Schlagwort: Politik

Normalisierte politische Gewalt

von Annika Brockschmidt

Am 4. Dezember 2022 trafen acht Kugeln das Haus des Bernalillo County Commissioner Adriann Barboa. Am 11. Dezember folgten 12 Kugeln. Am 3. Januar diesen Jahres schlugen drei Kugeln in das Haus von Linda Lopez, Senatorin von New Mexico, ein, die den Distrikt 11 vertritt. Sie durchschlugen das Fenster des Schlafzimmers ihrer zehnjährigen Tochter, die zum Zeitpunkt des Angriffs schlief und durch die Schüsse geweckt wurde. Nachdem der State Representative (Bundesstaats-Abgeordnete) Javier Martínez von den Anschlägen auf die Häuser seiner Kollegen gehört hatte, überprüfte er sein eigenes Haus – und fand Einschusslöcher. Ziel der Anschläge waren in öffentliche Ämter gewählte Demokraten.

Weiterlesen

Taliban, Reichsbürger, Nazis – Die Kritik an Klimaaktivist*innen hat sich radikalisiert

von Simon Sahner

Die Radikalisierung im Kampf um die Abwendung der Klimakatastrophe war lange befürchtet worden. Jetzt ist sie da. Im Streit um die aktuelle Aktion der sogenannten „Letzten Generation“ ist sie unübersehbar. Radikalisiert haben sich allerdings weniger die Aktivist*innen, sondern vielmehr ihre Kritiker*innen – jedenfalls auf einer verbalen Ebene.

Am vergangenen Wochenende hatten einige Vertreter*innen der „Letzen Generation“ das Denkmal „Grundgesetz 49“ an der Berliner Spreepromenade mit einer Flüssigkeit beschmiert, die sie selbst in Anführungszeichen als „Erdöl“ bezeichneten. Später stellte sich heraus, dass es sich um Tapetenleim und schwarze Dispersionsfarbe gehandelt hatte. Längst ist das Denkmal wieder sauber. Die unzureichende Klimapolitik, so die Aussage der Aktion, beschädigt unsere Grundrechte. Die Aktivist*innen inszenierten, was sie den Politiker*innen vorwerfen: Klimapolitik geht nicht weit genug und zerstört das, was unseren Staat und unser System zusammenhält. Das Grundgesetz verschwindet hinter den Wirtschaftsinteressen der Politik – dargestellt durch das „Erdöl“, das den Grundgesetzestext auf dem Denkmal unlesbar werden lässt. Das Grundgesetz per se war nie in Gefahr und sollte nicht zerstört werden, auch nicht symbolisch. Ein Akt, der in seiner Aussage relativ klar scheint – so klar, dass es beinahe überflüssig ist, ihn hier zu erläutern.

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob einige Politiker*innen und Journalist*innen nicht Willens oder nicht in der Lage waren, diese Ebenen und die Aussage der Aktion zu erkennen. Sie demonstrierten jedenfalls vor allem eines: Eine rhetorische Radikalisierung. Frank Müller-Rosentritt, Bundestagsabgeordneter der FDP, warf den Aktivist*innen vor „gegen den Staat und gegen die freiheitlich, demokratische Grundordnung“ zu stehen und beschimpfte sie als „Abschaum“. Kristin Lütke, ebenfalls FDP, behauptete, die Verfassung sei mit Füßen getreten worden. Alexander Throm von der CDU äußerte, die „Letzte Generation“ habe ihre „Missachtung gegenüber unserem Grundgesetz deutlich gemacht.“ Noch einen Schritt weiter trieb es der SPD-Abgeordnete Michael Roth, der der „Letzten Generation“ vorwarf „ähnlich wie die Taliban“ Kunst zu zerstören. Der Journalist Nikolaus Blome wiederum befürchtete, als nächstes würden Bücher verbrannt und verglich die Klimaschützer*innen mit der Reichsbürger-Bewegung.

Drastische Vergleiche und Diffamierung

Man muss sich darüber wundern, dass anscheinend keine dieser Personen, deren Aufgabe es unter anderem ist, das alltägliche Theater des politisch-gesellschaftlichen Diskurses zu verstehen, die Aussage der Aktion erkannt hat, oder besser: erkennen wollte. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass sie entweder bereits so voller Wut auf die Aktivist*innen sind, dass ihre Tweets und Äußerungen Kurzschlussreaktionen darstellen, oder dass sie selbst die gebotene Bühne für eine Inszenierung ihrerseits nutzen wollten. Die Vergleiche, die sie bemühten, könnten jedenfalls drastischer nicht sein. Mit den Bücher verbrennenden und Menschen vernichtenden Nationalsozialisten, den kulturzerstörenden und mordenden Taliban und den staatsfeindlichen Reichsbürgern stehen hier die Aktionen in einer Reihe mit Menschheitsverbrechen und rechtsrevolutionären Umsturzversuchen. 

Dass die Menschen hinter dem Protest gleichzeitig noch in menschenfeindlicher Überspitzung als „Abschaum“ bezeichnet werden, überdreht die verbale Eskalationsspirale vollständig. Die Masse an solchen verbalen Entgleisungen aus einem Umfeld, das einen Teil der Gewalten des Staates repräsentiert, ist erschreckend. Vor allem, weil sie als die Legitimierung einer Entwicklung erscheinen, die teilweise nicht mehr bei verbalen Attacken bleibt. Längst sind Klimaschützer*innen immer wieder das Ziel körperlicher Übergriffe und Gewalt. Mit wutentbrannten Gesichtern ziehen Autofahrer*innen Aktivist*innen von der Straße, treten nach ihnen oder fahren direkt auf sie zu, wobei Demonstrant*innen teilweise auch schon angefahren wurden. Auch die Schmerzgriffe, die die Polizei teilweise anwendet oder androht, reihen sich hier ein.

Die Aussagen der Politiker*innen und Journalist*innen befeuern damit eine Stimmung, die offenbar in Teilen der Bevölkerung herrscht und die gefährliche Ausmaße annimmt. Dabei sind die Vergleiche mit Nazis, Taliban und Reichsbürgern nicht nur haarsträubend, sie zeigen auch, wie die Klimaaktivist*innen bis in die höchsten Kreise des Staates und der Gesellschaft gesehen werden: Als Staatsfeinde und Terrorist*innen. Bisher war es meistens allerdings die RAF, zu der eine Linie gezogen wurde. Dass die „Letzte Generation“ mit der RAF nichts gemein hat, hat vor nicht allzu langer Zeit Bernd Ulrich in der ZEIT überzeugend erläutert. 

Auf dem Boden der demokratischen Grundordnung

Das gilt auch für alle anderen terroristischen Gruppen. Die Ziele der Aktivist*innen sind gerade nicht der Staat und unsere Grundrechte. Im Gegenteil, die Aktion vom Wochenende zeigt in ihrer Symbolik sehr deutlich, dass ihnen das Grundgesetz am Herzen liegt und sie es durch die Politik beschmutzt sehen. Während Reichsbürger und ehemals die RAF den Staat und seine demokratische Grundordnung zerstören wollen, will die „Letzte Generation“ genau das beschützen. Ihre Forderungen an die Politik stehen so zentral auf der Grundlage eines demokratischen Systems und fußen auf Respekt vor Politik und Demokratie, dass der Vorwurf der Staatsfeindlichkeit absurd erscheint.

Die Einführung eines Tempolimits von 100 km/h, ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket und einen Gesellschaftsrat, „der Maßnahmen erarbeitet, wie Deutschland bis 2030 emissionsfrei wird“ – das ist alles. Durch die Erläuterungen dieser Forderungen zieht sich durchgehend der Respekt für demokratisch gewählte Politiker*innen als zentrale Wirkungsträger*innen für die Umsetzung dieser Forderungen. Die demonstrative Bereitschaft zur Diskussion, die auf der offiziellen Website der Bewegung beschrieben wird, ist beeindruckend und zeugt von einem grundsätzlichen Interesse an Debatten, das man auf Seiten ihrer Gegner*innen kaum findet. Explizit ist da die Rede davon, dass die Teilnehmenden an dem geforderten Klimarat „per Los gefunden“ werden sollen. „Veganer:innen und Autofans“ sollen gemeinsam zu Lösungen kommen.

Diskutieren statt Diffamieren

Die Forderungen kann man im Kern diskutieren und ob ein universelles Monatsticket jetzt 9€ oder vielleicht auch 19€ kosten könnte und auch ob das Tempolimit am Ende doch bei 120km/h liegt, wäre Verhandlungsmasse. Von einem Angriff auf Staat und Ordnung ist aber nirgendwo etwas zu sehen. Und das wissen auch diejenigen, die der „Letzten Generation“ genau das vorwerfen. Entscheidend ist vielmehr, dass die scharfe Verurteilung der Aktionen und die Parallelisierung mit Terror und Staatsfeindlichkeit vor allem zwei Effekte hat. Der eine ist das Schüren einer grundsätzlichen Wut in Teilen der Bevölkerung, die sich – nicht zu Unrecht – von der „Letzten Generation“ gestört fühlt. 

Viel sinnvoller und der Funktion von Politik angemessener wäre es, Brücken zwischen aufgebrachten Aktivist*innen mit nachvollziehbaren Anliegen und aufgebrachten Bürger*innen, die im Stau stehen, zu schlagen. Beispielsweise, indem man die Forderungen anerkennt, sie zur Debatte stellt und der Öffentlichkeit aufzeigt, dass die Ideen der „Letzten Generation“ grundsätzlich vor allem eines nicht sind: Absurde Vorschläge, die unsere Ordnung bedrohen.

Der zweite Effekt der verbalen Radikalisierung aus der Politik ist eine Absicherung der eigenen Position. Mit Terrorist*innen wird nicht verhandelt und mit Extremist*innen auch nicht. Wenn man also Menschen mit diskutierbaren Forderungen zu Terrorgruppen und extremistischen Organisationen erklärt, schließt man sie damit aus dem offiziellen Diskurs aus und muss sich zumindest auf einer Sachebene auch nicht mehr mit ihnen auseinandersetzen. Anders als terroristische Vereinigungen, mit denen tatsächlich nicht debattiert werden sollte, respektiert die „Letzte Generation“ den Staat und seine demokratische Grundordnung allerdings auf einer ganz grundsätzlichen Ebene. Der erste Wert, den sich die „Letzte Generation“ auf die Fahne schreibt, ist Gewaltfreiheit in Verbindung mit einer Bestätigung des Rechtssystems: „Wir akzeptieren die Konsequenzen unserer Taten und stehen mit unserem Gesicht und unserem Namen dazu.“ Deswegen ist die Gleichsetzung mit der Reichsbürger-Bewegung auch faktisch falsch.

Wer schadet dem Klimaschutz?

Man kann von den Aktionen der „Letzten Generation“ halten, was man will, und ob die unterschiedlichen Formen des Protests jede für sich genommen legitim und sinnvoll ist, ist diskutabel. Ob es eine angemessene Geste ist, ein Denkmal mit Farbe zu beschmieren, das von einem israelischen Künstler zu Ehren des Textes geschaffen wurde, der die erste stabile Demokratie auf deutschem Boden hervorgebracht hat, ist zumindest fragwürdig. Dazu gehört aber auch die Wahrheit, dass hunderttausende Jugendliche bei den Protesten von Fridays For Future zwar ein neues Bewusstsein für Klimaschutz erzeugt haben, das jedoch nicht zu zentralen Politikwechseln geführt hat, die ausreichen würden, um die größten Auswirkungen der Klimakatastrophe abzuwenden. 

Der Vorwurf der Bundesinnenministerin Nancy Faeser, die Aktion habe dem Klimaschutz geschadet, ist deswegen auch absurd. Dem Klimaschutz schadet in erster Linie die Politik, wenn sie nicht handelt und dazu gehört auch die Vermittlung notwendiger, unpopulärer Entscheidungen. Eine Bewegung zu diffamieren, deren Forderungen zumindest in ihrer vernünftigen Grundhaltung anerkannt werden könnten, schadet jedenfalls dem Klimaschutz mehr als die ein oder andere unbedachte Aktion, bei der außer materiellem Minimalschaden nichts passiert ist.

Man muss von Politiker*innen und Journalist*innen nicht erwarten, dass sie bei Protestaktionen, die Straßen blockieren und Denkmäler und Gemälde symbolisch beschmutzen – zerstört wurde keines – applaudierend daneben stehen. Man kann aber erwarten, dass ihre Kritik differenziert und angemessen ist und dass sie versuchen, sich konstruktiv mit dem auseinanderzusetzen, was solche Aktionen auslöst. Sonst sind es am Ende manche aus Politik und Journalismus, die sich vorwerfen lassen müssen, einen Diskurs radikalisiert und dem Klimaschutz geschadet zu haben.

Foto von Markus Spiske auf Unsplash

Uns bleibt immer noch Martin Walser – Pappfiguren von Juli Zeh und Simon Urban

von Eva-Sophie Lohmeier

Wer einen Roman schreibt, muss sich rechtfertigen. Es braucht schließlich gute Gründe, um ein paar hundert Seiten zu schreiben und zu erwarten, dass sie gelesen werden. Die besseren Autor*innen schreiben Romane, weil sie eine komplexe Frage umtreibt und ein Roman die Möglichkeit bietet,  sie gefahrlos aus allen Perspektiven betrachten zu können, ohne sie sich gleich zu eigen zu machen. Und dann gibt es Autor*innen, die haben keine Fragen, die wollen vor allem anderen etwas erklären, weil sie glauben, sie hätten schon alles verstanden. Die schneiden sich zwei Pappfigürchen aus und spielen damit pro Forma ein bisschen Pro und Contra, wissen aber eigentlich längst alles. Die erfolgreichste Pappfigürchenautorin Deutschlands heißt Juli Zeh.

Seit einigen Büchern nun macht sich Juli Zeh nicht einmal mehr die Mühe, neue Pappkameraden auszuschneiden, sie nimmt einfach die alten und stellt ein bisschen was um. Ihr neuer Roman „Zwischen Welten“ ist in Co-Autorschaft mit Simon Urban verfasst worden, was man aber nicht merkt. Es ist ein typischer Zeh-Roman mit typischem Zeh-Personal. Auf der einen Seite Stefan, der Kulturchef einer Hamburger Wochenzeitung, Stadtmensch, Gendersternchenbenutzer und Fair-Trade-Kaffeetrinker, der sich ständig um das Weltklima und die Befindlichkeiten von Minderheiten sorgt.

Er ist eine ähnliche Karikatur zeitgenössischen Bürgertums, wie es schon der freie Journalist Robert in „Über Menschen“ war, der Mülltrenner und Greta-Fan, Corona-Maßnahmen-Einhalter und mit einem „politischen Waschzwang“ geschlagen, an dem die Beziehung zu Protagonistin Dora letztlich scheitert. Dora zieht in “Über Menschen” nach Brandenburg und setzt sich mit der Scholle und den Dorfnazis auseinander. In „Zwischen Welten“ ist die weibliche Hauptfigur Theresa schon vor Jahren aufs Land zurückgezogen, um den väterlichen Bauernhof zu übernehmen, aber AfD-Wähler mit goldenem Herzen gibt es auch dort.

Walser-Romane und WhatsApp-Chats

Annähern müssen sich diesmal allerdings Theresa und Stefan, die vor Jahren zusammen Germanistik studiert haben, gemeinsam Martin-Walser-Romane lasen, in einer WG zusammenlebten und fast wie Geschwister waren, bis Theresa davonlief, sich nicht mehr meldete und Kuhbäuerin wurde. Martin-Walser-Bücher hat sie schon lange nicht mehr gelesen, als die beiden sich in Hamburg zufällig über den Weg laufen. Nun entspinnt sich das Folgende – Annäherung, Streit, Versöhnung, zunehmende Zuneigung – in Form von E-Mails und WhatsApp-Nachrichten. Am Ende plant man gar eine gemeinsame Walser-Pilgerreise an den Bodensee, die aber nicht zustande kommt.

Man mag sich nun hoffnungsvoll fragen, ob man im Folgenden erfährt, wie sich moderne, fragmentarische Kommunikation mit unterschiedlichen Mitteln wohl auf diese Beziehung auswirkt, aber da verlangt man dem Roman schon zu viel ab. Ein Bewusstsein für die Mittel der Kommunikation und die den jeweiligen Kanälen eigenen Schreibweisen gibt es hier nicht. „Du irrst keineswegs, und dein Selbstbewusstsein hat unter dem Landleben offenbar nicht gelitten. Das war nicht deine Idee, meine Schöne, sondern bestenfalls unsere Idee, oder, noch besser gesagt: Du hattest die Ehre, dabei zu sein, als mich der göttliche Funke traf“, whatsappt Stefan am 5. Januar um 20.40 Uhr und hat nicht nur Zeit und Nerven für derart geschliffene Formulierungen, er weiß sogar, wie man Textnachrichten kursiviert. 

In langen Mails, in denen beide beteuern, dass sie eigentlich gar keine Zeit haben und dennoch zur besseren Information der Leser*innen noch einmal die gemeinsame Studienzeit Revue passieren lassen, kommt man sich langsam näher. Irgendwann wird der Ton regelrecht flirty: „19.04 Uhr, Theresa per WhatsApp: Wenn du hier wärest, stünden wir nicht im Stall, sondern säßen wir frisch geduscht mit einem guten Rotwein am Kamin. Wir würden auch nicht schweigen, sondern reden, reden, reden, über die Frage, ob Ehen in Philippsburg (du) oder Ein fliehendes Pferd (ich) das beste Buch aller Zeiten ist. Stundenlang! Reden! Trinken! Duften! Oder wenigstens normal riechen!“ Der Zauber von Kursivierung und korrektem Konjunktiv erfährt zwischendurch immer wieder Rückschläge, bis beide beschließen, keine Textnachrichten mehr zu schicken und nur noch zu mailen. Was sie so mittelgut durchhalten.

Unrealistische Mediensatire

Eine Zeitlang ist das Thema also die Wiederannäherung zweier sehr verschiedener Menschen, die sich einmal sehr nahe standen. Man erfährt einiges über die Probleme der brandenburgischen Landwirtschaft. Stefan setzt in seiner „Bote“-Redaktion zusammen mit der Schwarzen Online-Redakteurin Carla durch, dass es eine von jungen Aktivist*innen mitverantwortete Klima-Ausgabe geben wird, die sehr erfolgreich ist und sich gut verkauft. Nun kommen die Dinge ins Rollen, die dafür sorgen, dass aus dem Buch in der zweiten Hälfte eine Art Mediensatire wird, denn Stefan hat in Hamburg eindeutig den turbulenteren Alltag der beiden, während Theresa vor allem versucht, den Hof und die Ehe zu retten.

Das Problem an dieser Mediensatire ist, dass sie von ihrem Gegenstand nur wenig Ahnung hat. Die „Bote“-Redaktion erfährt gleich zwei Shitstorms von links, die die Figur Stefan dazu bringen sollen, nochmal über seine übertriebene Begeisterung für Klimaaktivist*innen und Gendersternchen nachzudenken – soweit die recht durchsichtige Intention der Autor*innen. Auslöser ist ein missratener Witz des Chefredakteurs Flori Sota anlässlich der Beförderung der Online-Redakteurin Carla, die „jüngste und erste schwarze Frau an der Spitze eines Hamburger Ressorts“, wie sie selbst betont.

Es gibt dann in der Konferenz ein wenig heiteres Durcheinander um die erfolgreiche Redakteurin, die schon oft für gute Lesequoten gesorgt hat, woraufhin der Chefredakteur die „verehrte Quoten-Schwarze“ offiziell willkommen heißt. Das wiederum filmt eine der jungen Aktivistinnen, die inzwischen ganz offiziell am News-Desk sitzt, vom Bildschirm ab und empört sich auf ihrem Twitter-Account darüber. Daraufhin bricht ein Sturm der Empörung los, der den Chefredakteur Flori Sota und dessen Familie letztlich zum Auswandern zwingt. Nicht jedoch bevor sich ein Fernseh-Satiriker mit einer ziemlich brachialen Aktion eingemischt hat, indem er ein eigens aufgestelltes Gipsdenkmal des Betreffenden vor der Redaktion zertrümmert. Immer diese überkorrekten Linken! Sotas Tochter hat sich fast umgebracht wegen denen, sie kennen kein Maß und kein Ziel! Ein zweiter Shitstorm betrifft dann Stefan selbst. Eine private Mail von ihm wird geleakt und sogleich in der Presselandschaft breitgetreten. All das bringt Stefan dazu, an seinen Werten und Loyalitäten zu zweifeln. 

An den Ereignissen ist leider so gut wie nichts auch nur ansatzweise realistisch. Keine Redaktion fährt aufgrund externer Shitstorms eine „hire & fire“-Politik, wie sie hier dargestellt wird. Keine Redaktion wird solche Angriffe ohne Rücksprache mit dem Hausjuristen oder der Social-Media-Redaktion kontern. Vor der Kündigung kommt die Abmahnung und der Gang zum Betriebsrat. Kein Medienjournalist wird ihm zugespielte private Mails veröffentlichen, ohne den Betroffenen vorher um eine Stellungnahme gebeten zu haben, wenn überhaupt. Die fiktiven Pressetexte, in denen Chefredakteur Sota und Stefan vernichtet werden, sind in ihrer kruden Vermischung aus Nachricht und Kommentar völlig hanebüchen und lesen sich wie erste Versuche eines Hospitanten, der die gängigen journalistischen Textgattungen noch nicht so richtig kennt. Hätte nicht wenigstens einer der beiden Autor*innen mal jemanden fragen können, der sich damit auskennt? 

Eine mehrhundertseitiger Leitartikel

Aber auch der dargestellte Shitstorm – Stefan schickt Theresa ein paar recht unbeholfene „Tweets“ per Textnachricht zu – verfehlt die Mechanismen völlig. Wie es besser, treffender und vor allem viel witziger geht, kann man in Mithu Sanyals „Identitti“ nachlesen. Die Autorin hat überzeugend dargestellt, wie auf den Sturm von der einen Seite recht schnell der Sturm von der anderen Seite folgt, bis diejenigen einstimmen, die sich vor allem die Frage stellen, wie sie die Angelegenheit möglichst effektiv für die eigene Sache ausschlachten können. Es dauert ohnehin nie lang, dann wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Einen tagelang mit unverminderter Härte andauernden Sturm von einer Seite ohne Gegenstimmen hat es bislang wohl noch nicht gegeben. Das soll im Buch aber dafür sorgen, dass man mit den Figuren Mitleid empfindet und sich denkt, „wie gemein diese Überkorrekten doch sind!“ 

Dabei betreibt der Roman einen enormen Aufwand, um seine Zeitgenossenschaft auszustellen. Dreadlocks bei Weißen, Ukrainekrieg, der Journalismus zwischen Aktivismus und gebotener Neutralität, alles drin. Manchmal fühlt sich die Lektüre an, als lese man einen mehrhundertseitigen Leitartikel, und nichts daran ist angenehm. Am wenigsten der kulturpessimistische Ton. „Zu spät haben wir gemerkt, dass in den Tiefen des Netzes eine Meute wächst, die sich an der moralischen Überlegenheit der gehypten Protagonist*innen bedient, sich ihre Beute aussucht und erbarmungslos zuschlägt, wenn es ihr gefällt“, schreibt Stefan an Theresa. 

Das erste Anzeichen für die Wut der „Meute“ im Buch ist der Vortrag einer Fischbiologin, die darauf besteht, dass es nur zwei Geschlechter gibt und deswegen vom woken Mob von der Bühne einer Universität gebuht wird. Stefan ist entsetzt von dem Vorgang und vergleicht ihn mit der Paulskirchenrede von Martin Walser, beziehungsweise dem ersten Auftritt danach, als der Autor vom Publikum ausgebuht wurde. „Flugblätter mit Schmähungen segelten durch die Luft, Student*innen brüllten ihre Wut im Chor heraus – es ging darum, Walser nicht zu Wort kommen zu lassen. […] Auch ich fand problematisch, was er gesagt hatte, aber ich konnte einfach nicht begreifen, warum er sich jetzt nicht rechtfertigen durfte.

Niemand trat für ihn und sein Rederecht ein“, so Stefan. Lang hält so ein Zustand ja nie an, Walser redet bis heute. Und das reale Vorbild der Fischbiologin, Marie Luise Vollbrecht, sammelte per Crowdfunding in wenigen Tagen mehrere zehntausend Euro ein. Es ist eben leider immer ein wenig komplizierter, als es einem in den Kram passt. Diese Widersprüche zu schildern, anstatt sie auf eine einseitige Botschaft herunterzubrechen, hätten den Roman sofort deutlich vielschichtiger gemacht.

Juli Zeh selbst sagt in einem Interview, das im jüngst erschienenen „Text + Kritik“-Band Nummer 237 erschien, alle ihre Romane seien Gesellschaftsromane, „weil das einfach meiner literarischen Vorliebe entspricht. Ich drücke aus, was ich erlebe, und da ich nicht nur Individuum bin, sondern auch und vor allem Teil der Gesellschaft, Bürgerin eines bestimmten Landes und Teilnehmerin an einer Epoche, sind meine Texte genau wie ich selbst vom Zeitgeist durchdrungen.“ Allerdings verfolgten sie keine politische Intention, bis auf „Corpus Delicti“ und „Leere Herzen“. Aber welche Intention verfolgt „Zwischen Welten“ denn dann? 

Es ist kein Porträt zweier komplexer Figuren, dazu sind Stefan und Theresa zu pappfigurenhaft und zu sehr dem üblichen Zeh-Repertoire entnommen. Es ist keine Satire, die davon lebt, ihren Gegenstand treffend aufzuspießen, auch wenn die zweite Hälfte so tut. Das ist nicht einmal ein Gegenwartskommentar, denn dazu müsste der Roman sich besser damit auskennen, wie in dieser Gegenwart kommuniziert wird. Dafür aber interessiert er sich nicht. Am Ende ist „Zwischen Welten“ vor allem ein Rührstück, das mit schlichten Mitteln Emotionen erzeugen will und dafür einen enormen Aufwand treibt.

Foto von Priscilla Du Preez auf Unsplash

Schreiben gegen Putin: Oppositionelle Gegenwartsliteratur aus Russland

von Norma Schneider

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko schrieb vor kurzem in der Neuen Zürcher Zeitung, dass die westeuropäischen Leser*innen russischer Literatur naiv seien. Sie hielten die Klassiker für schön und humanistisch, während sie seit zweihundert Jahren ein Weltbild verbreiten, „in dem man den Verbrecher nicht verurteilt, sondern bedauert und Mitleid mit ihm hat“, weil die Umstände ihn zur Grausamkeit zwingen. Sabuschko und andere Autor*innen werfen der russischen Literatur außerdem imperialistisches Denken und die Verherrlichung von Unterdrückung und Gewalt vor, sehen sie als Wegbereiter des Angriffs auf die Ukraine. Ebenso wird es als ein Zeichen kolonialen Denkens kritisiert, dass die russische Literatur Autor*innen für sich beansprucht, die gar keine Russ*innen sind – zum Beispiel die Ukrainer Nikolai Gogol und Michail Bulgakow.

Weiterlesen

Geldgeschichten: Der Kanzler im Finanzministerium

Eine Wirtschaftskolumne von Daniel Stähr

Wieso steht die Ampel ständig auf Gelb? In den vergangenen Monaten wirkte es bei vielen wirtschaftspolitischen Fragen so, als wäre es die FDP, die innerhalb der Regierung den Ton angeben würde. Sei es bei der Debatte um den Tankrabatt, mögliche Übergewinnsteuern oder um die Zukunft der Schuldenbremse und des Verbrennungsmotors, die Partei von Finanzminister Christian Lindner diktiert oft die Art und Weise, wie über diese Fragen in den Medien diskutiert wird. Lindners Forderung in den Koalitionsverhandlungen, der FDP das Finanzministerium zu überlassen, zahlt sich für die Partei nun ohne Frage aus. Kein anderer Bundespolitiker hat größeren Einfluss darauf, wie viel Geld in welche Projekte fließt. Zumindest in der Außendarstellung wirkt der Finanzminister deswegen einflussreicher und präsenter als Kanzler Olaf Scholz.

Weiterlesen

Ein grausamer Lehrmeister, eine tödliche Seuche: Die Subjektivierung des Krieges bei Thukydides

von Carlotta Voß

Wir haben das Foto des Paares gesehen, beide in Militäruniform, sie einen Brautschleier über dem flecktarngemusterten Hemd und einen Blumenstrauß in der Hand: Heirat an der Front. Wir haben das Mädchen gesehen, das in der Fensteröffnung sitzt und entschlossen in die Ferne blickt, Lolli im Mund, gelb-blaue Schleifen im Zopf, ein Gewehr im Schoß. Der Krieg in der Ukraine erreicht uns gegenwärtig auch über eine große Zahl von Bildern. In den letzten Tagen erschüttern sie uns mit ihrer Grausamkeit, mit dem Zeugnis von unfassbarer Gewalt und potentiellen Kriegsverbrechen, das sie geben; besonders in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch prägten sie unser kollektives Gedächtnis indes auch mit Inszenierungen, die den Krieg als Handlungszusammenhang von besonderer Schönheit auswiesen: der Schönheit des Heroischen, der Hingabe an eine „große Idee“ wie Freiheit – oder auch Nation.

Weiterlesen

Lange Schatten auf offenen Wegen – Afghanistan in der deutschen Literaturgeschichte

von Milosh Lieth

Im August vergangenen Jahres, die Taliban feierten gerade die Besetzung Kabuls, stellte sich US-Präsident Joe Biden nicht bloß gut ausgeleuchtet in die Scheinwerfer internationaler Nachrichtensender, sondern politrhetorisch auch in die Tradition seines Vorgängers: „American troops can not and should not be fighting in a war and dying in a war, that Afghan forces are not willing to fight for themselves.” Während die deutsche Regierung transatlantische Bündnistreue durch Schweigen demonstrierte, konnte, wer nur wollte und den entsprechenden Text zur Hand hatte, aus Biden Fontane sprechen hören: 

Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Kabul unser Zug begann, 
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verraten sind.

Weiterlesen

Geschichte als Waffe. Der französische Wahlkampf und das spanische Mittelalter

von Robert Friedrich 

Die sogenannte „Reconquista“, die mehrere Jahrhunderte andauernde Verdrängung muslimischer Macht von der iberischen Halbinsel, ist als historischer Bezug in spanischen Debatten über Einwanderung und nationale Identität omnipräsent, in Wissenschaft, Medien und Politik. Seit vergangenem Dezember nun dient der Begriff in seiner französischen Entsprechung „Reconquête“ als Namensgeber für die neue Partei des rechtsextremen französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour, der bei der Wahl in diesem Jahr antritt. Der Name ist kein Zufall denn der erfahrene Journalist kennt sich ausreichend mit Geschichte aus, um sich der historischen Bedeutung dieses Begriffs bewusst zu sein.

Sein Geschichtsbild hat der inzwischen zweifach wegen rassistischer Beleidigungen verurteilte Zemmour bereits 2018 in seinem Buch „Le destin français“ („Das französische Schicksal“) ausgebreitet, das einem wilden Ritt durch die französische Geschichte gleicht. Jahrhundertelang sei Frankreich das Zentrum Europas gewesen, werde nun aber zunehmend vom Subjekt zum Objekt der Geschichte. Dabei konstruiert Zemmour das Bild einer heroisch-idealisierten Vergangenheit, die durch politische Eliten, linken Zeitgeist, Gerichte, Wissenschaft, Globalisierung und viele andere Kräfte zerstört wurde und wird. Hugenotten, Aufklärer, Revolutionäre, Feministen und Islamisten, sie alle stehen in seiner Argumentation in derselben Tradition mit dem gemeinsamen Ziel der Zerstörung Frankreichs. 

Zemmour verwendet Geschichte als politische Waffe und verfälscht dabei die historischen Fakten für seine Zwecke, wie der Historiker Laurent Joly in einem Interview mit France24 betonte. Joly ist Autor des Buches „La falsification de l’histoire. Éric Zemmour, l’extrême droite, Vichy et les juifs“ („Die Verfälschung der Geschichte. Éric Zemmour, die extreme Rechte, Vichy und die Juden“, 2022), in dem er sich mit Zemmours Geschichtsbild aus wissenschaftlicher Perspektive befasst. Ebenfalls Anfang dieses Jahres – also mitten im Wahlkampf – ist der schmale Band „Zemmour contre l’histoire“ (“Zemmour gegen die Geschichte”) erschienen, in dem ein Kollektiv aus Historiker*innen die wichtigsten Thesen Zemmours auf den Prüfstand stellt. Seine Perspektive auf die Geschichte charakterisieren sie mit den Worten: „Die Vergangenheit lügen lassen, um in der Gegenwart besser hassen zu können … und so eine hassenswerte Zukunft zu erfinden“. Zemmour dürfte all das ziemlich egal sein, ist für ihn doch die akademische Geschichtswissenschaft ein Teil jener antifranzösischen Eliten, die er zu bekämpfen gedenkt. 

„Reconquista“

Als Vertreter dieser Geschichtswissenschaft mit einem Schwerpunkt zum spanischen Mittelalter, musste ich vor allem bei dem Namen von Zemmours neuer Partei hellhörig werden: „Reconquête“, also „Rückeroberung“. Ein Begriff, der insbesondere im gegenwärtigen Kontext, der historischen Einordnung bedarf. 

Der historische Ausgangspunkt der “Reconquista” liegt am Beginn des 8. Jahrhunderts. Im Jahr 711 überquerte ein muslimisches Heer unter Führung des Berbers Ṭāriq b. Ziyād die Straße von Gibraltar und eroberte in kurzer Zeit große Teile der iberischen Halbinsel und stieß auch in den Süden des heutigen Frankreichs vor. Als Ende dieser muslimischen Expansion gilt die Schlacht von Tours und Poitiers im heutigen Zentralfrankreich im Jahr 732, als ein fränkisches Heer unter Karl Martell die Muslime besiegte. Auch auf der iberischen Halbinsel feierten christliche Heere erste militärische Erfolge. Der Sieg des pseudomythischen Heerführers Pelagius in der Schlacht von Covadonga im Jahr 722 wird heute gern als Auftakt der sogenannten „Reconquista“ gesehen. Gemeinsam mit der Schlacht von Tours und Poitiers ist sie in rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen außerdem ein wichtiger Referenzpunkt für eine sogenannte Rettung des Abendlandes vor der vollständigen Islamisierung und damit einer der Momente, die Europa geformt haben sollen. Von beiden Ereignissen wird später noch die Rede sein.

Als „Reconquista“ wird nun die gesamte fast 800-jährige Periode bezeichnet, die 1492 mit der Eroberung von Granada, dem letzten muslimischen Herrschaftsgebiet auf der iberischen Halbinsel, ihren Abschluss fand. In der Geschichtswissenschaft ist der Begriff in den vergangenen Jahrzehnten in Kritik geraten. Bereits 1921 formulierte der spanische Philosoph José Ortega y Gasset (1883–1955) sein berühmt gewordenes Bonmot: „Wie kann man etwas als Wiedereroberung bezeichnen, was 800 Jahre gedauert hat?“ Und in der Tat kann trotz wiederkehrender Christianisierungsbestrebungen nicht von einem 800 Jahre andauernden Kriegszustand gesprochen werden. Vielmehr gab es immer wieder Phasen, in denen Eroberungen sehr präsent waren und andere, in denen die Territorien weitestgehend stabil blieben.

Darüber hinaus bestand kein einheitlicher Frontverlauf zwischen „den“ Christen und „den“ Muslimen. Vielfach führten die christlichen Reiche untereinander Krieg, oder verbündeten sich mit Muslimen gegen andere Christen. Beispielhaft dafür steht der zum spanischen Nationalhelden gewordene und als Befreier Valencias gefeierte El Cid – dem Amazon gerade eine neue Serie gewidmet hat – mit seinen wechselnden Loyalitäten. Regelmäßig florierten auch die christlich-muslimische Diplomatie und der Austausch in Handel, Kultur und Wissenschaft. Das Bild einer toleranten, multikulturellen Welt, das manchmal vom muslimischen Spanien gezeichnet wird, ist allerdings ebenso falsch, doch das nur am Rande. 

„Reconquista“ als politische Ideologie

Viel wichtiger für die Kritik am Begriff der „Reconquista“ ist allerdings dessen ideologische Bedeutung, die in den heutigen spanischen Debatten sehr präsent ist. Erstmals verwendet wird er auch nicht im Mittelalter, sondern am Ende des 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, als die mittelalterlichen „Befreiungskriege“ gegen die Muslime zu Vorläufern der Befreiung von der napoleonischen Besatzung stilisiert werden. Das 19. Jahrhundert ist dann das Jahrhundert der Nationalbewegungen und der Entstehung der Nationalstaaten. Überall in Europa suchen diese nach Legitimation in der nahen und fernen Vergangenheit und Spanien findet sie in Katholizismus und „Reconquista“. 

Parallel dazu entsteht die akademische Geschichtswissenschaft. In enger Wechselwirkung zwischen Politik und Geschichte wird die „Reconquista“ zugleich zum nationalen Mythos und zum historiographischen Konzept. Die enge Verbindung von Katholizismus und Nationalstaat bietet dabei eine fruchtbare gesellschaftliche Grundlage dafür, die nationale Identität auf dem historischen Kampf gegen Andersgläubige, in diesem Fall Muslime, aufzubauen. Im 19. Jahrhundert entstehen auch bis heute andauernde Traditionen in der populären Festkultur, wie zum Beispiel der regionale Feiertag Valencias (Día de Valencia), der an den Tag der Einnahme der Stadt durch Jakob den Eroberer am 9. Oktober 1238 erinnert. Bis heute werden dort sogenannte „moros-y-christianos“-Feste gefeiert, bei denen der christliche Sieg nachgestellt wird. Diese Feste bilden eine wichtige Grundlage spanischer Identität, auch wenn die Kritik an dieser Form des Erinnerns immer lauter wird.

Größeres realpolitisches Gewicht gewinnt die „Reconquista“ unter Franco. Dessen Staatstreich im Jahr 1936 führt zum Bürgerkrieg und schließlich zu einer fast vier Jahrzehnte andauernden Diktatur. Franco hat dabei die volle Unterstützung der katholischen Kirche, deren Vertreter sich auch nicht scheuen, seinen Staatsstreich als „Kreuzzug“ zu bezeichnen und Franco als „Führer von Gottes Gnaden“ auszurufen. Während die mittelalterliche „Reconquista“ das Land von den Muslimen befreit habe, sei es dem „Reconquistador“ Franco gelungen, andere Feinde wie Kommunisten, Atheisten und Freimaurer aus Spanien zu vertreiben. Der historische Bezug ist dabei nicht nur auf die Person des Diktators beschränkt, sondern wird auch auf andere Symbole, wie die neue Flagge ausgeweitet. Das spanische Wappen hält dort der sogenannte Johannes-Adler, der auch Teil des Wappens der „katholischen Könige“ Ferdinand und Isabella gewesen ist, die mit der Eroberung von Granada 1492 die „Reconquista“ zu ihrem Ende geführt hatten. Franco war es also, der den Prozess des „weaponizing historical knowledge“, wie es der spanische Historiker Alejandro García-Sanjuan nennt, in Bezug auf die „Reconquista“ in Gang setzt.

Nach dem Ende der Franco-Zeit gerät die „Reconquista“ als politische Referenz in Verruf und auch die spanische Geschichtswissenschaft versucht sich an neuen Analysen. Erst in den 1990er Jahren erlebt das Konzept einen neuen Aufschwung in politischen Debatten und unter konservativen Historiker*innen. Dazu braucht es einen neuen Rahmen, der franquistische Nationalkatholizismus hatte ja ausgedient. Diesen Rahmen findet man in Samuel Huntingtons 1993 publizierter These vom „Clash of Civilizations“ („Kampf der Kulturen“). Auf den „Westen“ übertragen bedeutete dies vor allem, dass die künftige Hauptkonfliktlinie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nun vor allem zum Islam verlaufen würde. Entsprechend betonen spanische Konservative nun nicht mehr nur die historische katholische Identität Spaniens, sondern setzen dieser vermehrt das Bild von einem mit den westlich-freiheitlichen Werten inkompatiblem muslimischen Al-Andalus gegenüber. Verstärkt wurde dies durch die Anschläge vom 11. September 2001 und in Spanien insbesondere durch die Madrider Anschläge vom 11. März 2004. 

Zunächst ist es nicht die extreme Rechte, sondern konservative Politiker*innen, die die Idee der „Reconquista“ in diesem Kontext wieder politisch salonfähig machten und für ihre Zwecke nutzen. Am 22. September 2004, ein halbes Jahr nach den Anschlägen in Madrid, hält der ehemalige spanische Ministerpräsident José María Aznar von der konservativen Partido Popular eine Vorlesung in den USA, während der er die Anschläge nicht als Reaktion auf die spanische Teilnahme am Irak-Krieg einordnet. Stattdessen verortet er die Gründe in einer weiter zurückliegenden Vergangenheit: 

„Das Problem, das Spanien mit Al-Qaida und dem islamischen Terrorismus hat, hat nicht mit der Irak-Krise begonnen. In der Tat hat es nichts mit Regierungsentscheidungen zu tun. Man muss nicht weniger als 1.300 Jahre zurückgehen, bis ins frühe achte Jahrhundert, als ein Spanien, das gerade von den Mauren überfallen worden war, sich weigerte, nur ein weiterer Teil der islamischen Welt zu werden, und einen langen Kampf um die Wiedererlangung seiner Identität begann. Dieser „Reconquista“-Prozess war sehr langwierig und dauerte etwa 800 Jahre. Er endete jedoch erfolgreich.“

In den letzten Jahren nun wurde diese neue politische Nutzung der „Reconquista“ von der rechtspopulistischen Partei „Vox“ aufgenommen und zum Kern ihrer antimuslimischen und nationalistischen Arbeit gemacht. Im Jahr 2018 sprach deren Vorsitzender davon, dass die Spanier durch die Erfahrungen der “Reconquista” gegen „muslimische Einwanderung geimpft“ seien. Bereits mehrfach beging die Partei ihren Wahlkampfauftakt in Covadonga, dem Ort, in dem 722 angeblich die „Reconquista“ begann und der so zur Wiege der katholischen spanischen Nation stilisiert werden soll. 

„Weaponizing historical knowledge“

Bereits seit der Renaissance ist das Mittelalter, wie Valentin Groebner in seinem Klassiker „Das Mittelalter hört nicht auf“ gezeigt hat, regelmäßig Gegenstand ganz verschiedener emotional aufgeladener Referenzen. Unter anderem ist es ein wichtiger Identitätsraum für nationale und rechtsextreme Kreise. Während im Nationalsozialismus vor allem die „germanisch-nordische“ Identität von Bedeutung war und der Islam eher als potenzieller Verbündeter im Kampf gegen das Judentum galt, ist seit den 1990er Jahren der Kampf gegen den Islam – Kreuzzüge und Ritterorden – vermehrt im Fokus. 

George W. Bush nannte den Kampf gegen den Terrorismus „Crusade“ und während der Charlottesville-Ausschreitungen verkleideten sich Demonstrierende als Kreuzritter. Auch sieht man in den USA im Phänomen der „religiösen Rechten“ eine enge Verbindung zwischen Nationalismus, anti-muslimischen Rassismus und Religion, wie Annika Brockschmidt kürzlich in ihrem Buch „Amerikas Gotteskrieger“ gezeigt hat. Durch die inzwischen weltweite Vernetzung auch der neuen Rechten ist diese Kreuzzugsrhetorik auch in Europa angekommen. So warb ein AfD-Kreisverband im Landtagswahlkampf 2019 mit dem Slogan „Gott will es“, der in seiner lateinischen Fassung „Deus vult“ als Schlachtruf der Kreuzfahrer Bekanntheit erlangte. Die Liste dieser Beispiele könnten problemlos weitergeführt werden. Nebenbei sei bemerkt, dass in anderer Form Kreuzzug und “Reconquista” auch unter Islamisten wichtige Kampfbegriffe sind. 

Der Rückgriff auf die „Reconquista“ – historisch ein Teil der vielfältigen mittelalterlichen Kreuzzugsbewegungen – zur Legitimation eines Kampfes gegen Muslime war lange auf Spanien beschränkt, hat aber in den letzten Jahren seinen Weg über die Landesgrenzen hinaus gefunden und dort auch heute ganz reale gewaltvolle Konsequenzen: Der norwegische Rechtsterrorist Anders Breivik bezog sich in seinem Pamphlet auf die “Reconquista” als legitimierendes historisches Ereignis. Der neuseeländische Attentäter, der 2019 in Christchurch 50 Menschen erschoss, hatte auf seine Waffen den Namen des pseudo-mythischen asturischen Königs Pelagius, des angeblichen Siegers der Schlacht von Covadonga, geschrieben – und auch jenen Karl Martells. 

Diese internationale Erweiterung der Kreuzzugsrhetorik um die „Reconquista“ bedeutet eine doppelte diskursive Verschiebung. Zum einen ist die Idee auf den ersten Blick harmloser. Während der Kreuzzug meist mit einer bewussten christlichen Aggression verbunden ist, erweckt eine Rückeroberung den Eindruck eines rechtmäßigeren Gewands. Man holt sich nur zurück, was einem ohnehin gehört. Zum anderen geht die Reconquista-Rhetorik aber einen Schritt weiter. Man will sich nicht mehr nur gegen eine drohende Islamisierung verteidigen, sondern die Islamisierung hat schon stattgefunden und Muslime halten das eigene Land besetzt. Damit spiegelt diese rhetorische Erweiterung auch eine andernorts zu beobachtende Entwicklung der Rechten wider. In einer Art Selbstviktimisierung geht es nicht mehr vorrangig darum, sich gegen die Muslime von außen zu verteidigen, sondern darum, sich das eigene Land zurückzuholen, das von Muslimen unterwandert sei. In Deutschland stehen dafür Autoren wie Thilo Sarrazin und ebenso Bewegungen wie Pegida – auch wenn hierzulande der „Reconquista“-Begriff noch keine politische Wirkung entfaltet hat. 

Für Éric Zemmour ist der „Reconquista“-Bezug in seinem Parteinamen nur ein Teil seiner rhetorischen Strategie, die Geschichte für seine politischen Zwecke einzuspannen. Regelmäßig greift er auf verschiedene Elemente einer imaginierten Vergangenheit zurück, um seinen sehr gegenwärtigen politischen Zielen eine vermeintliche historische Legitimität zu verleihen. Für seinen Kampf gegen muslimische Einwanderung ist dies vor allem das Mittelalter, und damit zusammenhängend die „Reconquista“. Zemmours „Reconquête!“ ist ein „Make France great again“ im pseudo-Intellektuellen Gewand und es lohnt, hier noch einmal die Charakterisierung der Autor*innen von „Zemmour gegen die Geschichte“ zu wiederholen: „Die Vergangenheit lügen lassen, um in der Gegenwart besser hassen zu können … und so eine hassenswerte Zukunft zu erfinden“. 

Beitragsbild von Jorge Fernández Salas

Solidarität auf Eis – Ein Kommentar zu Phrasen der Pandemiebekämpfung

von Katharina Walser

Anfang Dezember letzten Jahres erntete Olaf Scholz Jubelrufe, Schlagzeilen und Bewunderung dafür, wie er zur Primetime bei einem großen Fernsehsender über die Corona-Pandemie sprach. Tags darauf hieß es unter anderem, er habe einen “kühlen Kopf”(handelsblatt) behalten; um eine „beispiellose Pandemieansprache”(focus) habe es sich gehandelt und der neue Bundeskanzler nehme nun „den Kampf gegen die Pandemie auf”(Spiegel).

Weiterlesen