Äußerungen zu kontextualisieren und sie als das zu benennen, was sie sind – offener Rassismus und White Nationalist-Rhetorik – werden diese Äußerungen allzu oft von Medien als normale Position des demokratischen Spektrums dargestellt. Wenn White Supremacist-Ideologie als “Angst bezüglich Einwanderung” oder mit anderen euphemistischen Umschreibungen bezeichnet wird, wenn Medien wieder und wieder darin versagen, alle politischen Nachrichten in den entsprechenden Kontext einzubetten, ist das, wie Dan Froomkin in The Nation gezeigt hat, journalistisches Versagen. Das Versäumnis der Medien, rechtsextreme Ideologien klar zu benennen, hat das Mainstreaming gefährlicher rassistischer Überzeugungen ermöglicht und – was vielleicht noch wichtiger ist – gleichzeitig aktiv die Bemühungen behindert, Rassismus mit antirassistischer Aufklärung entgegenzuwirken.

Faschistische Narrative

Ein jüngstes Beispiel ist die moralische Panik über die Critical Race Theory (CRT), entfacht vom rechten Aktivisten Christopher Rufo. Das ist übrigens nicht meine Interpretation davon, wie die CRT-Panik begann – Rufo erzählt jedem, der bereit ist, zuzuhören, davon: Er prahlte damit, dass es sein ausdrückliches Ziel war, ein neues Schlagwort zu schaffen, das für Konservative unheimlich klingen würde, und es dann mit allem aufzuladen, was die Rechte an der Linken und an Antirassismus hasst – und dadurch die eigentliche Bedeutung von CRT zu ändern.

Die Medien haben es versäumt, diese Strategie zu beleuchten und sind stattdessen direkt in Rufos Falle getappt. Indem sie sich auf die Diskussion der Vor- und Nachteile von CRT eingelassen haben – eigentlich handelt es sich um eine juristische Theorie, die strukturellen Rassismus im Justizwesen anklagt – hatten sie bereits die Prämisse der Rechten akzeptiert, dass es sich dabei um eine radikale, subversive Ideologie handle, die High Schools und sogar Kindergärten infiltriere. Auch deutsche Journalist:innen aus  einflussreichen Medien heizten eifrig die moralische Panik um CRT an: Der Washington-Chef des Spiegels René Pfister bezeichnete CRT als “Angriff auf die Werte des Westens” – und meinte damit nicht Kolonialismus und Rassismus. Jochen Bittner von der Zeit wiederholte Rufos Talking Points und bezeichnete CRT als einen Auswuchs gefährlicher “Identitätspolitik” und “Irrsinn”. Besser hätten es sich rechte Propagandisten nicht wünschen können. 

Jason Stanley ordnet Rufos CRT-Erzählung vor dem Hintergrund faschistischer Narrative ein. Rufo behaupte, dass CRT „von deutsch-jüdischen marxistischen Intellektuellen (der Frankfurter Schule) geschaffen wurde. Obwohl die CRT-Version dieser Verschwörungstheorie neu ist, ist sie ein direkter Nachkomme der Verschwörungstheorie des ‚Kulturmarxismus‘, die ein Hauptthema von Breiviks Manifest war“ – derselbe Breivik, der bei seinem Terroranschlag in Norwegen 2011 77 Menschen ermordet hat.

Als Glenn Youngkin 2021 für das Amt des Gouverneurs von Virginia kandidierte, machte er die moralische Panik über CRT zum Eckpfeiler seiner Kampagne. In Berichterstattung las man oft, dass er die „Sorgen der Eltern“ als die oberste Priorität seines Wahlkampfs gewählt oder sich auf „Bildung“ als eines der großen Themen konzentriert hätte. Dies förderte die Schönfärberei der rechtsgerichteten Hetzkampagne zu CRT –  und die Umdeutung einer Rechtstheorie, die nur an einigen juristischen Fakultäten in Masterstudiengängen behandelt wird, vom rechten Buh-Mann zum legitimen Anliegen weißer Eltern.

Große Medienhäuser haben es versäumt, diese rechte Taktik als eine bewährte Strategie der Religiösen Rechten zu kontextualisieren, die bereits in den 70er Jahren existierte – samt ähnlichem Vokabular und rassistischer Ängste, geschürt durch die Panik weißer Eltern wegen neuen Schulbüchern von Schwarzen Autor:innen oder mit Darstellungen von People of Color. 1974 führte die rechte Aktivistin Alice Moore in Kanawha County (West Virginia) den sogenannten “Schulbuchkrieg” (Textbook Wars). Unterstützt wurde sie dabei vom KKK. Es kam zu Bombenanschlägen und gewalttätigen Ausschreitungen.

Die rassistischen Ängste weißer Eltern zu befeuern war bereits damals eine wirksame Strategie, die von rechten Aktivist:innen genutzt wurde, und wir können ihr Echo noch heute hören, wenn rechte Aktivisten School Board Meetings übernehmen und die bereits bestehenden Mitglieder der Vorstände einschüchtern. Und doch haben zahlreiche Medien nicht nur kläglich dabei versagt, diese Taktik und die nationalen organisatorischen Bemühungen dahinter zu erkennen, sondern sie haben tatsächlich die Bemühungen behindert, die antirassistische Aufklärung umzusetzen, die dringend benötigt wird, um der Online-Indoktrination von White Nationalists entgegenzuwirken und eine Gegenerzählung aufzuzeigen.

Falsche Äquivalenz

Die nachlässige Berichterstattung über das Mainstreaming Weißer nationalistischer und Weißer rassistischer Narrative ist Teil eines größeren Medienversagens. Ein missverstandenes Gefühl von „Neutralität“ oder „Ausgewogenheit“ hat viele Journalist:innen dazu veranlasst, Republikaner und Demokraten zu diesen Themen nebeneinander zu zitieren, als ob es sich jeweils nur um unterschiedliche, aber gleichermaßen gültige Standpunkte im demokratischen politischen Spektrum handele, wodurch verschleiert wurde, dass eine der beiden großen amerikanischen Parteien sich jetzt offen einer White Nationalist Ideologie verschrieben hat.

Es gibt viele Beispiele für diese falsche Äquivalenz. In einem Artikel der New York Times vom Oktober 2021 hieß es:

Republikaner nutzen Ängste vor Critical Race Theory, um Rückrufe von School Boards voranzutreiben und Konservative zu stärken, in der Hoffnung, die Grundlage für die Zwischenwahlen 2022 zu legen.

Das ist keine falsche Beobachtung, aber es wird versäumt, Zusammenhänge herzustellen: dass die Angst vor CRT von rechten Aktivist:innen getrieben und von Mainstream-Republikanern zynisch für ihren eigenen politischen Vorteil genutzt wird. Ein weiterer Fehler ist die Weigerung großer Medienhäuser, wahre Einschätzungen abzugeben, weil sie „parteiisch“ erscheinen könnten, wie ein Artikel der Times über Christopher Rufo illustriert, in dem der Autor ihn folgendermaßen beschreibt: „Rufo, … der für einige Linke zu einem Agitator der Intoleranz geworden ist.“ Als ob ein Mann, der damit prahlt, rassistische, antisemitische Verschwörungstheorien auszugraben und umzufunktionieren, nicht einfach tatsächlich genau das ist – ein Agent der Intoleranz.

Eine falsch verstandene journalistische „Neutralität“ und die Weigerung, die Bedeutung der von konservativen Aktivisten verwendeten Euphemismen zu entlarven, führt zu einer Verzerrung; es verfälscht die Realität einer Demokratie, die von rechts angegriffen wird, indem man sich auf Both-Sides-ism einlässt, der in demselben Artikel über Rufo erscheint: „Er ist an der Front eines weiteren explosiven kulturellen Zusammenstoßes aufgetaucht, den er als noch größer ansieht politisch potenter einschätzt und der von der Linken als ebenso gefährlich angesehen wird: der Kampf um L.G.B.T.Q.-Beschränkungen an Schulen.“ Man muss sich fragen: Glauben die New York Times und der Autor wirklich, dass die LGBTQ-Gleichstellung eine ebenso große Gefahr für die Gesellschaft darstellt wie die Einschränkung der Rechte von LGBTQ-Personen? Oder überhaupt eine Gefahr?

In seinem neusten Artikel für The Nation legt Dan Froomkin eine ganze Liste des journalistischen Versagens der New York Times vor. Es ist eine verheerende Anklage gegen die politische Berichterstattung der Zeitung (vielleicht mit Ausnahme der investigativen Abteilung). Froomkin nennt auf seiner Liste journalistischer Sünden „spektakuläres Understatement … “die Pest auf eure beiden Häuser” … beiden Parteien Anerkennung für die Lösung von Problemen zu geben, die vollständig von Republikanern geschaffen wurden … [sowie] Leugnung und Gaslighting“, und er hat die Belege, um sie zu untermauern. Er fordert den neuen Chefredakteur der New York Times, Joe Kahn, auf, den Kritiker:innen der Zeitung bei diesen Themen zuzuhören.

Kahn hat jedoch bereits deutlich gemacht, dass er die Herangehensweise der Zeitung, was die tiefe Asymmetrie der beiden Parteien der Nation angeht, nicht ändern wird. In einem Interview mit der Columbia Journalism Review im April erklärte Kahn:

Ich glaube wirklich, wenn wir eine parteiische Organisation werden, die sich ausschließlich auf die Bedrohung der Demokratie konzentriert, und wir unsere Berichterstattung über die Themen, die sozialen, politischen und kulturellen Unterschiede aufgeben, die die Teilnahme an der Politik in Amerika beleben, werden wir den Kampf verlieren, unabhängig zu sein.

Die Aussage, dass die Konzentration auf die Bedrohung der amerikanischen Demokratie die New York Times „parteiisch“ machen würde, ist bizarr – und ein Ergebnis der Fetischisierung einer mythischen „Überparteilichkeit“, lange nachdem sie aufgehört hatte zu existieren, weil ein Großteil der Republikaner sich entschieden hat, den Raum der demokratischen Politik zu verlassen. 

Wenn es für ein Nachrichtenmedium ein Problem ist, „parteiisch“ zu sein, was die Existenz der Demokratie betrifft, hat es bereits versagt – und es wird nicht in der Lage sein, dem Sperrfeuer autoritärer, protofaschistischer und faschistischer Desinformation und Gesetzgebung entgegenzuwirken. Wenn „Unabhängigkeit“ bedeutet, die Angriffe auf die amerikanische Demokratie nicht als das zu bezeichnen, was sie sind, hat das Wort jede Bedeutung verloren.

Verantwortungsvoller Journalismus

Was wäre also eine verantwortungsvolle Art, über Republikaner zu berichten? Nun, für den Anfang: Jedes Mal, wenn Republikaner White Nationalist-Rhetorik und andere rassistische Dog Whistles äußern, müssen sie damit konfrontiert werden. Jedes Mal, wenn ein Republikaner, der in der Vergangenheit Great Replacement-Ansichten geäußert hat, interviewt wird, muss er oder sie ausdrücklich danach gefragt werden – und wenn sich diese Politiker:innen nicht von ihren früheren Behauptungen distanzieren, muss gesagt werden, dass solche Äußerungen dem White Nationalism zuzuordnen sind, einer Ideologie, die allein in den letzten Jahren Hunderte in den USA und Millionen im letzten Jahrhundert weltweit getötet hat.

Der verantwortungsvolle journalistische Rekurs besteht mindestens darin zu kontextualisieren, den Lesenden die Tatsache bewusst zu machen, dass diese Politiker:innen Weiße nationalistische und rassistische Rhetorik verwenden. Wenn sie dieselben Narrative weiter verbreiten, nachdem sie bereits mit deren Bedeutung und Ursprung konfrontiert worden sind, müssen sie als Rassisten bezeichnet werden. Nicht als Menschen, die „rassistisch aufgeladene Sprache“ verwenden, sondern als Rassisten.

Die Zeit wird knapp. Laut einer aktuellen AP-Umfrage glaubt ein Drittel der amerikanischen Bevölkerung an den Verschwörungsmythos des Great Replacement. In Deutschland sieht es nicht unbedingt besser aus: Laut einer YouGov Umfrage glauben “35 Prozent der Bevölkerung, die Regierung verheimliche, wie viele Migrantinnen und Migranten wirklich in Deutschland leben, und jeder Fünfte (20 %) meinte, die Einwanderung von Muslimen sei Teil eines geheimen Plans, Muslime zur Mehrheit werden zu lassen”, schreibt die Psychologin Pia Lamberty für die Bundeszentrale für politische Bildung. 

Das Versäumnis der Medien, rassistische Rhetorik anzuprangern, hat zu ihrer Verbreitung geführt und aktiv Bemühungen behindert, ihr entgegenzuwirken, indem antirassistische Bildung in die Lehrpläne aufgenommen wurde. P.G. wird nicht der letzte junge Mann sein, der sich online radikalisiert hat und sich aufmacht, Schwarze, People of Colour, Juden oder eine andere ethnische Gruppe zu ermorden, die er zu hassen gelernt hat.

Der Schütze von Christchurch ermordete Menschen in Moscheen, der Schütze von Pittsburgh tötete Menschen, die eine Synagoge besuchten. Der Attentäter von Charleston tötete Schwarze, die zur Kirche gingen. Was wie eine ziemlich heterogene Gruppe von Opfern erscheinen mag, hat tatsächlich einen gemeinsamen Nenner: Variationen des Great Replacement Verschwörungsmythos, der sich jeder der Mörder anschloss und der den Hass auf Muslime, BPoC, Immigranten und Juden vereint. Die Mörder waren Teil der organisierten White Power-Bewegung.

In der Medienberichterstattung werden Weiße Mörder wie sie – nicht nur in amerikanischen Medien – oft als “psychisch krank“ und „als Einzeltäter“ (lone wolf) bezeichnet. Dies verschleiert nicht nur ihre Rolle in einer organisierten Hassbewegung, sondern verrät auch ein tiefes Missverständnis darüber, wie diese Bewegung funktioniert. Tatsächlich haben weiße Rassisten den Begriff des lone wolf angenommen und verwenden ihn selbst, um Mainstream-Medien davon abzuhalten, die Struktur des „führerlosen Widerstands“ der White Power-Bewegung zu durchschauen.

Politjournalist:innen müssen sich entweder selbst informieren oder sich an Expert:innen wenden, wenn es um diese Formen des Rechtsextremismus geht. Das gilt auch, wenn die Frage beantwortet werden soll, inwieweit White Nationalist Narrative in der heutigen Republikanischen Partei und der konservativen Bewegung in den USA zum Mainstream gehören. Es mag zwar nicht überraschen, dass Stephen Miller, ein Fan des Romans Camp of the Saints ist. Aber vielleicht würde es schockieren, dass noch 2004 ein großer Name des amerikanischen Konservatismus das Buch empfahl: William F. Buckley.

Während in letzter Zeit etwas Licht auf Buckleys offen segregationistische Haltung in den 1950er und 60er Jahren geworfen und seine Unterstützung für das Apartheids-Regime in Südafrika hervorgehoben wurde, wird er immer noch als Gatekeeper des „respektablen“ modernen Konservatismus angesehen. Derjenige, der „die Verrückten in Schach hielt“ und die Extremisten aus der Partei heraushielt. Er hielt sie tatsächlich lange aus Elitekreisen fern– aber er nutzte dennoch ihre extremistischen Netzwerke, um die Basis zu motivieren, wie der Historiker John S. Huntington gezeigt hat. Es ging um Optik, nicht um Ideologie. Dass Buckley 2004 immer noch ein Fan von Camp of the Saints war, zeigt, wie sehr selbst eine „respektable“ Persönlichkeit wie er von den Narrativen der Weißer Rassisten angezogen wurde.

Auch die Republikanischen Narrative um Abtreibung sind davon beeinflusst, da die Sorge um die sinkenden Geburtenraten von Weißen eine Überschneidung mit der weißen nationalistischen Ideologie darstellt. Kathleen Belew, eine Expertin für die White Power-Bewegung, erklärte den Zusammenhang kürzlich im New Yorker:

Die Kernidee ist, dass viele verschiedene Arten von sozialem Wandel mit einer Verschwörung einer Kabale von Eliten verbunden sind, um die Weiße Rasse auszurotten, von der die Menschen in dieser Bewegung glauben, dass sie ihre Nation darstellt. Sie verbindet Dinge wie Abtreibung, Einwanderung, Rechte von Homosexuellen, Feminismus, Wohnintegration – all das wird als Teil einer Reihe von Bedrohungen für die Weiße Geburtenrate angesehen. Eine Gemeinsamkeit, die man in den Manifesten und in der Argumentation bemerken wird, die wirklich bis ins 20. Jahrhundert zurückreicht, ist dieser Fokus auf die Fortpflanzungsfähigkeit Weißer Frauen zur Aufrechterhaltung der Weißen Rasse als Nation.

Es ist dieses Eintreten für die Bedeutung der Aufrechterhaltung der White race, das im Mittelpunkt von Erzählungen wie dem Great Replacement und White Genocide steht. Das erklärt auch, warum Versionen dieser Erzählungen von Rechtsextremisten in verschiedenen Ländern angewendet werden können, weil sie es ihnen ermöglichen, jede „feindliche Gruppe“ einzufügen, die sie angreifen wollen – seien es Araber, Muslime, Juden oder jede andere marginalisierte Gruppe, die attackiert werden soll, und die als nicht-Weiß gesehen wird (weiß bezieht sich nicht nur auf die Hautfarbe, sondern meint ein soziales Konstrukt). Belew analysiert:

Es geht um die grundlegende Bedeutung der Erhaltung und Geburtenrate der weißen Rasse. Die Elemente, die über die Zeit hinweg konsistent sind, sind also die Idee, dass die weiße Rasse durch Durchmischung mit anderen bedroht werden kann, dass es eine Art böse Elite gibt, die daran interessiert ist, die Weißen auszurotten. Es geht nicht nur um den passiven demografischen Wandel und die Nachrichten, die wir ziemlich oft sehen, wenn ein Landkreis, eine Stadt oder die Nation nicht mehr mehrheitlich weiß sind. Es geht um eine apokalyptische Bedrohung, die von denjenigen ausgeht, die diese Verschwörungstheoretiker als geheimen Kabal verstehen. Sie sehen zum Beispiel Abtreibung als einen Plan, um die Weiße Geburtenrate zu senken. Sie sehen die Wohnintegration als ein Programm, um die Weiße Geburtenrate zu senken. Sie sehen Feminismus als einen Plan, um Weiße Frauen von Heim und Herd fernzuhalten und die Weiße Geburtenrate zu senken.

Es liegt in der Verantwortung der Medien, Äußerungen von GOP-Politikern wie JD Vance, die Nationalismus mit Fruchtbarkeitsraten in Verbindung brachten, in einen Kontext zu setzen – sowie die Verwendung einer CDC-Fußnote, die Samuel Alito in dem durchgesickerten Entwurf seiner SCOTUS-Stellungnahme zitierte, die der Rechten in ihrem Anti-Abtreibungskreuzzug einen entscheidenden Sieg einbringen wird. Die zitierte Fußnote argumentiert, dass es genügend potenzielle Adoptiveltern gebe, um die “nationale Versorgung mit Kleinkindern” zu decken.

Andernfalls wird sich das Mainstreaming des Weißen Nationalismus fortsetzen – über einen Wendepunkt hinaus, an dem es nicht mehr gestoppt werden kann – wenn es nicht bereits zu spät ist. Der Mythos vom Great Replacement und der Mythos vom White Genocide rufen ihre Anhänger:innen zu Gewalt auf– manchmal verdeckt, mal offen. Jeder einzelne Politiker, jede Expertin und Medienpersönlichkeit, die den Mythos vom Great Replacement verbreitet haben, haben zu diesen Morden beigetragen. Und jeder Journalist, der es versäumt, die Rhetorik Weißer Nationalisten zu kontextualisieren, macht sich mitschuldig. 

Dieser Text erschien in einer ersten englischen Fassung auf Religion Dispatches

Photo by Max Kukurudziak on Unsplash

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