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Der Kulturmann revisited

von Ebba Witt-Brattström

aus dem Schwedischen übersetzt von Matthias Friedrich

Ebba Witt-Brattström, 1953 in Stockholm geboren, ist Literaturhistorikerin und Autorin. Zwischen 2000 und 2012 war sie als Literaturprofessorin mit dem Schwerpunkt Gender Studies an der Södertörns högskola tätig und von 2008-2011 als Dag-Hammarskjöld-Gastprofessorin an der HU Berlin. Von 2012 bis 2021 war sie Literaturprofessorin an der Universität Helsinki. Der folgende Text ist das erste Kapitel der Essay-Sammlung „Kulturmannen och andra texter“, die 2016 erschien. Der Text von Ebba Witt-Brattström war Teil einer ab 2014 in Schweden geführten Debatte um die Rolle des „Kulturmannes“ im Literatur- und Kulturbetrieb.

Der Kulturmann ist eine zähe, augenscheinlich nicht kleinzukriegende Figur. 2014 stellte Åsa Beckman, die Initiatorin der angeregten Debatte über den narzisstischen Künstlertypus, der das Kulturfeld dominiert, in der Zeitung Dagens Nyheter die These auf, der Kulturmann als unbestrittenes, stürmisches Genie befinde sich auf Talfahrt. Bald schon ging die Frage nach dem möglichen Verschwinden des Kulturmannes wie ein Lauffeuer durch Zeitungen und soziale Medien.

Nicht wenige Journalistinnen, die tagesaktuelle Beobachtungen des noch immer unter den Lebenden weilenden Kulturmannes zu bieten hatten, wiesen diese Behauptung von der Hand: Er dominierte Vernissagen, das kulturelle Treiben und Kneipengespräche, gabelte erfolgreich Frauen auf, die immer jünger wurden, zitierte unverdrossen und egoistisch sich selbst, während scharenweise Günstlinge seinen Ausführungen lauschten. 

„Zeit, nicht mehr mit ihm ins Bett zu steigen“, schrieb Lina Thomsgård in Aftonbladet. Zeit, ihn nicht mehr zu „bemuttern“, riet Elin Cullhed in Dagens Nyheter und verglich die Mechanismen, die eine fortgesetzte männliche Kulturdominanz sichern, mit einer „dysfunktionalen Heterobeziehung“. Ohne seine „Bücherhebammen“, ohne Verlagsredakteurinnen in „farbenfrohen Clogs“, die alles, was er so sagt, mit einem Lachen kommentieren, wäre er nichts. Das Jahr 2015 wurde mit einem Artikel der Göteborgsposten-Journalistin Malin Lindroth eingeleitet, die die Forderung aufstellte, dem „Pakt“ mit dem Kulturmann den Garaus zu machen. Zum damaligen Zeitpunkt beteiligten sich nur wenige Männer an diesem Diskurs. Ließen sie sich blicken, dann nur, um brüderliche Einmütigkeit zu bekunden. Zum Beispiel Bo Madestrand in Dagens Nyheter, wenn er einen deutschen Künstler – Sigmar Polke – als „waschechten Kulturmann“ beschreibt. Er, der „mit Wuschelfrisur und blutunterlaufenen Augen“ Drogen einwarf und sich in Südamerika und Pakistan „durchschlug“, scheint „ein Kerl gewesen zu sein, mit dem man sich amüsieren konnte“.

Am witzigsten und pointiertesten war das Manifest der jungen Poetry-Slam-Künstlerin Olivia Bergdahl in der gleichen Zeitung. Nach einer Liste mit den weniger schmeichelhaften Definitionen des Kulturmannes („ein charmanter Schuft“, „etepetete“, „konservativ“ usw.) mahnt sie an: „Lest feministische Literatur. Wenn ihr kulturell etwas erleben wollt, dann konsumiert jede zweite Frau und jeden zweiten Mann. Passt auf, welche Geschichten erzählt werden. Vergesst nicht, dass weitaus mehr Menschen eine Periode haben als einen kräftigen Bartwuchs.“

Åsa Beckmann meinte, der Attraktionswert des Kulturmannes liege in höchstem Maße in seinem künstlerischen Schöpfungsvermögen. Er besäße „eine Superkraft“, mit der sich seine Frauengeschichten in einen „formvollendeten Sonettkranz“ umwandeln ließen. Literatur und Kunst entfalten ihre Wirkung im Inneren, moralische Dimensionen ausgenommen. Aber gilt das nicht auch für Literatur und Kunst von Frauen? Folgen wir Olivia Bergdahls Empfehlung zur Bitextualität, erweist der Begriff der kulturellen Superkraft sich plötzlich als komplexer, wird er Ganz- und nicht Halbwissen.

Dann sticht übrigens auch ins Auge, weshalb der geschlechterdiskriminierende Tunnelblick, der den Werken des Kulturmannes zu eigen ist, so selten hinterfragt wird. Denn als Phänomen ist der Kulturmann eigentlich schon bis ins letzte Detail ergründet – gerade in der Literatur. Bereits seit dem modernen Durchbruch, als die Kulturfrau ihren geschlechtskritischen Blick in die Öffentlichkeit einbringt, sowas von ins Abseits verfrachtet.

Als Buhlapparat, „der seine Salonerfolge stolz zur Schau trägt“, wurde Georg Brandes, der intellektuelle Starmagnet der 1880er-Jahre, bereits in Victoria Benedictssons autobiographischem Werk Stora boken (Das große Buch) enttarnt. 1916 fertigte Edith Södergran ebenjenen Männertypus mit folgendem geflügelten Wort ab: „Du suchtest eine Frau und fandst eine Seele/Du bist enttäuscht“. In Selma Lagerlöfs Charlotte Löwensköld (Ü.: Paul Berf) und Anna Svärd, beide in den Zwanzigerjahren erschienen, begegnen wir dem Kulturmann in der Figur des Karl-Artur Ekenstedt, einem Pfarrer mit poetischer Ader. Dieser besitzt – ähnlich wie Gösta Berling – einen „hochbegabten und edlen Geist (…), der zukünftige Größe verheißt“, bis sein Hochmut ihn zu Fall bringt und ihn in einen beckmessernden, lallenden Marktplatzapostel verwandelt. In Stina Aronsons Feberboken (Fieberbuch, 1931) macht sich der Dichter Hugo (Artur Lundkvist) aus dem Staub, als die Kulturfrau Mimmi eine amor intellectualis einfordert.

In sämtlichen Gattungen ist der Kulturmann mit dem Maß der Frau gemessen und als zu leicht befunden worden. Man nehme sich Tove Janssons Persiflage männlicher Autobiographien vor, Muminvaters wildbewegte Jugend (1968, Ü.: Birgitta Kicherer) und überlege, wie elegant sie Muminvaters Selbstauffassung als Genie ins Lächerliche zieht: „Ganz allgemein hält man Genies ja für anstrengend und schwierig, ich selbst habe mich davon allerdings noch nie gestört gefühlt.“

In Märta Tikkanens weltberühmtem Gedichtzyklus Die Liebessaga des Jahrhunderts (Ü.: Verena Reichel) ist er der Ehemann, der versoffene einsame Wolf, der „an die Brillanz/atemberaubender Solopartien“ glaubt. In Schwindlerinnen (2011, Ü.: Hedwig M. Binder) beschrieb Kerstin Ekman geistreich und niederschmetternd die Kunst, sich als Frau fünf Jahrzehnte lang durch eine Kulturöffentlichkeit zu lavieren, die von „männlicher Selbstverliebtheit“ beherrscht wird. Hier wimmelt es von misogynen Kulturpersönlichkeiten, großspurigen Selbstbekennern, intellektuellen Möchtegernpäpsten, und in der Schwedischen Akademie von mehr als nur einem selbstgefälligen „Herrn“, der sich am wohlsten fühlt, wenn er „Frauen unterrichten“ darf.

2013 setzte Lena Andersson die Tradition mit dem Enthüllungsporträt des Hugo Rask fort, der „große visuelle Poesie“ schafft (Widerrechtliche Inbesitznahme, Ü.: Gabriele Haefs). Und da habe ich trotzdem nur einige wenige beliebige Beispiele aus der langen und unterhaltsamen Bildungstradition herausgegriffen, die die Anspruchshaltung des Kulturmannes auf Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen gesellschaftlichen Oberklasse im Allgemeinen und auf Frauen im Besonderen auf den Prüfstand stellt.

Deswegen donnert sich der Kulturmann zum Riesen unter Zwergen auf. Er benötigt ganze Wagenladungen untergebener Adepten, die ihn unreflektiert nachahmen und ihn – um Lina Thomsgårds treffende Beobachtung einzubringen – zitieren, wenn er sich selbst zitiert. Als zusätzlicher maskuliner Beistand wird häufig ein Vertrauter zu seinem persönlichen Fahnenträger auserkoren. Karl Oves dienstwilliger Freund Geir in Knausgårds autofiktionalem Romanzyklus ist ein Beispiel hierfür. Oder Hugo Rasks merkwürdiger Gefährte Dragan, „inoffizieller Berater und Gesellschafter“. Zusammen ziehen sie als „Die 2“ eine Illusionsshow ab: „Seit Jahrzehnten saßen die beiden Kumpane Abend für Abend in Hugos Stammkneipen und sprachen über die Verkommenheit der Welt und was man dagegen unternehmen sollte.“ Lena Andersson überhöht diese Form der männlichen Freundschaft nicht, sie lässt Ester denken, Dragan sei abstoßend und hinterlistig. Gleichwohl aber ist er der beste Freund, und nur ihm teilt Rask seine wichtigsten kreativen Gedanken mit.

Sich ins Gespräch einklinken, das können Frauen sich aus dem Kopf schlagen. Das lässt sich dann so verstehen, als würden sie in ihrem Eifer, etwas herzumachen, zu viel reden, was Widerrechtliche Inbesitznahme auch zeigt. Die Frau hat die Funktion, stillschweigend die Rolle des Sexobjekts einzunehmen, sie muss als heterosexuelles Alibi herhalten für das hochgestimmte, inbrünstige Fühlifühl zwischen Männern, das Eve Kosofsky Sedgwick in ihrem Klassiker Between Men: English Literature and Male Homosocial Desire (1985) als homosoziales Begehren bezeichnet.

Dass sich der Kulturmann bei seinem Imageaufbau weiblicher Sexualobjekte bedient, war über lange Zeit der sprichwörtliche unsichtbare Elefant im Porzellanladen. Am allerschlimmsten ist die Verleugnung dann, wenn zur Aufrechterhaltung des männlichen Geniekults junge Mädchen missbraucht werden. 1979 wurde literarische Pädophilie urplötzlich zur schwedischen Hochkultur erklärt. In diesem Jahr erschien nämlich Stig Larssons Die Autisten, ein Roman, in dem sechzehn Nuancen eines Ichs Teenagern, gar einer Neunjährigen Gewalt antaten. (A. d. Ü.: Gemeint ist hier nicht  der weltberühmte Krimiautor, der 1954 in Skelleftehamn geboren wurde,  sondern der unbekannt gebliebene Regisseur, der 1955 in Skellefteå zur Welt kam.) Das Buch brachte es zu einem minor classic für aufstrebende Jungliteraten. Karl Ove Knausgård, der Larsson bewundert, debütierte 1998 mit dem Roman über die krankhafte erotische Obsession des Lehrers Henrik Vankel für die dreizehnjährige Mirjam (Aus der Welt). Und in Leben verknallt sich der Vertretungslehrer in seine dreizehnjährige Schülerin Andrea.

Nein, paranoid bin ich nicht, aber ich frage mich schon, welchen Zweck diese Dreizehnjährigen in der Literatur erfüllen. Sie üben ja bestimmt nicht bloß deshalb eine solche Anziehungskraft aus, weil sie so schutzlos sind. Claus Elholm Andersen, der die erste Doktorarbeit über Knausgårds Romanzyklus verfasst hat, meint, das Mädchen Andrea nehme – genau wie Karl Oves Frau Linda – den stummen Part in einer Dreiecksbeziehung zwischen Karl Ove und seinem allerbesten Freund Geir ein. („På vakt skal man være.“ Om litterariteten i Karl Ove Knausgårds Min kamp, 2015).

Diese Lesart hat ihre Berechtigung. Nachdem Karl Ove im zweiten Teil Norwegen verlassen hat und in Stockholm am Hauptbahnhof angekommen ist, schlägt sein Herz höher, als er auf dem Bahnsteig Geir erblickt. Die starke Anziehungskraft, die am ersten Abend zwischen den Seelengefährten besteht, blockt Geir mit einem Verweis auf Karl Oves sexuelle Beziehung zur Teenagerin Andrea ab. Zur gleichen Zeit, als Karl Ove in Stockholm seinen Kontakt zu Geir wiederaufnimmt, beginnt er seine Beziehung mit Linda.

Elholm Andersen stellt die These auf, die Freundschaft zwischen Karl Ove und Geir sei mit einem „homosozialen Begehren“ aufgeladen, laut Kosofsky ein durchgängiges Thema der literarischen Tradition. Schon seit der Ethik- und Tugendlehre des Aristoteles erlebt die männliche Zweierbeziehung eine Hochphase, und in den Bekenntnissen des Augustinus (397) ist der Erzähler von tiefster Trauer ergriffen, da der Freund, ohne den „seine Seele nicht leben kann“, tot ist. In der Frühromantik geht Friedrich Schlegel noch einen Schritt weiter und schwärmt von der Innigkeit der Freundschaft als der wahren Erhabenheit, die das innere Kunstwerk des Menschen offenlege. 

So eine magische Verschmelzung von männlicher Freundschaft mit künstlerischem Schaffen charakterisiert die Beziehung zwischen Karl Ove und Geir. „Was ich jetzt schreibe, wäre ohne ihn undenkbar gewesen“, denkt Karl Ove im letzten Teil, aus dem hervorgeht, dass er seinen Freund mehrmals am Tag anruft. Bereits im zweiten Teil ist Geir mit seinem blendenden Lächeln annähernd die wichtigste Person („einer, der unter die Oberfläche drang und damit den Unterschied ausmachte“). Aber damit es nicht ausartet (heißt: homosexuell wird), braucht es Frauen. Also auch in Min kamp. Mit Geir, schreibt Knausgård, teile Karl Ove „das Innere und das Innige“. Bei Linda, so lässt er Karl Ove selbst denken, verstummt er: hat nichts zu sagen, nichts zu denken, nichts zu antworten. Es ist also keine Überraschung, dass Linda und Geir einander verabscheuen, denn sie konkurrieren um Karl Ove. Woher kennen wir das? In Widerrechtliche Inbesitznahme gibt es zwischen Ester und Rasks Freund Dragan den gleichen Wettstreit um Hugo Rask.

Ein großer Einwand gegen den Kulturmann ist sein im Grunde reaktionäres Menschenbild. Bei seiner Kollegin, der Kulturfrau, lässt sich eine solche Vorstellung nur schwerlich finden, ihr Werk zeichnet sich nämlich oft durch ein aufrichtiges Interesse am Menschen aus, sogar für den Typus mit grandioser Persönlichkeitsstörung, zu dem auch der Kulturmann zählt. Für ihn ein Anlass, sich mit den künstlerischen Leistungen von Frauen nicht abzugeben oder sie zu banalisieren und – aus lauter Selbstbesoffenheit – lieber nach männlichen Verbündeten Ausschau zu halten.

Doch die Bestätigung durch Männer geht, wie Simone de Beauvoir in Das andere Geschlecht hervorgehoben hat, trotz allem noch immer „mit eine[r] ständige[n] Anspannung“ einher. Deshalb benötigt der Kulturmann den Typus Frau, der Männer zum Idol erhebt, denn „ihr Blick [hat] nicht die abstrakte Strenge des Männerblicks, er lässt sich betören“. Wie Lena Andersson schreibt, weiß Ester Nilsson Hugo Rask erst dann zu würdigen, als „er diesen intensiven und zugleich ungeschützten Ausdruck [zeigt].“ Mit anderen Worten: Am effektivsten springt der Kulturmann auf sofortige Bewunderungsstimulanzien an. Im Klartext: auf Schleimscheißerei. 

An dieser Stelle ist Platz für eine historische Einsicht, formuliert von Sofia, Leo Tolstoys Ehefrau und Sekretärin, die ins Grübeln kommt, als sie 1890 für ihren Gatten die Reinschrift seines Tagebuchs (97 Bände!) anfertigt: „Diese Selbstvergötterung kommt in seinen Tagebüchern überall zum Vorschein. Es ist geradezu erstaunlich, wie für ihn die Menschen nur in dem Maße existiert haben, wie sie ihn unmittelbar betrafen.“ Das ist eine präzise Beobachtung. Noch heute lebt diese Sorte Kulturmann wie in einem fest mit dem Deckel verschlossenen Einmachglas. Erst dann, wenn die Bewunderer scharenweise ans Glas klopfen, erwacht er zum Leben und zieht seine Ego-Show ab.

Denn der Kulturmann ist zuallererst auf Idealisierung aus, eine Droge, ohne die er nicht leben kann. Die Frauen braucht er, damit sie ihm das Heroin der Vergötterung besorgen und es ihm spritzen. Um „die Figur des Mannes in doppelter natürlicher Größe widerzuspiegeln“, sollen sie sich mit ihrer „magische[n] und köstliche[n] Kraft“ verfügbarhalten, so schreibt es Virginia Woolf in Ein Zimmer für sich allein. Oder wie Simone de Beauvoir die Sache auf den Punkt bringt: Der Mann verlangt von der Frau eine „Treue ohne Wechselseitigkeit“, einen Blick von außen, „der seinem Leben, seinen Unternehmungen, ihm selbst einen absoluten Wert verleiht“.

Selber kann er allerdings keine entsprechende Bestätigung zurückgeben, denn sonst bekommt der mühselige aufgebaute Mythos seiner eremitenhaften Grandezza Risse. Ebendeshalb findet der Kulturmann an den Texten der Kulturfrau keinen Gefallen; er unternimmt daher sein Äußerstes, um einen männlichen Kanon beizubehalten. Er ist sich im Klaren, dass ihm von Klassikern wie Ein Zimmer für sich allein und Das andere Geschlecht ganz übel zumute werden würde, womöglich würden sie ihn gar schonungslos bloßlegen. (Siehe Roy Andersson, der eingeräumt hat, die Vorlage für Hugo Rask zu sein, aber damit prahlt, Widerrechtliche Inbesitznahme nicht gelesen zu haben.)

Was nun, wenn Lena Anderssons Leistung darin besteht, mit Ester Nilsson die letzte Vestalin an der flackernden Flamme des Kulturmannes erschaffen zu haben? Im antiken Rom musste die Vestalin das heilige Feuer im Tempel hüten, damit es niemals verlosch. Das zumindest erklärt, wieso das Publikum gereizt reagiert, wenn sie darauf beharrt, ihren Abgott Hugo mit „dem erotischen Potenzial“ ihrer Formulierungen zu verführen. Oder die furchteinflößende Erkenntnis, dass beide nur ein Lieblingsthema kannten, nämlich Hugo Rask. Ester, die wider besseren Wissens als Stalkerin auftritt, versetzt nicht nur den Chor ihrer Freundinnen, sondern auch die Öffentlichkeit in Unruhe. Das erinnert uns an unser infantiles Bedürfnis nach einem Objekt, das wir idealisieren können, „Papa, komm nach Haus, wir sehnen uns nach dir“, wie ein anderer Kulturmann (Evert Taube, A. d. Ü.) in „Lillans sång“ schrieb – kurz, an unseren eigenen Beitrag zur Aufrechterhaltung des männlichen Geniekults.

Wie auch immer, wenn man den untertänigen Hofstaat sieht, der sich um die bejahrten Alphamännchen der Kultur schart, verwundert es natürlich, dass der Kulturmann immer noch seinen Lohn einheimsen kann, obwohl der Geniekult ja in seine Bestandteile zerlegt worden ist. Und wenn kulturell tätige Frauen dazu genötigt werden, sich selbst zu unterschätzen und sich den Kulturmann, der die vergangenen und gegenwärtigen Leistungen der Kulturfrau herabwertet, zum Vorbild erwählen, wird es bis in alle Ewigkeit so weitergehen. Mit den Scheuklappen der männlichen Monokultur ausgestattet, bringen die Kulturvestalinnen den Bluff, dass Selbstvergötterung, Koketterie und männliches Selbstmitleid eine Bedingung nicht nur für große Kunst, sondern auch für die Erhaltung des sogenannten Bildungserbes sind, in Umlauf. So wird immer neuen Generationen eingeflüstert, sie sollten wie kleine Kinder zu den Papas der Kultur aufschauen.

Eine Berliner Mauer trennt die Kulturöffentlichkeit mit einer hohen Valuta (die K-Mann-Zone) von jener mit einer niederen (der K-Frau-Zone). Durch die Grenzkontrolle schaffen es nur Männer und Frauen, die sich für eine Festigung der kulturmännlichen Dominanz einspannen lassen, heißt, die bewundern können, was Männer bewundern: Literatur, Kunst, Filme, Theaterstücke von Männern, Männerklassiker, Männer, die andere Männer bewundern. In der K-Mann-Zone gibt es eine Devise: konsequent vernachlässigen und abfertigen, was intellektuelle Feministinnen schreiben, forschen, denken – da könnte die selbstgefällige Spezies des Kulturmannes ja in Grund und Boden kritisiert werden.

Hier bezieht man sich ausschließlich auf männliche Vorläufer, männliche Theoretiker und Philosophen, die in fremden Sprachen schreiben. Das ist ein bisschen so wie in einer Militärdiktatur. Massenweise Erfüllungsgehilfen und Zampanos praktizieren den quasireligiösen Glauben an den Kulturmann, den Größten und Weisesten, der eine überlegene Definition allgemeinmännlicher Zustände abliefert. Vereinfachung ist die einzige akzeptierte Methode. Aus Mangel an Stimulanz erstarrt das Hirn schon früh, aber das tut nicht weh, und wenn es passiert, spürt man es nicht. Was Ester Nilsson, nebenbei bemerkt, an Hugo Rask beobachtet, dessen „Kopf auf hohem Niveau erstarrt zu sein und sich nicht mehr bewegt zu haben [schien]“ (die Erklärung für Hugos zwanzig Jahre alte Phrasen und Anekdoten).

Schlimmer als die selbstverliebte Dicktuerei diverser Kulturmänner allerdings ist das stümperhafte Festhalten an einer Deutungshoheit, die die Bewertung von Literatur über Jahrhunderte hinweg gleichgeschaltet hat. Im Ernst, das wirklich schadhafte Verhalten des Kulturmannes besteht in seinem Amt als höchster Wertindikator an der Kulturbörse. Dort herrscht heute noch der double standard, den Virginia Woolf bereits 1929 in Ein Zimmer für sich allein bemängelt hat, nämlich die einfältige Auffassung, dass männliche Themen allgemeinmenschlich seien, während weibliche Themen als triviale oder politische Formen einer uninteressanten Sondervariante des Menschseins abgespeist werden. Aber natürlich nicht, wenn es um Schilderungen von Frauen als Schoßhunde geht, die sich nach ihren Herrchen verzehren.

Reden wir über schwedische Preispolitik. Reden wir über Geld. Money talks. Je größer der Preis, desto weniger Preisträgerinnen – diesen Schluss legt eine einfache Suche in der Preislandschaft nahe (Stand: Frühjahr 2015). Begonnen beim Nobelpreis mit seinen kläglichen vierzehn Frauen und neunundneunzig Männern, kann man einfach nur weiterheulen: Den Övralid-Preis (300 000 SEK) haben neun Frauen, aber 62 Männer erhalten, den Nordischen Preis der Akademie (400 000) drei Frauen und 27 Männer, den großen Preis von der Gemeinschaft der Neun (300 000) 22 Frauen und 111 Männer, den Gerhard-Bonnier-Preis (200 000) fünf Frauen und 22 Männer, den Kellgren-Preis (200 000) fünf Frauen und 32 Männer, den John-Landquist-Preis (150 000) zwei Frauen und 26 Männer, den August-Preis in der Kategorie Belletristik (100 000) neun Frauen und 18 Männer, den Essaypreis der Schwedischen Akademie (100 000) neun Männer, aber keine einzige Frau. Sogar dann, wenn man das letzte Jahrzehnt mitberücksichtigt, muss man feststellen, dass die traditionelle Geschlechterquote, die es in den Kassen männlicher Autoren weitaus öfter klingeln lässt, noch immer Bestand hat.

Einzig und allein, wenn der Preis den Namen einer Frau trägt, haben die Frauen bessere – wenn auch nicht immer gleiche – Chancen. Mit dem seit 2002 vergebenen Alma-Preis (fünf Millionen Kronen) sind sieben Frauen und fünf Männer ausgezeichnet worden. Der Stina Aronson-Preis (100 000) wurde sechs Frauen und fünf Männern zugeteilt, der Astrid-Lindgren-Preis „der Neun“ (125 000) vier Frauen und zwei Männern. Den Moa-Preis, der den Wettkampf in diesem Zusammenhang für sich entscheidet, haben 27 Frauen und drei Männer erhalten. Aber der Lagerlöf-Preis (100 000) ist an 13 Frauen und 18 Männer gegangen und der Lotten von Kræmer-Preis (150 000) an 13 Frauen und 20 Männer.

Aber, kontert irgendwer, in den Jurys sitzen heutzutage doch auch Frauen. Allerdings, und das zeigt fast schon ein bisschen zu deutlich auf, dass das Patriarchat immer noch in vollem Schwange ist und auch von (bestimmten) Frauen gefördert werden kann. In diesem Kontext ist die Kulturfrau als initiiertes, bitextuelles Gegengewicht zur monotextuellen Vorherrschaft des Kulturmanns zu verstehen. Ihre ästhetischen Urteile sind in der freien Zone zu finden, westlich der Berliner Mauer. Dort hat die Demokratie das Sagen. Es geht lustiger zu, aber weniger glamourös, sprich weniger Militärparaden und schwarze Limousinen. Man liest Autor:innen, Klassiker:innen, Kritiker:innen, Forscher:innen. Anders als in der hochgejazzten K-Mann-Zone gibt es hier keinen Visumszwang. Alle, die einen voraussetzungsfreien, für verschiedene subversive Deutungen offenen Literaturdiskurs wünschen, sind hier willkommen. Es wird einem nie langweilig und man hört nie bei Papa nach, ob man frei denken darf.

Fraglos hat Ester Nilsson exemplarische Vorgängerinnen, die uns die Augen öffnen sollen. Mit ihrer Figur Thea Sundler verabreicht Selma Lagerlöf eine Schockimpfung gegen das Gebaren der Vestalinnen. Mit ihrer dümmlichen Anbetung des „Genies“ Karl-Artur streicht sie den Preis für sich ein: „Schlag mich, gib mir einen Fußtritt! Ich komme doch wieder. Mich kannst du niemals loswerden.“ In Anna Svärd (Ü.: Pauline Klaiber-Gottschau) erregen Theas Unterwerfungsgesten Abscheu, aber sie hat eine Gabe: eine ölige, schleppende, leicht lispelnde und honigsüße Stimme, mit der sie den eingebildeten Karl-Artur bezaubert und ihn glauben macht, das Niederste in ihm sei das Höchste.

Lagerlöfs Roman ist nämlich eine meisterliche Fallstudie über die Psychopathie des Kulturmannes. Unter Karl-Arturs trügerischem Charme verbirgt sich eine manipulative Unverfrorenheit. Es mangelt ihm an Schuld- wie an Verantwortungsbewusstsein, und wenn er vollen Ernstes meint, es mit Christus aufnehmen zu können, muss man sagen, dass er seinen Einfluss wohl ein bisschen überschätzt. Aber nicht schmunzeln, der Typ, der sich einbildet, dass die großen (Männer-)Geister verflossener Zeiten durch ihn hindurch sprechen, tritt genauso in den Kultursendungen von heute auf.

Auch Sara Lidman verpasst der Idealisierung des Mannes eine Klatsche. Nicht nur durch die schrittweise Entzauberung von Didrik, dem Wortführer aus dem Eisenbahnzyklus. Die Geschichte der Kronkätnertochter Märit aus Im Land der gelben Brombeeren (1955) fungiert als eine Art Entwöhnungsmittel. Märit wird von allen umschwärmt, denn sie ist so schön wie blitzgescheit, aber sucht sich aus allen ihren Brautwerbern ausgerechnet den Habenichts Robert aus, der ihrer Meinung nach eine hochentwickelte Seele haben muss, weil er wortkarg ist und eine durchscheinende Hungerhaut hat. Sie versorgt ihn und wird „ausgenutzt wie eine Kuh“. Im letzten Stadium der Schwindsucht fällt es ihr wie Schuppen von den Augen und sie sieht ihren Geliebten, wie er ist: selbstbezogen, faul und verbiestert. Als sie stirbt, bricht es aus ihr heraus: „Ach, was bin ich doch für ein Genie – heiraten sollen hätte ich dich!“

Es ist vermutlich kein Zufall, dass Ester Nilsson erst dann, als sie Hugo Rasks Leseliste (Camus, Majakowski, Tschechow und einen Band mit Hitlers Tischgesprächen) sausen lässt und sich stattdessen an ein paar Zeilen von Sonja Åkesson erinnert, mit einem Schlag erkennt, worin die künstlerische Stärke des Hugo Rask liegt: „Die reflexmäßige Lüge und das Verharren an der Oberfläche von allem Menschlichen trennten ihn davon, was er suchte. (…) Er wollte nicht verstehen, was es in anderen gab, denn dort könnten sich Aggressionen und Anklagen gegen ihn verbergen. (…) Er wollte anklagen dürfen, anstatt verstehen zu müssen. Daraus entstand begrenzte Kunst. Aber niemand war so gut darin, aus seinen Begrenzungen eine Tugend zu machen, seine Schwächen zu verbergen und sie virtuos aussehen zu lassen. Das war sein großes Talent, mit dem er die Welt betrog.“

Was für eine harsche Kritik an der Ästhetik des Kulturmannes, Treffer versenkt. Hier wird beanstandet, wie eingeschränkt die „Superkraft“ ist, eine Befähigung, mit der der Kulturmann laut Åsa Beckman seine Schwachstellen in einen „Sonettkranz“ umwandelt. In Ester Nilssons Worten entsteht daraus „begrenzte“ Kunst, die vor zwischenmenschlichen Erfahrungen zurückscheut, ein psychischer Abwehrmechanismus im Sinne Freuds, wenn auch in ansprechendem Gewand.

Deshalb kann ich Beckman ihre These, Frauen hätten sich von den Kulturmännern nicht nur wegen der Aussicht auf sozialen Status verlocken lassen, sondern auch, weil sie „mit Ideen und Gefühlen verknüpft [seien], die tatsächlich lustig, wunderbar, lebensverändernd sind“, nicht wirklich abkaufen. Diese Vorstellung speist sich eher aus dem, was der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Illusio bezeichnet – oder soziale Illusion. Die Illusio ist ein Produkt der charismatischen, fast schon religiösen Ideenlehre von einem höheren ästhetischen Schöpfertum, das sich in einer männlich codierten Bildungstradition bewegt.

Hierbei handelt es sich um ein Spiel, in das die Teilnehmenden sich selbst investieren, um die Vorteile abstauben zu können, die der Gewinner des Spiels bereits zu besitzen scheint: Macht, „Ehre“, Sex-Appeal. Hinterfragt werden darf die Illusio nicht, denn sie operiert mit allen peinlichen Zugeständnissen und hohen Einsätzen, die die Nachbeter leisten müssen, um den männlichen Geniekult fortführen zu können. Anders formuliert: Damit der Kulturmann seine zentrale Stellung auf dem kulturellen Feld beibehalten kann, müssen alle Untergebenen, Männer wie Frauen, „glauben“, er sei ein ewiges, erhabenes Phänomen, das ein Monopol auf echte Bildung habe. So ein festgewachsener kultureller Reflex hat gefährlich viel mit anderen fundamentalistischen Ideologien gemein. 

Aber bestimmt ist es nur noch eine Frage der Zeit, ehe das Gespött den Kulturmann kalt erwischt und er auf den Boden der Tatsachen plumpst. Das jedoch verlangt von den co-abhängigen Rotten, die den Traum an eine von narzisstischen Kulturmännern angeführte Geisteselite nicht loslassen können, eine aktive Selbstprüfung. Vielleicht hat ja Lena Anderssons Ester Nilsson ein Rezept hierfür: „Wer liebt, braucht nicht anzubeten. Für die Anbetenden muss das Objekt intakt bleiben, um nicht bei der Entdeckung von Mängeln zu bersten. Wer hingegen liebt, kann in seinem Urteil frei sein.“

Der kritischste Blick, deutet Lena Andersson an, ist womöglich auch der liebevollste, und in der Tradition weiblichen Schreibens hat sie viele Vorgängerinnen. Vielleicht müssen wir den Kulturmann „lieben“ (wenn auch in Maßen!), anstatt ihn zu „verehren“. Das sollte der Kulturfrau eine Chance zur (Wieder-)Entdeckung geben und uns allen eine sachkundigere und weniger eintönige Kulturdebatte.  

Beitragsbild von Randall Meng

Teuflische Intrigen, wilde Plot Twists – Theodor Fontanes Übersetzung von „Der Geldverleiher“

von Christina Dongowski

Ein grundsympathischer, hübscher junger Kerl gerät aus Hochherzigkeit und Liebe zur Tochter eines deutschen politischen Flüchtlings in die undurchsichtige und aufregende Welt des Londoner Finanzkapitals. Dabei stößt er nicht nur auf das gut gehütete Familiengeheimnis der eigenen Mutter, sondern auch noch auf die Geheimnisse einiger der fashionablesten Familien Englands. 

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Übersetzen wider die Weltliteratur

von Nicholas Glastonbury
im Original erschienen bei L.A. Review of Books
übersetzt aus dem Englischen von Tobias Eberhard

In einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1977 mit dem Titel „The Railroad Storytellers – A Dream“ schilderte der türkische Autor Oğuz Atay die Lebensumstände dreier Autoren von Kurzgeschichten, die sich nebenher als Arbeiter an einem Kleinstadtbahnhof verdingen. Einer der Autoren dient als Erzähler der Geschichte, die den dreien dabei folgt, wie sie tagsüber auf einer alten Schreibmaschine Geschichten niederschreiben, um diese dann bei Nacht den Passagieren von zwischenhaltenden Zügen feilzubieten, wobei sie stets mit Essensverkäufern um deren Aufmerksamkeit konkurrieren. Jedoch sorgen die andauernden Einschränkungen des Eisenbahnministeriums darüber, was die drei Autoren schreiben dürfen, und die Reduzierung der Personenzüge am Bahnhof dafür, dass sich ihre Umstände zunehmend hoffnungsloser gestalten. Einer von ihnen stirbt, ein weiterer fährt in einem Zug davon, und der letzte – unser Erzähler – bleibt an dem verlassenen Bahnhof zurück, eingepfercht in seiner heruntergekommenen Unterkunft, und schreibt Geschichten, die niemals jemand lesen wird. Am Ende erfahren wir, dass „The Railroad Storytellers“ selbst eine der letzten Geschichten ist, die der Protagonist jemals schreiben wird, eine Geschichte, die er jemandem – irgendjemandem – zusenden möchte, sodass ihm doch noch eine Leser*innenschaft zuteil wird: „Ich möchte ihnen schreiben, stets für sie schreiben, Geschichten ohne Unterlass, ohne Ende erzählen, sie wissen lassen, wo ich bin.“ Das Ende der Erzählung wendet sich direkt an die Leser*innen: „Ich bin hier, liebe Lesende. Wo seid ihr?“

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Geschichte und Traum – Colson Whiteheads „Harlem Shuffle“

von Peter Hintz

Für seine historischen Romane, die angesichts des Trump-Schocks an vergessene rassistische Gewalt erinnerten, ist Colson Whitehead weltberühmt geworden. Underground Railroad (2016) war ein Drama der amerikanischen Sklaverei im 19. Jahrhundert, das vor vielen Verweisen auf die Zeit danach nicht Halt machte. Vor dem Hintergrund der liberalen Civil-Rights-Ära ging es zuletzt in den Nickel Boys (2019) um eine vermeintliche Besserungsanstalt in Florida, die noch bis in 1960er Jahre hinein Schwarze Jugendliche zu Zwangsarbeit verpflichtete, folterte und ermordete.

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Vor der Grenze – Über einen Übersetzungsstreit

von Sharon Dodua Otoo

 

Es gibt eine Art von Rassismus, der böse und verwerflich ist, und bekennende Antirassist*innen sind sich einig, dass er dort bekämpft werden muss, wo auch immer er sein hässliches Haupt erhebt. Dies ist die Art von Rassismus, die ich kürzlich auf Twitter als „Argh!“-Rassismus beschrieben hörte. Er ist vorsätzlich. Er ist gewalttätig. Die Leute, die ihn ausüben, gehören geächtet. Bis auf sehr wenige Ausnahmen – in der Regel werden sie „Einzelfälle“ genannt – sind die wirklich rassistischen Menschen sowieso alle weg. Nach 1945 wurden sie weggesperrt oder sind weggestorben oder haben ihre rassistische Gesinnung ein für alle Mal hinter sich gelassen. Dieser Art von Rassismus werde ich in diesem Text keine weitere Aufmerksamkeit schenken. Weiterlesen

Hauptperson Havanna – Ein Interview mit dem Übersetzer Hans-Joachim Hartstein

Seit gut 40 Jahren überträgt Hans-Joachim Hartstein Literatur aus dem Spanischen und Französischen ins Deutsche. Er hat u. a. Werke von Georges Simenon, Léo Malet, Luis Goytisolo, Juan Madrid, Marina Mayoral, Leonardo Padura und Ernesto Che Guevara ins Deutsche übertragen – ein Gespräch über die Arbeit als Übersetzer, Entdecker neuer Autorinnen und Autoren und warum er das Feld inzwischen lieber jüngeren Kolleginnen und Kollegen überlässt.

Das Gespräch führte Viktor Funk

Herr Hartstein, in der deutschen Auslandsberichterstattung kommt Spanien nicht zu kurz und es gibt auch ein Interesse an Lateinamerika. Ist es dann leichter für Autorinnen und Autoren aus diesen Ländern, in den deutschen Buchmarkt vorzudringen?

Hans-Joachim Hartstein: Nein, das war mal ganz kurzfristig so, als García Márquez 1982 den Nobelpreis bekam, da war Interesse für Südamerika geweckt. Aber grundsätzlich ist es schwierig für spanischsprachige und lateinamerikanische Autorinnen und Autoren. Vor allem, sie neu einzuführen, ist schwierig. Es gibt einige Namen, die allgemein bekannt sind, ansonsten wird alles vom angloamerikanischen Buchmarkt erschlagen.

Sie haben unter anderem alle Bücher vom kubanischen Autoren Leonardo Padura übersetzt, ohne eine Reise nach Kuba wäre ich selbst nie auf ihn gestoßen, wie war das bei Ihnen?

Hans-Joachim Hartstein: Als Übersetzer frage ich auf Reisen manchmal Bekannte oder Freunde, was sich für Europa oder den deutschsprachigen Raum eignen könnte. So wurde ich auch auf Padura aufmerksam gemacht, las den ersten Krimi aus seinem Havanna-Quartett. Der hat mir so gut gefallen, dass ich versucht habe, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Das war Ende der 90er Jahre, 1996/97 hat das angefangen. 1994 war ich das erste Mal auf Kuba.

Die 90er Jahren waren sehr dramatisch für das Land, eine brutale Wirtschaftskrise, die sozialistischen Handelspartner verschwanden, das Land setzte auf Tourismus, litt aber dennoch sehr. Was hat Sie nach Kuba gelockt?

Hans-Joachim Hartstein: Ich wollte da schon sehr lange hin, in den 1970er und 80er Jahren war es sehr schwierig, aber als der Tourismus in den 90ern anfing, wollte ich hin. Wir hatten ein Hotel in einer Kleinstadt gewählt und bekamen schnell Kontakt zur Bevölkerung.

Was natürlich nur geht, weil Sie Spanisch perfekt sprechen. Seit wann übersetzen Sie spanischsprachige Literatur?    

Hans-Joachim Hartstein: Aus dem Spanischen übersetze ich seit Ende der 80er Jahre, ich habe aber um 1980 als Französisch-Übersetzer angefangen. Dann habe ich meine jetzige Frau 1987 in Spanien kennengelernt, und die Arbeit verlagerte sich nach und nach auf Spanien, Mittel- und Südamerika.

Dann schauen wir das konkret am Beispiel von Padura an. Sie sind auf ihn gestoßen und was passierte dann?

Hans-Joachim Hartstein: Normalerweise fragen Verlage an, ob man eine Übersetzung übernehmen will. Einem Verlag etwas selbst vorzuschlagen, ist im Moment fast unmöglich. Das war früher anders. In den 80ern, bis Mitte der 90er Jahre ist mir das schon öfters gelungen. Padura war dann später eine Ausnahme. Da war es tatsächlich so, dass ich Kontakt zu ihm aufgenommen habe, wir haben uns auf einer Buchmesse in Havanna getroffen, 1998 oder 1999 war das. Er erzählte mir, dass er Schwierigkeiten hat, Kontakte nach Europa zu finden, obwohl er in Spanien bei Tusquets Editores in Barcelona schon veröffentlicht wurde. Ich habe zugesagt, mal nachzufragen bei Verlagen, mit denen ich zusammenarbeite. Aber das ist ein unüblicher Weg, die Verlage haben ihre eigenen Scouts, und die Verlage haben miteinander Abmachungen. Und wenn ich zum Beispiel in Spanien ein Buch entdecke, sind die Rechte daran garantiert schon vergeben. Bei Padura half da ein Zufall, weil der damalige Cheflektor des Unionsverlags Thomas Wörtche in Zürich sich auch für Padura interessierte. Ich würde ihn als Alleskenner für Kriminalromane bezeichnen, deswegen hatte er Padura auch schon bemerkt. Dann kamen wir zusammen, und der Unionsverlag erwarb die Rechte für alle vier Havanna-Krimis. Ich bekam dann vom Unionsverlag den Zuschlag für die Übersetzung, darum ging es mir ja auch. Ein Literaturvermittler bin ich ja nicht.

War das der einzige kubanische Autor?

Hans-Joachim Hartstein: Ich hatte noch einen, Abel Prieto [1], er hat ein tolles Buch geschrieben. Die Verlage, die ich angesprochen habe, waren begeistert, ich habe ein paar Kapitel vorübersetzt und ihnen gezeigt. Nur hatte Prieto den großen Fehler, wenn man so sagen will, für den deutschen Markt, dass er damals schon Kultusminister war und damit Mitglied der kubanischen Regierung und der Parteispitze und war dann für die Verlage plötzlich nicht mehr interessant.

War das ein politisches Buch?

Hans-Joachim Hartstein: Nein, es handelte von einer Gruppe Jugendlicher, die in den 70er und 80er Jahren erwachsen werden, mit all den Problemen. Es war auch andeutungsweise kritisch, es hat nicht die stramme Parteilinie verfolgt, trotzdem wurde das nicht veröffentlicht.

Padura würde ich einerseits nicht als politischen Schriftsteller bezeichnen, aber seine Alltagsdarstellung ist im Zweifel eher kritisch. Wie wird er hier in Deutschland angenommen?

Hans-Joachim Hartstein: Das Echo, das ich kenne, ist durchweg positiv und interessiert. Man erfährt durch ihn sehr viel über den Alltag, hauptsächlich in Havanna. Das ist ja quasi die Hauptperson jedes seiner Romane, Kubas Hauptstadt Havanna.

Welche andere Autorinnen oder Autoren aus Lateinamerika haben Sie übersetzt?

Hans-Joachim Hartstein: Zum Beispiel zwei Bücher von Óscar Martínez, eins hat er allein geschrieben und eins mit seinem Bruder Juan José Martínez.[2]  Die Bücher handeln von der Situation in El Salvador, von den Bandenkriegen, der Kriminalität, der Situation in den Gefängnissen und wie das überhaupt entstanden ist, dieses Bandenwesen in El Salvador und überhaupt in Mittelamerika. Und wie so oft ist der Ursprung in den USA zu suchen, aber das führt hier zu weit. Es ist einerseits ein Sachbuch, andererseits wird am Beispiel einer Person gezeigt, wie so etwas möglich ist. Besonders im zweiten Buch wird beschrieben, wie dieser junge Mann, der mit 32 ermordet wird, selbst zu einem Mörder geworden war, schon als Kind. Es ist sehr berührend geschrieben, obwohl es ein Sachbuch ist.

Wie erfolgreich sind solche Bücher aus einem Land, das wenig beachtet wird in Deutschland?

Hans-Joachim Hartstein: Solche Bücher zu machen, das ist schon selbstloses Handeln. Solche Bücher muss der Verlag dann durch andere Bücher finanzieren.

Auf 54books erschien einmal ein Gespräch mit dem Persisch-Übersetzer Mahmoud Hosseini Zad. Er erzählte davon, dass im Iran deutsche Literatur, Klassiker und auch neuere, beachtet werden, dass in Deutschland Literatur aus dem Iran aber kaum zu finden ist. Wie ist es mit Kuba?

Hans-Joachim Hartstein: Nach meiner Erfahrung eher umgekehrt. Deutsche Literatur ist dort lediglich bei Studenten, Professoren oder Leuten bekannten, die sich beruflich damit beschäftigen. Aber sonst nicht. Es liegt auch daran, dass es dort an allem fehlt, an Papier, an Geld, an allem. Deswegen wird wenig veröffentlicht. Und hier sind neben Padura auch noch einige kubanische Klassiker bekannt wie Alejo Carpentier oder Gabrera Infante. Zugleich ist es aber so, dass wir die aktuelle Szene aus Kuba auch kaum kennen.

Bei Padura ist neben der Stadt Havanna die zweite Hauptperson seiner Romane Mario Conde. Er war lange Polizist, dann wurde er zu einer Art Privatermittler. Ich habe mich manchmal gefragt, ob er überzeichnet ist. Er ist ein Macho, hat ein kompliziertes Leben, philosophiert viel und ist zugleich herzensgut. Wie realistisch sind die Alltagsdarstellungen und die Beschreibungen der Menschen in Paduras Büchern?

Hans-Joachim Hartstein: Sehr repräsentativ. Das sind so auch Charaktere, die ich dort kennengelernt habe. Wenn ich die Bücher lese, meine ich, die Menschen zu kennen, angefangen bei Mario Conde. Sein Freundeskreis, der da beschrieben wird, der ist mir sehr gegenwärtig, auch alle Ausdrucksweisen kenne ich.

Diese Macho-Kultur in den Büchern, die sieht man auch im Land.

Hans-Joachim Hartstein: Ja, das hat auch der Sozialismus nicht geschafft einzuschränken, ein wenig vielleicht. Die Situation ist ja folgendermaßen: Die Frauen sind sehr, sehr selbstbewusst, weil eben auch berufstätig selbstverständlich. Sie sind unabhängiger. Trotzdem ist die Macho-Kultur sehr spürbar. Ich will’s mal so sagen: Es ist sehr einfach dort nicht als Macho zu gelten. Man fällt dann eher positiv auf.

Die Frauen in Paduras Büchern sind eher so Nebenfiguren, oft im sexualisierten Kontext.

Hans-Joachim Hartstein: Ja, das schon. Aber sie wissen auch, was sie wollen, lassen häufig Conde abblitzen, er sieht nicht immer gut aus. Es steht dann oft als der Dumme da und trinkt dann wieder mit seinen Freunden.

Sind die spanischsprachigen Buchmärkte auch von Männern dominiert wie in Europa?

Hans-Joachim Hartstein: Auf jeden Fall.

In Deutschland gab es in den vergangenen zwei, drei Jahren Diskussionen darüber, wie viele Männer die Verlage erscheinen lassen und wie viele Frauen. Gibt es solche Diskussionen in der spanischsprachigen Buchwelt?

Hans-Joachim Hartstein: Insgesamt dominieren Männer da den Markt, mehr noch als hier. Natürlich gibt es auch Schriftstellerinnen, aber ich finde die nicht. Ich habe zum Beispiel die Spanierinnen Carmen Laforet übersetzt oder Marina Mayoral. Und in Lateinamerika, auf Kuba, kenne ich persönlich keine Schriftstellerin. Obwohl ich da immer drauf dränge und danach frage und auch deutsche Verlage da Interesse haben. Idealtypisch dann eine Schriftstellerin 35 bis 40 Jahre mit zwei bis drei veröffentlichten Romanen.

Wenn in Kuba das Geld und das Papier fürs Herausgeben der Bücher fehlen, wie ist es mit dem Lesen, wird viel gelesen, gehören Bücher da zum Alltag?

Hans-Joachim Hartstein: Oh ja, aber anders. Hier liest man ein Buch, findet es gut und sagt: Kauf es dir auch mal. Dort gibt es private Wartelisten. Wenn jemand ein Buch ergattert hat, dann wird es weitergereicht. Es ist völlig üblich, dass zehn, fünfzehn, zwanzig Menschen dasselbe Buchexemplar lesen. Wenn ich zum Beispiel spanischsprachige Bücher mitbringe nach Kuba, entsteht sofort eine Warteliste unter den Bekannten.

Weil die Bücher teuer sind?

Hans-Joachim Hartstein: Nein, weil sie nicht vorhanden sind. Es gibt zu wenig. Wenn man eins ergattert, dann ist es billig. Vor allem sind die Bücher nicht in den Buchläden zu finden, da sieht es wirklich mau aus. Der große Hype sind die Buchmessen, die von einer Provinz in die nächste ziehen. Die Saison beginnt in Havanna Ende Februar, dann zieht die Messe weiter. Das sind reine Verkaufsmessen für die Leserinnen und Leser. Da muss man dann ganz schnell sein und Bücher kaufen, denn es gibt einfach zu wenige, es werden zu wenige gedruckt, das ist eine finanzielle Frage. Vor allem vor den Ständen mit Kinderbüchern stehen viele Kinder und Jugendliche an, um ein Buch zu bekommen, das ist wirklich atemberaubend, das zu sehen.

Zum deutschen Buchmarkt: Haben Sie den Eindruck, dass das deutsche Publikum offen wäre für mehr Literatur aus Lateinamerika? Trauen sich die Verlage nicht, hier mutiger zu sein und hier noch unbekannte Autorinnen und Autoren zu verlegen?

Hans-Joachim Hartstein: Ich bin mir sicher, dass das Interesse beim Publikum da wäre. Aber es ist natürlich auch immer die Frage des finanziellen Einsatzes. Nehmen wir zum Beispiel Paduras Der Mann, der Hunde liebte, das ist ein Buch von mehr als 700 Seiten. Da müssen die Rechte bezahlt werden, dann die Übersetzung und dann die Erstellung, Marketing … da kommt viel zusammen. Und da trauen sich viele Verlage nicht. Ich habe zum Beispiel ein höchst interessantes Buch aus Uruguay, das ähnlich wie Padura auf Fakten basierend eine Geschichte über die Diktaturen in Uruguay, Argentinien und so weiter, die sich gegenseitig die Widerstandskämpfer ausgeliefert haben. Das Buch hat den Nachteil, dass es rund 1000 Seiten hat, das ist für die Verlage in der Investition ganz einfach zu teuer. Das ist mit us-amerikanischen Schriftstellern leichter, da kann man schon 1000 Seiten produzieren, die verkaufen sich dann auch millionenfach. Bei Büchern aus Lateinamerika ist der Einsatz zu hoch und es ist fast sicher, dass es sich nicht so gut verkauft. Und einen langen Atmen mit einer Autorin oder einem Autor zu haben, das trauen sich höchstens die unabhängigen Verlage, aber die haben oft kein Geld.

Der Soziologe Norbert Elias, der in den Niederlanden lebte, sagte, dass vor allem kleine Länder große Probleme haben, die Literatur aus ihrer Sprache, bekannter zu machen …

Hans-Joachim Hartstein: Manchmal gibt es einen Hype um jemanden, dann bekommt man einen kleinen Einblick, wie damals, nach der Verleihung des Nobelpreises an den Kolumbianer García Márquez, in die lateinamerikanische Literatur. Und einen Niederlanden-Hype gab es auch mal, denken wir nur an Leon de Winter, Cees Nottenboom, Margriet de Moor. Auch über die Rolle des Gastlandes auf der Frankfurter Buchmesse bekommt ein Land mal kurz Aufmerksamkeit, aber lange hält sich das alles nicht. Für kleine Verlage, die vielleicht mutiger sind, gibt es außerdem kaum die Möglichkeit, ihre Bücher auf den Tischen am Eingang der Buchläden zu platzieren. Die Platzierungen der Bücher in den Läden werden ja bezahlt. Um eine neue Autorin einzuführen muss man sehr gut vernetzt sein, das ist für die Vielfalt natürlich nicht förderlich. Das ist schon für deutsche Autoren schwer, für jemanden aus anderen oder gar kleinen Ländern ist es doppelt und dreifach schwer.

Was entgeht uns denn?

Hans-Joachim Hartstein: Uns entgeht die Möglichkeit, die Kulturen kennenzulernen. Wir haben jetzt noch gar nicht von asiatischen Ländern gesprochen oder afrikanischen, das ist ja in unserer Wahrnehmung noch weiter weg.

Soweit müssen wir gar nicht gehen, mein Eindruck ist, dass osteuropäische Literatur auch kaum wahrgenommen wird in Deutschland, nur, wenn wichtige Preise vergeben werden wie für die Polin Olga Tokarczuk oder Zsuzsa Bánk, die ungarische Wurzeln hat. Dann erhöht sich die Wahrnehmung …

Hans-Joachim Hartstein: … aber auch nur für diese Autorinnen, sonst nichts.

Dabei beschäftigen wir uns politisch geradezu obsessiv mit dem Osten.

Hans-Joachim Hartstein: Ja, so geht es mir tatsächlich auch. Ich interessiere mich nun wirklich für die Literatur, aber ich weiß auf Anhieb nicht, ob ich denn jemals einen ukrainischen Schriftsteller gelesen hätte. Das gleiche gilt für den Balkan.

Sie sind ja seit Jahrzehnten im Geschäft, wie hat sich eigentlich die Arbeit eines Übersetzers in dieser Zeit verändert?

Hans-Joachim Hartstein: Verändert hat sie sich auf jeden Fall, ob etwas besser oder schlechter ist – mit solchen Bewertungen bin ich vorsichtig. Anders betrachtet: Wer heute neu als Übersetzer oder Übersetzerin anfangen will, hat es schwerer, Aufträge von Verlagen zu bekommen. Es sind sehr viele, es war früher nicht so überfüllt, sagen wir’s mal so.

Es gibt heute mehr Konkurrenz?

Hans-Joachim Hartstein: Das zum einen, aber die Verlage machen teilweise auch Angebote, die eigentlich nicht in Frage kommen. Die gehen sehr weit runter mit dem Preis, jüngst habe ich sogar gehört, dass erstmal eine Gratisübersetzung verlangt wurde, quasi ein Buch als Praktikum, eine Art Bewährung. In diesem Punkt ist die Situation offensichtlich schwieriger geworden. Wenn ich mir überlege, wie ich angefangen habe …

Wie war das?

Hans-Joachim Hartstein: Ich habe damals beim Diogenes Verlag schlichtweg angerufen und wurde mit dem damaligen Cheflektor Gerd Haffmanns (später Gründer des gleichnamigen Verlags) verbunden. Und der hat mich dann an die Lektorin Irene Riesen verwiesen, sie suchte gerade Übersetzer für die zahlreichen Maigret-Romane des Belgiers Georges Simenon. So bin ich dann reingekommen. Heute ist es viel schwieriger, sich mit den Verlagen in Kontakt zu setzen. Der persönliche Kontakt ist aber wichtig, wenn man sich kennenlernte, bekam man dann neue Aufträge, nur so ging das.

Wie viel übersetzen Sie heutzutage noch?

Hans-Joachim Hartstein: Ich habe ja schon das gesetzliche Rentenalter erreicht, bin 1949 geboren. Die Rente ist aber so bescheiden, dass ich gerne noch übersetze und das auch brauche. Aber ich gebe keine Seminare mehr an der Uni Düsseldorf, da war ich früher aktiv im Studiengang Berufsübersetzerinnen und -übersetzer. Irgendwann muss man das einfach Jüngeren übergeben.

Das können manche nicht, klammern sich dann an so etwas fest.

Hans-Joachim Hartstein: Ich kann das ganz gut, weil ich merke, dass sich vieles geändert hat.

Die Sprache, oder was meinen Sie?

Hans-Joachim Hartstein: Die Sprache sowieso, das war aber früher nicht anders. Man muss unterscheiden, ob es sich um eine der permanent stattfindenden Veränderungen der Sprache oder um eine Verschluderung oder Verflachung der Sprache handelt. Ich meine aber auch die Art und Weise wie mit digitalen Medien umgegangen wird, zum Beispiel Wörterbücher. Einsprachige, zweisprachige, Synonymwörterbücher – das geht jetzt alles mit einem Klick. Das hat aber den Nachteil, dass dann nicht mehr so viel nachgedacht wird. Es wird angeklickt und was da steht, wird genommen. Doch dann beginnt die eigentliche Arbeit: Passt der gefundene Ausdruck zum Kontext? Oder muss ich „in der Nähe“ suchen, um gegeben falls etwas Passenderes zu finden. Ich habe dann vor einigen Jahren gemerkt, jetzt muss ich loslassen können, obwohl ich wirklich gerne gelehrt habe.

Wenn Sie jetzt nicht mehr so viel übersetzen müssen, wählen Sie jetzt gezielter aus, was Sie machen?

Hans-Joachim Hartstein: So häufig kommen die Anfragen für spanischsprachige Bücher nicht bei, das ist nicht so üppig. Aber was ich an Anfragen bekomme, das interessiert mich auch immer, wie der Óscar Martínez über El Salvador. Das ist wahnsinnig interessant, weil wir da nicht so viel drüber wissen. Nur, dass es da sehr kriminell ist, aber warum, weshalb, wie kam es dazu, das wissen wir nicht. Und ich lerne beim Übersetzen ja enorm viel.

Wie klären Sie etwas, wenn Sie unbekannte Themen übersetzen.

Hans-Joachim Hartstein: Ich habe schon zum Beispiel das eine oder andere Mal mit der Polizei gesprochen, wenn ich Krimis übersetzt habe, um zu erfahren, wie was genau abläuft. Ich habe einfach angerufen, die staunen zuerst, aber die wehren nichts ab und erklären gerne, die freuen sich auch. Einmal war ich auch im Generalvikariat hier in Münster, weil ich einmal eine Geschichte übersetzt habe über einen Bischof, der ein kleines Mädchen  als Patenkind aufgezogen hat, ihr eine Schulbildung und so weiter ermöglicht hat. Da gab es sehr viele kirchliche Ausdrücke. Ich war zwar mal Messdiener, aber vieles wusste ich doch nicht. Es waren viele Dinge, wie zum Beispiel die Anreden, wie redet man richtig einen Bischof an und wie redete man ihn vor 50 Jahren an, da gibt es auch einen Unterschied. Und da bin ich dann dahin marschiert und der damalige Bischof Lehmann hat mir das alles erzählt, es war ein sehr angenehmes Gespräch.

Sie recherchieren also auch selbst.

Hans-Joachim Hartstein: Ja. Da hilft das Internet natürlich sehr, aber auch nicht immer. Früher war man aber viel stärker darauf angewiesen, dass es jemand einem erklärt. Man musste irgendwo anrufen. Es ist schon interessant, dass das jetzt ein bisschen verloren geht durch das Internet. Früher hat man die unmöglichsten Dinge unternommen, um an Informationen zu kommen. Telefon natürlich, Briefe, Kontakte, Kollegen, die jemanden kennen, der weiterhelfen kann; oder Ansprechen von Personen, die sich auskennen müssen, z.B. bei kriminaltechnischen Fragen hilft gerne die Polizei, bei Fragen zur Kirche eben kirchliche Stellen (Beispiel: Wie wurde in den Zwanzigerjahren ein Bischof angesprochen? Wie werden die verschiedenen Kopfbedeckungen eines Würdenträgers bezeichnet? Dafür war ich im Generalvikariat Münster.) Bei Padura gibt es zum Beispiel viele Baseball-Ausdrücke, die musste ich erst verstehen. Ich habe ihn gebeten, mal über Fußball zu schreiben, aber für ihn zählt nun mal Baseball. Es war auch ein befriedigendes Gefühl, wenn man etwas rausgekriegt hat.

Ist das Übersetzen eigentlich eine genauso einsame Tätigkeit wie das Schreiben von Büchern?

Hans-Joachim Hartstein: Ja. Und ich liebe es. Das muss man wirklich vorher wissen. Und wenn man das nicht mag, sollte man das lieber nicht tun. Das ist eine einsame Geschichte.

 

[1] Abel Prieto, Jahrgang 1950, war 1997 bis 2012 und Juli 2016 bis Juli 2018 Kulturminister in Kuba. Er ist Literaturwissenschaftler und Schriftsteller.

[2] Bücher von Óscar Martínez  und Juan José Martínez: „Eine Geschichte der Gewalt“ 2016 und „Man nannte ihn El Niño de Hollywood“ 2019, beide Bücher: Verlag Antje Kunstmann

Empfehlungen von Hans-Joachim Hartstein:

  • Juan Marsé: Die obskure Liebe der Montserrat Claramunt. Moos, 1991.
  • Marina Myoral: Helena. Marion von Schröder Verlag, 1997.
  • Carmen Laforet: Nada. Claassen, 2005.
  • Antonio Ortuño: Madrid, Mexiko. Antje Kunstmann Verlag, 2017.

 

Titelbild von Viktor Funk