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Wie wir lesen (sollen) – Amazon, TikTok und die Literatur

von Simon Sahner

Als vor etwa 20 Jahren Serien wie „The Sopranos“ und „The Wire“ das Erzählen in ein goldenes Zeitalter des Fernsehens führten, war häufig die Rede davon, dass sie in der Tradition des Romans stünden: große horizontale Erzählbögen, komplexe Handlung, detaillierte Figurenentwicklung und der Anspruch gesellschaftlich Relevantes zu erzählen. Dieser Vergleich war auch der Versuch, einem Medium, das sonst als reine Unterhaltung verschrien war, einen hochkulturellen Anstrich zu verleihen. Der Vergleich mit Literatur hat noch jedes andere Medium geadelt, deswegen hat auch Bob Dylan den Literaturnobelpreis erhalten.

Wirft man allerdings einen Blick auf die Entwicklung des Literaturmarktes seitdem, muss man feststellen, dass sich der Einfluss heute umgekehrt vollzieht. Waren es im Jahr 2002 die Gesellschaftsromane des 19. Jahrhundert, die vermeintlich ihren Weg ins Fernsehen gefunden hatten, kann man heute beobachten, wie die Streaming-Serie den literarischen Bereich übernommen hat. Das hat mit zwei zentralen Spielfiguren auf dem Literaturmarkt zu tun: Amazon und TikTok.

Der sogenannte Everything-Store Amazon dominiert in Deutschland den Buchhandel. In einer Umfrage in Deutschland unter Menschen, die im letzten Jahr Bücher gekauft haben, gaben 60 Prozent an, bei dem Online-Versand bestellt zu haben. Wenn es um eBooks geht, besitzt Amazon mit seinem Kindle-Store fast eine Monopolstellung. Diese Situation ist in den meisten Ländern in Europa und Nordamerika ähnlich. Wie sehr der Buchhandel von dem Onlinekaufhaus abhängt, zeigen auch Rebecca Giblin und Cory Doctorow in ihrem neuen Buch „Chokepoint Capitalism“. In ihren Überlegungen zum Einfluss kapitalistischer Strukturen auf den Kulturmarkt, beschreiben sie Amazon als Monopson, das Gegenstück von Monopol.

Der Flaschenhals des Marktes

Monopson bezeichnet die Situation, in der es für eine Vielzahl von Anbietern nur einen Käufer gibt. Das führt dazu, dass ein Käufer einen überaus großen Einfluss auf die Gestaltung von Preisen nehmen kann, weil die Anbieter keine andere Wahl haben, als an diesen einen Käufer zu verkaufen. Der Chokepoint (dt. Flaschenhals) des Buchhandels ist Amazon, weil es sich kein Verlagshaus, sei es auch noch so groß, leisten kann, seine Bücher nicht dort anzubieten. Diese Situation betrifft zwar vor allem Verlage, die jedes ihrer Bücher auf Amazon platzieren müssen, sie betrifft aber auch Selfpublisher, denen Amazon überhaupt erst die Möglichkeit gegeben hat, gelesen zu werden und auch ohne Verlage die Chance auf einen literarischen oder ökonomischen Erfolg zu haben.

Die enge Verbindung zwischen dem Verkauf von Literatur und Amazon wirft eine Frage auf, die an den Grundfesten unserer Vorstellung einer autonomen Literatur rütteln könnte. Es geht um die Überlegung, welchen Einfluss Onlineriesen wie Amazon auf das Erzählen und die Gestalt von Literatur unserer Gegenwart haben. Einen Teil dieser Frage wirft Mark McGurl in seinem Buch „Everything and Less. The Novel in the Age of Amazon“ auf. Die provokante These, die seinen Ausführungen zugrunde liegt, besteht darin, dass Amazon die literarische Innovation vorantreibt, die einst von der Moderne und den Avantgarden getragen wurde. Das läge daran, dass der Vertrieb von Literatur durch Amazon einen signifikanten Einfluss darauf habe, wie Literatur geschrieben wird. Die schiere Übermacht von Amazon auf dem Buchmarkt nimmt nicht nur Einfluss darauf, wie wir Bücher kaufen, sondern auch darauf, wie wir lesen. Literatur, mit der Geld verdient werden soll, muss den Gesetzen des Marktes folgen. Um McGurl zu paraphrasieren: Literatur kann nur das hervorbringen, was der Markt erlaubt, und der Markt ist Amazon.

Tatsächlich ist diese These mindestens gewagt, denn letztlich beschreibt McGurl mit Blick auf die Gestaltung einer bestimmten Art von Literatur – der Genre-Literatur – nichts explizit Neues. Inspirierend für das Gespräch über den Literaturmarkt der Gegenwart sind seine Ausführungen aber in jedem Fall, weil sie zeigen, wie unter den Bedingungen, die Amazon geschaffen hat, Literatur verkauft und gelesen wird. Und das hat auch Folgen für die Produktion.

Leser*innen als Kund*innen

Die Überlegungen von McGurl und Giblin/Doctorow gehören zusammen, denn die uneingeschränkte Marktmacht von Amazon führt dazu, dass sich die Gegenwartsliteratur den Vertriebsstrukturen des Onlinehandels anpasst. Der Konzern selbst produziert keine Inhalte, hat aber inzwischen durchaus selbst Strukturen eines Verlagshauses mit mehreren Imprints entwickelt. Anders als “normale” Verlage vertreibt der Megakonzern aber nicht nur eigene Bücher, sondern alle. Da Amazon tatsächlich den gesamten Verteilungsprozess des Buchmarkts regelt und jeden, der Literatur herstellt – Verlage und Autor*innen – , von sich abhängig macht, wird das Unternehmen selbst zu einem entscheidenden Faktor im Literaturbetrieb. Amazon sieht die Leser*innen in erster Linie als Kund*innen, deren Wünsche der Konzern nicht nur erfüllen, sondern auch erzeugen will. Für McGurl geht es dabei vor allem um Kundenbedürfnisse, “über allem steht das Bedürfnis nach einer verlässlichen Quelle des Komforts, oder eines Nutzens in seiner ursprünglichen Bedeutung, in der Nutzen eher mit einem Gefühl des Wohlbefindens zu tun hatte als mit der nüchternen infrastrukturellen Sparsamkeit, an die der Begriff heute erinnert.” In dieser Logik werden die Autor*innen zu Dienstleister*innen, die ein bestimmtes Produkt in einer bestimmten Form herstellen, um ein Grundbedürfnis zu sichern, in diesem Fall das Bedürfnis nach immer verfügbarer Literatur.

Amazon und andere Onlinedienste wie Spotify, Netflix und Disney+ haben unsere Art zu konsumieren verändert, weil sie uns mit allem, was wir brauchen und wollen in kürzester Zeit versorgen. Auf Literatur, Musik, Filme und Serien können wir innerhalb von Sekunden zugreifen, alle anderen Produkte und Lebensmittel können wir uns innerhalb von nicht einmal 24 Stunden liefern lassen. Diese absolute Verfügbarkeit erzeugt nicht nur Überfluss, sondern auch den Anspruch, alles zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben. Das Konzept des Binge-Watchings ist zu einer verbreiteten Rezeptionsform der Streamingserie geworden und die Musik für jede Stimmung ist immer griffbereit. 

Auch wenn Literatur inzwischen zu einem nicht unbedeutenden Anteil genauso konsumiert wird, wird Literatur bisher im öffentlichen Diskurs von dieser Art des Kulturkonsums weitgehend ausgenommen – sonst hätte man während der Pandemie-Lockdowns die Buchhandlungen schließen können. Bücher konnten ja schon damals digital erworben werden. Die konsequente Verfügbarkeit von eBooks im Kindle-Store und die leichte Zugänglichkeit durch Über-Nacht-Bestellung direkt an die Haustür aber haben diesen Konsummodus längst auch in den Literaturmarkt überführt. Amazon ist also daran gelegen, dass wir als Leser*innen immer mehr Lesestoff wollen und diesen auch sofort bekommen können. Anders gesagt, Amazon will, dass wir lesen, wie wir Serien schauen: immer und überall und am besten schon mit Blick auf die nächste Folge.

Lesen in Serie

Serien selbst sind in der Literatur keine Neuheit. Die Perry-Rhodan-Reihe erscheint seit 1961 in Serie und schon Honoré de Balzac erzählte in literarischen Reihen. Amazon aber hat dieses Prinzip durch seinen Status als eigene digitale Publikationsplattform auf das nächste Level gehoben, indem es seinen Kund*innen ermöglicht, wie bei einem Streamingdienst über das Abo-Modell Kindle-Unlimited eigene Literaturserien quasi streamen zu können. 

Mit Reihen wie „Tofino Bears“, die Spieler einer kanadischen Eishockey-Mannschaft in jedem Buch in Liebesabenteuer schickt und „explizite Szenen“ garantiert, hat Amazon den Publikationsmodus von Streaming-Serien vollständig auf den Literaturmarkt übertragen. Trotz ihrer stolzen Länge von jeweils ungefähr 250 Seiten sind die zehn Folgen in zwei Staffeln im Sommer 2022 und im Januar 2023 bei Amazon erschienen – im Abstand von etwa ein bis zwei Wochen. Ähnlich wie bei anderen Literaturserien, ist hier das Konzept „Autor*in“ ins Wanken geraten, weil diese Form der Publikation nur von mehreren Personen getragen werden kann. Zwar werden die einzelnen Bücher von jeweils einer Person unter Pseudonym geschrieben, jedoch zeichnen insgesamt fünf Schreibende verantwortlich für die Reihe. Letztlich handelt es sich hier um eine Art Writers Room für Literatur. Literatur dieser Art sprengt den Rahmen der Gattung Roman, die Bücher sind in Form und Publikation die literaturgewordene Streaming-Serie.

Reihen – oder Serien – wie „Tofino Bears“ gibt es auf Amazon unzählige. Sie sind genuine Produkte des Onlinekaufhauses und nur dort erhältlich. Vor allem sind sie auch äußerst erfolgreich. Die aktuellen Bände sind regelmäßig auf den ersten Plätzen der Amazon-Kategorien „Top 100 Kindle-Shop“, „Liebesromane“ und „Zeitgenössische Liebesromane im Kindle-Shop“. Sie sind das Extrembeispiel dafür, wie Amazon unser Leseverhalten und das Schreiben von Literatur beeinflusst. Dieser Einfluss zeigt sich aber nicht nur in solchen Extrembeispielen, sondern auch in Literatur, die beinahe noch traditionell produziert wird, aber deren Autor*innen teilweise erst über Amazon als Selfpublisher die Chance bekamen, ihre Romane zu publizieren. Einige dieser Autor*innen sind inzwischen zu traditionellen Verlagshäusern gewechselt und bescheren ihnen mit immer neuen Romanen Millionengewinne.

Eine solche Geld- und Romangarantie ist die US-amerikanische Autorin Colleen Hoover. Sie platzierte sich im vergangenen Jahr mit acht Titeln auf den Jahresbestseller-Listen des SPIEGEL und bescherte dem Buchmarkt einen Umsatz von mehr als 20 Mio. Euro. Auch die deutsche Autorin Mona Kasten hatte großen Erfolg. Sie konnte im letzten Jahr zweimal einen Titel in der Hardcover-Bestenliste des SPIEGEL platzieren. Ihr Roman „Fragile Heart“ ging mit einer Auflage von 100.000 Exemplaren ins Weihnachtsgeschäft. Es handelt sich bei Hoover und Kasten also um die mit am meisten gelesene Art von Literatur in Deutschland im Jahr 2022.

Was diese beiden Autorinnen neben dem Erfolg und dem Genre „Romance“ gemeinsam haben, ist der Beginn ihrer Karrieren auf einer Amazon-Selfpublishing-Plattform und die Dauerpräsenz ihrer Bücher auf TikTok. Das Phänomen BookTok, also die Inszenierung von Büchern und des Lesevorgangs, ist längst zum Massentrend geworden, der einen enormen Einfluss auf den Literaturmarkt hat. Das Siegel „TikTok made me buy it“ ist inzwischen ein ähnlicher Ausweis für Popularität wie der Spiegel-Bestseller-Aufkleber und eine eigene Suchkategorie bei Amazon. Die deutsche Ausgabe von Hoovers Megaseller „Nur noch ein einziges Mal“ liegt zwei Jahre nach Erscheinen noch in den deutschen Top 20 der meistverkauften Bücher auf Amazon, in manchen Kategorien gar noch auf Platz 1.

Dabei schreiben Hoover und Kasten sogar vergleichsweise langsam – wobei „langsam“ hier immer noch relativ zu sehen ist. Hoover hat in den letzten zehn Jahren 21 Romane und drei Novellen veröffentlicht, Mona Kasten 14 Romane in den letzten acht Jahren. Damit sind die beiden Autorinnen und andere aus diesem Segment der Romance-Literatur für junge Erwachsene die Schnittstelle zwischen der Amazon-Literatur und dem traditionell eher trägen Buchmarkt, weil sie erst durch Amazon zu publizierenden Autorinnen wurden und nach den ersten großen Erfolgen in traditionelle Verlagshäuser wechselten.

TikTok und der Leserausch

Die Selbstinszenierung der Leser*innen in den sozialen Medien als rauschhaft Lesende, die bei einem Roman von Emma Scott „noch nie so viel geweint“ haben oder Hoovers Romane „in weniger als 24h gelesen haben“, ist der sichtbare Beweis für die Sogwirkung dieser Literatur als Binge-Konsumerlebnis. Zwar erscheinen die Romane nicht im Rhythmus von wenigen Wochen, aber ihre Darstellung auf TikTok und die immer noch kurzen Publikationszyklen zeigen, wie nahe der Vergleich mit Streamingserien auch hier liegt. Die Bücher werden geradezu inszenatorisch verschlungen, große Stapel weisen darauf hin, wie viel gelesen wurde, und die Leser*innen beraten sich gegenseitig dabei, wie man besonders gut in den Binge-Modus kommt. Diese Form der Rezeption hat inzwischen auch TikTok als lukrativ erkannt. Vergangenen November schloss TikTok eine Partnerschaft mit mehreren großen englischen Verlagshäusern ab, die es User*innen ermöglicht, Bücher direkt über die App zu kaufen. Damit hat TikTok zwar längst nicht die Marktmacht von Amazon, aber es ist ein weiterer Schritt in die Richtung Einfluss auf den Literaturmarkt zu nehmen.

Der einzelne Roman ist auch hier beinahe irrelevant geworden, entscheidend ist, dass die Leser*innen den erwartbaren Lesestoff von den entsprechenden Autorinnen bekommen. Die Romane von Hoover, Kasten oder auch Scott sind sich zum Verwechseln ähnlich: eine (meist weiblich gelesene) Hauptfigur in Alter und Milieu nahe genug an der Zielgruppe, um Identifikation zu erzeugen, und weit genug von ihr entfernt, um als Eskapismus funktionieren zu können. Der Erzählton in der ersten Person ist locker und anspielungsreich, die Handlung ein chaotisches, mal witziges und mal dramatisches Liebesleben. 

Die ersten Seiten entwerfen schnell ein Bild von der Erzählfigur, die durch Rückblenden und Andeutungen ähnlich einer Pilotfolge bei Serien die Story anbahnt. Zentral ist auch das US-amerikanische Setting, unabhängig davon, ob die Romane von deutschen oder US-Autorinnen stammen. Die einzelnen Bände der „Tofino Bears“ folgen einem ähnlichen Muster, nur dass hier männliche Sportler im Mittelpunkt stehen. Es handelt sich im Grunde genommen um klassische Genre-Literatur, die unter den Bedingungen eines Lesemarktes im 21. Jahrhundert entsteht und vertrieben wird. 

Das Erzählen im Genre ist die zentrale Form von Literatur in einem Betrieb, dessen Strukturen von Amazon dominiert werden und der mit Hilfe von TikTok Millionenbestseller hervorbringt. Für McGurl liegt das auch daran, dass Genre-Literatur in ihrer Grundidee einem Prinzip folgt, das unseren Medienkonsum im 21. Jahrhundert bestimmt: Streamingdienste und die permanente Verfügbarkeit von allen Produkten erzeugen nicht nur Verlässlichkeit selbst, sondern auch den Wunsch danach. Alles ist immer verfügbar und wir wissen, was wir wo bekommen. Das Gleiche gilt für die Literatur von Hoover und Kasten und jede andere Form von Genre. Es ist eine Literatur der gut konsumierbaren Verlässlichkeit in einem festen Rahmen. Das war Genre-Literatur schon immer und Amazon und TikTok haben erkannt, dass die Regeln, nach denen Kultur im 21. Jahrhundert konsumiert wird, dem Genre-Prinzip entgegenkommen. Deswegen hat Amazon längst eine Streaming-Plattform für Literatur geschaffen, die seine Leser*innen zuverlässig mit der Unterhaltung versorgt, die sie sich wünschen. TikTok ist gerade dabei.

Du musst dein Lesen ändern

Für die Literatur und ihre Produzent*innen ist diese Entwicklung Chance und Gefahr zugleich. In einer krisengeschüttelten Branche kann eine solche Form des Konsums lukrativ sein und hohe Einnahmen generieren, von denen Verlage im sogenannten Hochkulturbereich oft nur träumen können. TikTok kreiert über die Begeisterung seiner Nutzer*innen inzwischen Millionenbestseller und kann sie auch verkaufen und Amazon verhilft selbstpublizierenden Autor*innen im Idealfall zu finanzieller Stabilität oder gar Reichtum – an dem aktuell noch Verlage teilweise mitprofitieren. Gleichzeitig garantiert diese Entwicklung vor allem hohe Verkäufe über Amazon und festigt damit die erdrückende Abhängigkeit des Buchmarktes von dem Online-Riesen. 

Diese Entwicklung bietet jedoch immerhin die Chance zu Überlegungen zum Selbstanspruch von Literatur im kulturellen Diskurs. Genre-Literatur wird auf Amazon zwar in ähnlicher Weise gelesen und auf TikTok inszeniert, wie wir Serien schauen, aber diese Art der Literatur findet kaum ihren Weg in die öffentliche Debatte oder das feuilletonistische Gespräch über Literatur. Das war bei Genre-Literatur in den letzten Jahrhunderten meistens so. Die Streaming-Serie hat diese Grenzen gerade wegen ihres großen Spektrums inzwischen überwunden. Selbst in akademischen Kreisen und im Feuilleton ist man sich inzwischen einig, dass man schnell produzierte und unterhaltsame Serien am Wochenende am Stück schauen kann, ohne sein Selbstbild als gebildete*r Kulturconnaisseur*in zu zerstören.

Wir schauen völlig selbstverständlich die x-te mittelmäßige bis peinlich-kitschige Star-Wars-Serie in einem Rutsch und sprechen darüber genauso, wie wir uns über das neue Serien-Meisterwerk aus dem Hause HBO freuen. Lesen aber gilt im bildungsbürgerlichen Milieu und im feuilletonistischen Diskurs weiterhin als anspruchsvolle Tätigkeit, die unter Rechtfertigungsdruck gerät, wenn sie als Unterhaltung dient, die wie eine Serie digital konsumiert wird. Dabei ließe sich zumindest die Frage stellen, ob nicht in der streamingähnlichen Publikationsform von Literatur und dem populären Diskurs auf TikTok Chancen sichtbar werden, die auch bei literarischen Reihen ein Spektrum wie bei den Serien entstehen lassen könnten. Wenn Literatur die leicht konsumierbare Action-Serie oder die Romanzenreihe kann, warum soll sie nicht Serien entwerfen, die im Feuilleton oder auf Twitter diskutiert werden wie HBO-Serien? 

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Ein Blick ins Nichts: Verschwörungsglaube in der Literatur

von Sebastian Galyga

Die blaue Pille führt in den Kaninchenbau. Tief hinein in die atomar kleinen Strukturen der Halbleiter und Quantencomputerchips. Dort treffen die Algorithmen nebulöse Entscheidungen. Darüber, welche Schadensfälle von der Police abgedeckt werden, ob deine Bewerbung abgelehnt wird, wann der Flugpreis sich verdoppeln muss, der DAX fällt, die Nachfrage steigt, wer die nächsten Wahlen gewinnt. Geld regiert sowieso, die Feudalherren Musk und Bezos liefern sich ein Wettrennen zu den Sternen, um dem sterbenden Planeten zu entfliehen. Oligarchen führen Kriege, als gälte es “Risiko” auf einem globalen Spielbrett zu zocken. China konnte man noch nie trauen. Die Zusatzstoffe auf der TK-Pizza werden auch immer kryptischer, Brüssel ist weit weg und deine eigene Meinung darfst du sowieso schon lange nicht mehr sagen. Die Welt wirkt dieser Tage auf eine steigende Zahl der sie bewohnenden Menschen feindlich und abweisend. Hinter jeder Ecke vermuten sie einen Angriff, eine Gefahr, eine unverständliche Macht, die alle Hände ausstreckt, um sie zu packen. Die Welt scheint durchdrungen vom Komplott, als einziges Gefühl bleibt nur noch: Paranoia.

Apokalyptische Stimmen deuten gerade immer wieder mit eher wissenden als warnenden Fingern auf die auf dem Vulkan tanzenden Zwanziger des vergangenen Jahrhunderts. Um aber über die Untergangsstimmung hinwegzukommen und einen Schritt in die Zukunft zumindest anzudeuten, ohne dabei postapokalyptisch zu werden, sei hier ein Blick in eine ganz bestimmte Strömung der Literatur geworfen, die bereits seit Jahrzehnten potentiell sehr Wissenswertes für die Gegenwart bereithält. Vor allem in der angelsächsischen Postmoderne haben das Ungewisse und die Paranoia einen festen Platz als literarische Mittel. Thomas Pynchon arbeitet sich seit Anfang der Sechziger Jahre an der amerikanischen Angst des Paranoiden ab, Paul Auster und Don DeLillo lösen in den Achtzigern erfolgreich die Wirklichkeit im Literarischen auf; und heute spinnt Zadie Smith hyperkomplexe erzählerische Netze des Wahnsinns, in denen sie das Reale erstickt. Aber was hat ein Kapitel scheinbar weltvergessener Intellektuellenliteratur mit der derzeitigen Vertrauenskrise zu tun? 

Die Welt als Komplott

Die italienische Philosophin Donatella Di Cesare hat in ihrem Essay Das Komplott an der Macht [1]  die undurchschaubar verknotete Gemengelage des sich ausbreitenden Verschwörungsglaubens, oder Komplottismus, wie sie es nennt, mit den Mitteln der Philosophie zu entwirren versucht. Dabei wendet sie sich gegen die Position, dass, wer geheime Komplotte als Erklärungen für soziale Phänomene den offiziellen, wissenschaftlichen Erklärungen vorzieht, entweder nur durch Fakten und Logik aufgeklärt werden muss, oder ein psychisches Problem hat. Vielmehr entwickle sich der Komplottismus als dezidiert modernes Phänomen aus den Strukturen der Demokratie selbst heraus. Während in monarchischen Zeiten alle Macht von der einen zum Herrschen gekrönten und auf den Thron gesetzten Person ausgegangen sei und damit ein festes Zentrum und sichtbare Strukturen gehabt habe, sei die Macht des Volkes in der Demokratie immer gesichtslos und ohne einen klarer Ort. Das Volk als Souverän sei nur eine Metapher, eigentlich bleibe das “Zentrum der Macht” leer. Zudem fehle es in der Komplexität der modernen und globalisierten Welt auch an gemeinsamen Erklärungs- und Deutungsmustern, einer einheitlichen Lesart der Wirklichkeit. Die vielbeschworene Komplexität der Welt ist dabei nicht nur eine Floskel, sondern füllt sich mit sehr konkreter Bedeutung. Der Soziologe Anthony Giddens spricht in seiner Analyse der Moderne und ihrer Auswirkungen auf die sozialen Gefüge der Gesellschaft von “abstrakten Systemen”, die prägend für die Strukturen des Lebens in der Gegenwart seien. Immer mehr Dinge im Alltag basieren auf Abläufen, die Zeit und Raum überbrücken und damit für Laien nicht durchschaubar oder verständlich sind, sondern sich lediglich als Ergebnis beobachten lassen. Etwa ist es nicht möglich, Einblicke in die vielen hundert automatisierten Computerprogramme zu nehmen, die frei von menschlichen Akteuren Fahrkartenkauf, Ticketkontrollen, Kassensysteme, Bankautomaten usw. steuern – geschweige denn sie zu verstehen. Es ist nicht mehr ein Mensch, der auf der anderen Seite des Schalters ein Konzertticket verkauft und somit am selben Ort und in derselben Zeit ist wie die Kundin; stattdessen existiert die abstrakte Ticketmaschinerie, das abstrakte Ticket-System hinter einer flachen Webseite und nur durch Klicks “ansprechbar” an einem völlig unbekannten Ort auf einem undurchschaubaren Servercluster und trifft algorithmische Preisentscheidungen. Es gibt keine direkten, sichtbaren Verantwortlichen mehr. Im Großen (der Machtkern im Zentrum der Demokratie) wie im Kleinen (die verlässliche Zahlung mit Kreditkarte) ist die Welt geprägt von undurchschaubaren, akteurslosen Strukturen, die im Effekt Leerstellen bilden.

Für Giddens ist ist es notwendig, den komplexen Systemen zu vertrauen, damit die Institutionen der modernen Gesellschaft funktionieren und handlungsfähig bleiben. Di Cesare legt dar, was geschieht, wenn dieses Vertrauen nicht oder nicht mehr aufgebracht werden kann: Verschwörungen und Komplotte [2] sollen die Leerstelle der Macht in der Demokratie füllen. Anstatt hinzunehmen, dass die Welt an vielen Stellen nicht mehr eindeutig lesbar ist, dass es keine klare, dichotome Unterscheidung zwischen Gut und Böse gibt, werde eine unsichtbare Hinterwelt propagiert, in der sowohl die eindeutigen Verbindungen noch existieren, als auch eine simple Dichotomien wieder möglich sind. COVID war kein zufälliges Ereignis, sondern von langer Hand geplant, damit Bill Gates seine giftigen Impfungen unter die Leute bringen kann. Die Komplexität der Wirklichkeit wird wieder lesbar, es lässt sich wieder klare Verantwortung zuweisen.

Den Komplottismus mit Di Cesare also als “techno-mediales Dispositiv” zu begreifen, macht auch deutlich, wieso weder gutes Zureden, um die vermeintliche psychische Störung zu lindern, noch eine Konfrontation mit “den Fakten” etwas bringen. Es handelt sich nicht um ein Oberflächenphänomen, sondern reicht bis in die epistemologischen Tiefen. Eine Enthüllung durch Aufklären ist nicht möglich, da das Komplott im Kern auf eine Leerstelle verweist; ein “wirkliches Geheimnis, ein endgültiges Wissen, ein letztes Fundament, auf dem alles gründet und aufbaut,” existiert nicht. Wenn hinter jeder Facette der Wirklichkeit potentiell ein zu enthüllendes Stück der Hinterwelt zu finden sein könnte, wenn es gilt, die geheimen Verbindungen zu sehen, dann ist der Verdacht die allgegenwärtige Brille, die schnell in extremo zur Paranoia wird: Nichts und niemandem ist mehr zu trauen, kein sicherer Schritt ist mehr möglich in einer Welt, in der jeder Wegstein nachgeben und den darunterliegenden Abgrund freilegen könnte. Ein Zustand, der sich selbst verstärkt.

Die Welt als Roman

Was kann nun die Literatur dem Auseinanderfallen der Wirklichkeit entgegensetzen? Auf der einen Seite kann hier natürlich auf psychologische Studien verwiesen werden, die zeigen konnten, dass das Lesen fiktionaler Literatur z. B. das Empathievermögen steigern kann oder sogar mit einer komplexeren Sicht auf die Welt einhergeht. Wissenschaftler der Princeton-University konnten zeigen, dass Menschen, die in jungen Jahren fiktionale Literatur lesen, in geringerem Maße dazu bereit sind, aktuelle gesellschaftliche Ungleichheit hinzunehmen, aber auch auch eher der Überzeugung sind, dass ihre Mitmenschen auch komplexe Wesen sind und unterschiedliche Persönlichkeitsfacetten haben. [3] Während das allgemein gute Voraussetzungen für eine offene Gesellschaft sind, ist auf der anderen Seite die potentielle Wirkung der Literatur aber auch speziell geeignet, der Paranoia zu begegnen, die dem Komplottismus entwächst.

Auch für Di Cesare nimmt die Literatur eine wichtige Rolle in ihrer Analyse ein. Immer wieder nimmt sie Bezug auf fiktional erzählende Texte, um verschiedene Aspekte ihrer Argumentationslinie zu illustrieren. So findet sie etwa die perfekte Veranschaulichung des im Kern leeren Komplotts, der Leerstelle der Macht, in George Orwells 1984, “in dem sich Staat und Komplott im Rahmen einer biopolitischen Ordnung, die ins Innerste des Lebens eingreift, wechselseitig durchdringen.” (S.35) Der einzige Weg, dieser Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht auf den Grund zu gehen, da es dort nur eine Leerstelle gebe. Dem Komplott “keinen Glauben zu schenken und nicht danach zu suchen, stellt den Weg der Rettung und die Möglichkeit des Überlebens dar.” Dieser Illustrationen findet Di Cesare zahlreiche. Jedoch macht sie den über die Illustration weit hinausreichenden Nutzen der Literatur nicht explizit. Ein Nutzen, der sich bei Nietzsche unter dem Ausdruck der »ästhetischen Rechtfertigung der Welt« findet. Nietzsche setzt diese dem bis dato existierenden theologischen Verständnis, nachdem die Welt moralisch zu bewältigen sei, entgegen. Während diese Sichtweise wiederum auf das Verschwinden des Mythologischen baut, wogegen Di Cesare sich in ihrer Analyse des Komplottismus als ausdrücklich modernem Phänomen ja gerade wendet, ist die ästhetische Qualität der Kunst doch ihr entscheidender Beitrag: durch eine Ästhetisierung der Welt, vor allem auch ihrer Abgründe und grauenvollen und beängstigenden Seiten, werden diese nicht nur erfahr-, sondern ertrag- oder gar bejahbar. Im Ästhetischen, in der Kunst (hier eben: in der Literatur) können auch die furchteinflößenden Leerstellen konfrontiert werden, ohne an ihnen zugrunde zu gehen.

Wenige Schreibende haben sich vermutlich so intensiv dem Phänomen der Verschwörung (real wie eingebildet) gewidmet wie der Italiener Umberto Eco. In seinem Roman Der Friedhof in Prag etwa unternimmt er eine breite Auffächerung der Leichtgläubigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, aus der unter anderem die Idee der jüdischen Weltverschwörung hervorging, die bis auf der ganzen Welt bereitwillig geglaubt und in antisemitische Komplotterzählungen verwoben wird. Auf den ersten Blick mag es verwirren, dass Di Cesare gerade an Eco scharfe Kritik übt, sie räumt ihm ein ganzes Kapitel in ihrem Essay ein. Doch es wird schnell offenbar, dass Ecos Verschwörungsgeschichten gerade dem tradierten Verständnis entsprechen, wonach der Verschwörungsglaube eine rückständige, unaufgeklärte Idiotie sei, die es nur noch zu überwinden gilt. “Das Heilige vermischt sich im Rahmen einer gescheiterten Säkularisierung und einer unvollendeten Moderne mit dem Profanen.” (S. 106) Es sei ein unaufgeklärter Geist, der noch in mystischen Denkweisen verfangen ist, der empfänglich für den komplottistischen Irrglauben ist. Dem entspricht auch Ecos Sprache und Stil. Die Einflechtung historischer und wissenschaftlicher Fakten dient immer nur dem Gestus der Herablassung gegenüber dem Unaufgeklärten, Fehlgeleiteten. Eco weicht also der Leerstelle auch wieder aus, anstatt sie ästhetisch zu konfrontieren, indem er den Verschwörungsglauben als Symptom einer Ewiggestrigkeit wegerklärt.

Als Fortschritt kann in dieser Hinsicht die Prosa von Zadie Smith gelesen werden. In ihrem Debütroman Zähne zeigen, der oft unter dem Label hysterischer Realismus verbucht wird, beschäftigt sie sich nicht mit Verschwörungserzählungen, fängt aber die Unlesbarkeit der Welt, die in abstrakten Systemen ihre sichtbaren Verbindungen zu verlieren scheint, auf exemplarische Weise ein. Es lässt sich hier die scheinbar paradoxe Situation wiederfinden, in der gleichzeitig die inneren Zusammenhänge der Welt zu schwinden und gleichzeitig alles mit allem in Verbindung zu stehen scheint. Die Ereignisse zwischen zwei Männern während des Zweiten Weltkrieges haben direkte, gewaltvolle Auswirkungen während der Präsentation genetisch manipulierter Mäuse im Jahr 1992. Die fehlenden Verbindungen zwischen den Dingen werden durch die Fäden der Erzählung wiederhergestellt. In der postkolonialen britischen Gesellschaft, die der Roman schildert, zerbrechen die traditionellen kulturellen Strukturen: Samad Iqbal, ein Bengalischer Moslem und eine der Hauptfiguren, ist zerrissen zwischen den Ansprüchen seines Glaubens und der vermeintlich säkularisierten britischen Gesellschaft. Um einen seiner zehnjährigen Zwillingssöhne vor dem moralischen Verfall zu bewahren, schickt er ihn nach Bangladesch, damit dieser als gläubiger Moslem aufwächst. Die real zerrissenen Fäden sind prägend für die Biografien der Figuren, die Leben der Zwillingsbrüder entwickeln sich fortan komplett unabhängig und gegensätzlich voneinander. Der Sohn in Bangladesch wird, zum Ärger des Vaters, ein überzeugter Atheist und Wissenschaftler. Er arbeitet später in einem Genetiklabor, in dem Mäusen Krebszellen eingepflanzt werden, mit dem hauptsächlichen Zweck, die Zufälligkeit der Krebserkrankung zu eliminieren. Ein emblematischer Versuch, der Unlesbarkeit der Welt, deren Zufälligkeit nicht nur zu begegnen, sondern sie sogar zu tilgen. Ein Versuch, den auch der Roman selbst unternimmt. Am Schluss blendet die Handlung wie eine Fernsehserie aus den Neunzigern aus, während das weitere “Schicksal” der Figuren nur angedeutet wird. Zähne zeigen stellt in Summe somit selber den Versuch dar, die in unüberschaubar gewordenen Zusammenhängen unlesbar gewordene Welt wieder lesbar zu machen. Denn es sind ausschließlich die Lesenden, denen sich die Handlung, der Plot als geheime Struktur hinter der auseinanderfallenden Wirklichkeit der Figuren offenbart. Die unsichtbaren Strukturen hinter der Wirklichkeit der Figuren ist der Plot, der für diese aber unsichtbar bleibt. Nur außerhalb der Romanwirklichkeit, das Buch in Händen, lesend, erschließt sich die Absurdität der Jahrzehnte und Generationen überbrückenden Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Figuren in ihrer Oberflächenwirklichkeit innerhalb der Romanhandlung bleibt nur das Ertragen des Zerfalls.

Die Leerstelle aushalten

Bei der Untersuchung engagierter Kunst kommt Theodor W. Adorno zu der Feststellung, dass die wahrhaft wirksame Kunst einer Nötigung der Rezipierenden gleichkomme, da sie eine Änderung der Verhaltensweise unausweichlich mache. Sie errege tatsächlich diejenigen Gefühle und Ängste, die andere nur beredeten. Ähnlich verhält es sich mit den Werken der Amerikaner Thomas Pynchon und Don DeLillo, in denen die Angst vor der Unlesbarkeit der Welt und der bis in die Paranoia übersteigerte Verdacht ästhetisiert und damit für die Lesenden erlebbar werden.

In seinem kürzesten Roman Die Versteigerung von No. 49 schreibt Pynchon als Verweise auf die Hinterwelt des Komplotts der Sprache selbst den paranoiden Doppelsinn ein, der hinter jeder Oberfläche eine zweite, eigentlichere Bedeutung erahnen lässt. Das beginnt bereits bei der Überschrift. In der deutschen Übersetzung des Titels geht leider die beängstigende Unsicherheit des Originals verloren. Dort heißt der Roman The Crying of Lot 49. “Crying” heißt dabei eben nicht nur “Weinen” oder “Schreien”, sondern bezieht sich auch auf den Aufruf eines Objekts bei einer Versteigerung. Im Zentrum der Handlung steht Oedipa Maas, die als Vollstreckerin des Testaments ihres ehemaligen Liebhabers damit beschäftigt ist, dessen Besitz zu ordnen. Sie sieht Unterlagen durch und arbeitet sich in das Chaos eines beendeten Lebens ein. Doch schnell gerät sie auf Abwege, als sie auf die knotigen Verbindungen einer vermeintlich allgegenwärtigen Geheimorganisation trifft. Je weiter sie den immer zahlreicheren, irgendwann an jeder Straßenecke auftauchenden Spuren und Verweisen folgt, desto bunter und pochender blüht die Paranoia zwischen den Zeilen auf. Geradezu als Pointe fungiert das Ende des Romans, das den erwartungsvollen Lesenden dann jedwede Auflösung verwehrt. Es bleibt unklar, ob die Geheimorganisation überhaupt existiert, oder ob Oedipa sich alle vermeintlichen Verbindungen nur eingebildet hat. Der rote Faden des Romans ist die Suche, die kein Ende hat. Durch das abrupte Ende des Romans, das einem Abbruch gleichkommt und, anders als bei Smith, keinen Blick in die Zukunft der Romanwirklichkeit mehr zulässt, werden die Lesenden dazu gezwungen, den von Di Cesare beschriebenen Ausweg aus dem Komplottismus zu nehmen: der einzige Weg, der paranoiden Ordnung zu entkommen, ist, ihr nicht weiter auf den Grund zu gehen. Im Kern von No. 49 befindet sich eine Leerstelle. Es gibt keine Fortsetzung, keinen zweiten Teil, keinen Anhang, kurz: keine Auflösung.

Ein anderes Beispiel für das Spiel mit der Unlesbarkeit ist Don DeLillos Weißes Rauschen. Der Roman, gerade frisch von Noah Baumbach mit Greta Gerwig und Adam Driver in der Hauptrollen als Film adaptiert , befasst sich mit der Angst vor dem Tod. Die Hauptfigur, Jack Gladney, ist Professor für Hitler-Studien an einem amerikanischen College und führt eigentlich ein idyllisches Leben. Er ist glücklich verheiratet, hat gesunde Kinder, ist erfolgreich. Jedoch krankt er, wie auch die Menschen um ihn herum, an der fehlenden Lesbarkeit (und damit auch handlungsmächtiger Erzählbarkeit) der Welt. Alle Figuren sind passiv in den Strukturen ihres Lebens und jeder Versuch, zum handelnden Subjekt zu werden, einen roten Faden in das eigene Leben einzuziehen, scheitert. Ein Scheitern, dass auf der Ebene der Handlungsstruktur des Romans gespiegelt wird. Es bietet sich hier gar kein Plot mehr an, nicht einmal die paranoide Suche hat Bestand, sondern sogar nur noch das Scheitern an der Schaffung von Verbindungen. Die Figuren sind nicht mal mehr dazu in der Lage, sich selber einen, wie abstrus auch immer erscheinenden Verschwörungsplot zu erzählen, um ihrer Welt einen Sinn, eine Struktur zu geben.

Pynchon und DeLillo nötigen die Lesenden dazu, der Uneindeutigkeit, der ultimativen Nicht-Interpretierbarkeit und der Ungewissheit ihrer literarischen Welten ohne zu Blinzeln ins Gesicht zu blicken. Es gibt keine erlösenden Muster mehr. Selbst in der Abstraktion, für einen kurzen Moment wieder erinnernd, dass der Roman in den Händen ein gemachtes Produkt ist, bleibt nichts mehr übrig, als die Leerstelle, die er darstellt, in die er durch die Lektüre geführt hat, schlicht zu ertragen.

Der Lohn der Freiheit

Die postmoderne Erforschung der Paranoia und der Unlesbarkeit der Welt ist sicher kein singuläres Ereignis in der Literaturgeschichte. Es ließen sich historische Fäden zu den nicht mehr verlässlichen Welten in den Roman Franz Kafkas ziehen oder die Unzuverlässigkeit der Perspektive bei Alfred Döblin und anderen Vertretern des Expressionismus. Die hinter jeder Ecke lauernde Ungewissheit in den Thrillern von Dashiell Hammett. Auch in den sich der traditionellen chronologischen Interpretation widersetzenden, labyrinthischen Strukturen des Nouveau Roman kann eine Entsprechung der von Di Cesare beschriebenen Leerstellen gesehen werden. Die albtraumhaften, wankenden Welten von William S. Burroughs, die in verschachtelten Rahmenerzählungen sich aufreibende Erinnerung und Wirklichkeit bei Margaret Atwood – die Liste der Verbindungen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist beliebig lang. Doch wie auch beim Komplottismus selbst, sollte die Suche nach Verbindungen nicht zur Manie werden.

Die Eingangsfrage nach dem Wert der Literatur im Angesicht der sich ausbreitenden Paranoia ist wohl nie mit letzter Sicherheit zu beantworten. Hätte der Sturm auf das US Capitol nicht stattgefunden, wenn die Beteiligten Paul Austers Leviathan gelesen hätten? Ein Roman, dessen Hauptfigur in der unlesbaren Welt nur noch in einem Strudel von Zufällen existiert und den Staatsapparat als gegen sich agierenden unsichtbaren Leviathan in den tiefen Wässern der Wirklichkeit wahrnimmt. Würden weniger Menschen eine Pandemie leugnen und an die Wirksamkeit von Impfungen glauben, wenn sie Margaret Atwood oder Kurt Vonnegut gelesen hätten? Im doppelten Sinn sei hier erneut Di Cesare zitiert: “Wer zum Komplott Zuflucht sucht, hält die Beunruhigung, die offene Frage nicht mehr aus.” (S.8) Es gilt natürlich, diese hypothetischen Fragen auszuhalten, sie mit einem “Ja!” ohne jeden Zweifel zu beantworten wäre genauso töricht wie der Verschwörungsglaube selbst. Doch die Vermutung, dass die spekulative Literatur, die sich der Unlesbarkeit der Welt, dem Verdacht und der Paranoia widmet, zumindest desensibilisierende Auswirkungen haben kann, sei geäußert. Sich selbst gezielt und in sicherer literarischer Umgebung der Befremdung aussetzen kann dazu führen, die befremdende Welt besser hinnehmen zu können. Eine Kernfähigkeit, der unlesbar gewordenen Welt zu trotzen, ist, sich “gemeinsam mit den anderen als exponiert, verletzlich und schutzlos wahrzunehmen, daher jedoch auch als umso freier und verantwortlicher.” (S.8)

[1] Donatella Di Cesare, Das Komplott an der Macht, 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, Übersetzung von Daniel Creutz, Matthes & Seitz

[2] Di Cesare differenziert mit diesen Begriffen streng zwischen unterschiedlichen Phänomenen, eine Unterscheidung, die in dieser Feinheit hier nicht notwendig ist; die Worte werden im Folgenden synonym verwendet.

[3] Auf der anderen Seite zeigte die Untersuchung aber auch, dass Literatur mit konventionellen, geradezu standardisierten Charakteren und Handlungsstrukturen auch mit einem weniger komplexen Weltbild zusammenhängt. Die Herzschmerzromanze oder der Krimi, die am Reißbrett geschrieben werden, könnten der Weltoffenheit somit sogar abträglich sein. 

Beitragsbild von Manh LE

Ziemlich beste Freundinnen. Selene Marianis Debütroman „Ellis“

von Hanna Sellheim

Der Klappentext von Selene Marianis Debütroman Ellis, erschienen 2022 im Wallstein Verlag, mutet vage bekannt an. Er verspricht: „Deutschland und Italien. Zwei Freundinnen zwischen Nähe und Distanz.“ Auf seiner Instagram-Seite verlost der Verlag den Roman mit einer Packung Abbracci-Kekse, die darin eine Rolle spielen. Italien, Freundinnen, Dolce Vita und zuckersüße Vermarktungsstrategien – das klingt verdächtig nach #ferrantefever, dem Hype um die „Neapolitanische Saga“ von Elena Ferrante, die weniger mit literarischer Innovation und mehr mit der Geheimniskrämerei um die wahre Identität der Autorin hinter dem Pseudonym Aufsehen erregte. Aber diese Vermarktung verwundert, wirft man einen Blick ins Buch: Denn was hier erzählt wird, ist keineswegs eine Freundschaftsgeschichte, sondern die Erzählung einer unglücklichen lesbischen Liebe. Doch das wird nie explizit und man fragt sich: Warum eigentlich?

Die Handlung des Romans ist knapp bemessen: Ellis, in Deutschland und Italien aufgewachsen, wird in der Schule gemobbt und ist kreuzunglücklich – bis sie Grace kennenlernt. Die beiden streiten und vertragen sich, verlieren den Kontakt, treffen sich schließlich nach zehn Jahren wieder und reisen gemeinsam zu Ellis‘ Großeltern nach Italien. Der Roman ist durch Ellis‘ Ich-Perspektive fokalisiert und in sehr kurzen, szenenhaften Kapiteln erzählt, wobei wiederholt zwischen den Zeitebenen von Kindheit und Gegenwart hin- und hergesprungen wird.

Kitsch und Atmosphäre

Andere Themen, die sich aus den Eckpunkten der Handlung logisch ergeben, finden vor allem am Rande Erwähnung; etwa Kindheitstraumata oder die Frage nach kultureller Zugehörigkeit. Mariani verwendet durchaus einfallsreiche Vergleiche („Mein Verhalten der letzten Tage steigt in mir auf wie Sodbrennen“) und wohlüberlegte Formulierungen („würge Themen heraus, kläglich klein sehen sie aus, wir schieben sie hin und her, unschlüssig“). Manches davon ist geprägt von einer recht aufdringlichen Wortwörtlichkeit, manches von schamlosem Kitsch:

„Ich habe mich verliebt, oft und jedes Mal unsterblich…“ Ich muss lächeln. „Manche Dinge ändern sich nie.“

Doch die eingebauten Referenzen schaffen ein überzeugendes Panorama der frühen Nullerjahre, die schlaglichtartigen Szenen bauen atmosphärische Bilder von italienischem Sommer und der gräulichen Langeweile deutscher Mittelstädte.

Und dann ist da eben die Beziehung von Ellis und Grace, die sich als nur halbherzig erwiderte Verliebtheit entfaltet. An Grace fällt Ellis zuerst und wiederholt der Vanilleduft und ihre blauen Augen auf, es entspinnt sich ein Spiel von Beobachten und Näherkommen. Insbesondere die Berührungen mit Grace sind es, die Ellis detailreich beschreibt. Da kleben schwitzige Arme aneinander, Hände liegen zu nah beieinander, Wangen berühren Hälse und Ellis ist der Anblick von Grace‘ nacktem Körper unangenehm.

Suggestive Bildsprache

Dies entwickelt sich zu einer durchaus überzeugenden Schilderung von gay panic:

Es ist unmöglich, sich nicht zu berühren, wenn ich nicht herunterfallen will. Der Film geht los, nach fünf Minuten die erste Liebesszene. Ich merke, wie mein Nacken sich versteift. Ich spüre Grace‘ warmen Körper an mir, habe das Gefühl, das [sic] sie mich ansieht. Ich versuche, normal zu atmen. Als endlich die Szene wechselt, lege ich mich erleichtert etwas entspannter hin. Vergeblich versuche ich mich auf den Film zu konzentrieren, schaffe es nicht.

So liest sich der Roman, als sei er in Codes geschrieben, die ganz bewusst einen Subtext des queeren Begehrens erzeugen. Es geht nie um Sex und doch gleichzeitig irgendwie immer, suggestive Anspielungen sind omnipräsent. Ellis sitzt „auf einer nackten Matratze“ , die Ballettlehrerin „schiebt ihre Beine scherenförmig auseinander“, ein Kater sieht aus, „als hätte jemand auf seinem Gesicht gesessen“, und bei Grace sind „die Innenseiten der Lippen noch weinrot“. Auch gar nicht subtile Beschreibungen körperlicher Vereinigung passen sich in das Bild:

Chiara und ich schaukeln, wie andere Freundinnen laufen – aus zwei Körpern wird einer. Mit der gleichen Biegung im Rücken drücken wir uns nach oben. Dort, der Pause zwischen Ein- und Ausatmen gleich, bleiben wir ganz kurz stehen, mit geschlossenen Augen.

Ellis zeigt derweil in der gesamten Erzählung kein Interesse an Männern, auf Grace‘ männliche Schwärme und Partner ist sie zugleich unverhohlen eifersüchtig.

Die queeren Andeutungen reichen bis zu Referenzen: Ellis‘ „Mund voll ungesagter Worte“ ist verdächtig nah an Anne Freytags „Mund voll ungesagter Dinge“ – einem erfolgreichen Jugendbuch, das eine Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen erzählt. Und von „Blau ist seine Lieblingsfarbe“ ist es nur ein Katzensprung zu „Blau ist eine warme Farbe“, dem wohl bekanntesten und umstrittensten lesbischen Liebesfilm.

Dabei nähert sich die Erzählung immer wieder asymptotisch der Ausbuchstabierung, insbesondere als Ellis‘ Vater auftaucht und ihr nahelegt: „Du schaust sie an wie sonst niemanden“ und „Du musst es ihr sagen.“ Dieses Es, das unausgesprochen zwischen den Zeilen schwebt, findet aber nie seinen Weg in die Ausformulierung, sondern bleibt stets Implikation. Coming-Out-Andeutungen häufen sich, bleiben aber unausgesprochen.

Als es schließlich doch zum Kuss zwischen Ellis und Grace kommt, folgt daraus jedoch weder für die Handlung noch für die Reflektion etwas; wenige Seiten später ist das Buch beendet. Das Ende verbreitet noch ein bisschen vage Self-Love-Share-Pic-Aufbruchsstimmung und fasert dann aus.

Best Friends Forever?

Wieso wird der Roman also trotz des offensichtlichen Inhalts so verschämt vermarktet als Freundschaftsgeschichte? Der Umschlagtext spricht von der „problematische[n] Dynamik ihrer Freundschaft“ und fragt recht naiv: „Was hält Ellis und Grace zusammen?“ Spielte sich dieselbe Geschichte schließlich zwischen einem Mann und einer Frau ab, sie würde wohl kaum so angeteasert. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen, die aber alle keine wirklich zufriedenstellende Antwort liefern: 

1. Der Roman (und mit ihm die Akteure drumherum) ist sich selbst seines queeren Subtextes nicht bewusst. Angesichts des oben gezeigten Umfangs der Anspielungen scheint das allerdings eher abwegig. 

2. Der Roman ist sich dessen bewusst, versucht aber, einem queeren Themen eher abgeneigten Publikum diese unterzujubeln, auch indem ganz bewusst der Ferrante-Hype angezapft wird. Hierbei stellt sich aber die Frage nach der Motivation: Dass solche Codierungsstrategien früher notwendig waren, um Bücher überhaupt auf dem Markt zu platzieren, liegt auf der Hand[1], aber warum sollte es heute noch im Interesse eines Verlags sein, die eigenen Produkte auf diese Weise zu maskieren? Gerade im Kontext des Pride Month erstaunt es, dass Wallstein den queeren Gehalt nicht mehr ausschlachtet. 

3. Man könnte den Roman lesen als fokalisierte Erzählung einer Figur, die keine Sprache für ihr eigenes Begehren hat, die ihr Gefühl des Andersseins verschiebt von der sexuellen auf die kulturelle Andersartigkeit, die in einer heteronormativen Welt gezwungen wird, sich selbst zu zensieren, um nicht weiter aufzufallen: „Ich lerne vorauszusehen, wann die Lauteste lacht, lache vor ihr, spüre ihren wohlwollenden Blick wie warmes Wasser, das mir den Nacken hinunterläuft. Früher war jeder Blick entlarvend, jetzt nicht mehr, jetzt bleiben sie auf der Oberfläche kleben. Ich weiß jetzt, was meine Stärke ist: mich anpassen.“ Doch das beantwortet nicht, warum das in den Paratexten dann nicht besser aufgefangen wird.

So scheint es am plausibelsten zu vermuten, der Text kapituliere vor der historischen Übermacht überkommener, heteronormativer und latent homophober Klischees und Stereotype von ‚natürlicher Nähe‘ zwischen ‚befreundeten‘ Frauen. Denn diese Muster haben eine Geschichte: Ellis ist keineswegs das einzige Beispiel für die Vermarktung lesbischer Geschichten unter dem Etikett der ‚engen Frauenfreundschaft‘. Der Film Grüne Tomaten (Fried Green Tomatoes) von 1991 erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen in Alabama Anfang des 20. Jahrhunderts – gibt das aber nie offen zu. Der Trailer betont „friendship“ und „best friends“. Die Zusammenfassung auf Filmstarts.de verspricht etwas von „tiefe[r]“ und „innige[r] Freundschaft“. Dabei legt die 1987 veröffentlichte Buchvorlage Fried Green Tomatoes at the Whistle Stop Café von Fannie Flagg, einer offen lesbischen Autorin, das Thema der gleichgeschlechtlichen Liebe recht eindeutig nahe. Kino-Zeit.de immerhin bemerkt: „Bedauerlich ist, dass die romantischen Gefühle zwischen den beiden jungen Frauen, die in Flaggs Roman angelegt sind, im Film auf ein rein platonisches Verhältnis reduziert werden.“

“Grüne Tomaten”: Queercoding par excellence

Doch auch das ist nicht wahr: Denn der Film ist voller Codes, die eine romantische Beziehung zwischen den Protagonistinnen Idgie und Ruth suggerieren, auch wenn dies eher im Subtext geschieht. Idgie wird als Tomboy eingeführt, weigert sich, für eine Hochzeit ein Kleid anzuziehen und läuft lieber in Hosen rum. Das allein ist selbstverständlich kein Indikator für lesbische Orientierung, die zärtliche Darstellung von Ruths und Idgies Beziehung, die im Grunde als Ehepaar zusammenleben und gemeinsam ein Kind großziehen, jedoch ist es definitiv. Berührungen und Küsse auf die Wange werden in Close-Ups gezeigt. Eine besonders eindrückliche Szene zeigt die beiden bei einem Food Fight, der mit Beeren-Geschmiere und erschöpfendem Rangeln auf dem Fußboden unschwer als Sex-Chiffre zu erkennen ist, und vom Sheriff unterbrochen wird, der die beiden darauf hinweist, gerade etwas Unerhörtes getan zu haben. Auch eine der Schlüsselszenen, in der Idgie für Ruth Honig erntet und auf die das Paar bei späteren Liebeserklärungen immer wieder Bezug nimmt („I‘ll always love you, the bee charmer“) arbeitet mit einer Bedeutungsverschiebung, die den queeren Gehalt hervorhebt: „I heard there are people who could charm bees. I have just never seen it done before today. You’re a bee charmer, Idgie Threadgoode. That’s what you are. A bee charmer.“ Im Anschluss an diese Aussage greift Ruth mit zwei Fingern in das Honigglas, das Idgie ihr hinhält, und leckt den Honig ab. Sexuell suggestive Bildlichkeit funktioniert also auch in anderen Fällen als Code für queeres Begehren – auch wenn dieser nicht von allen Rezipient*innen entziffert wird. So ist der Film durch die Vermarktung im Einklang mit Mainstream-Diskursen im kollektiven Bewusstsein eingegangen als Freundschaftserzählung – und der queere Hintergrund somit vergessen.

Lesbische Unsichtbarkeit

Es ist inzwischen zum Meme geworden, dass Historiker:innen (oder, vielleicht treffender, Historiker) zusammen lebende, einander Liebesbriefe schreibende Frauen als gute Freundinnen oder Mitbewohnerinnen vermuten. Zuweilen führt diese Verleugnung von Offensichtlichkeiten zu Absurditäten wie dem folgenden Satz auf der Wikipedia-Seite zu Vita Sackville-West, der Geliebten von Virginia Woolf: „Die Freundschaft war von großer Zuneigung und gegenseitiger Bewunderung geprägt, und zumindest zeitweise auch sexueller Natur.“ Auch in eindeutigeren Fällen kommt das Freundschaftslabel zum Einsatz: Netflix fasst Call Me by Your Name als Film über eine „lebensverändernde Freundschaft“ zusammen. In gravierenden Fällen führt ein solcher Bias zur Verfälschung von Forschungsergebnissen, nicht nur in der Literaturwissenschaft, sondern auch etwa in der Archäologie.

Die Grenzen und Grenzüberschreitungen von Liebe und Freundschaft zu diskutieren und Zwischenbereiche aufzuzeigen, ist ja keineswegs falsch – doch scheint es in diesen Fällen um etwas anderes zu gehen, nämlich die Leugnung romantischer queerer, und vor allem lesbischer, Liebe und Sexualität, die Diskriminierungen perpetuiert. Denn die Gleichsetzung von lesbischen Liebesbeziehungen mit engen Frauenfreundschaften macht queere Lebensrealitäten unsichtbar.[2] Während männliche Homosexualität jahrzehntelang kriminalisiert wurde, ist weibliche vor allem ignoriert worden.

Doch auch diese spezifisch lesbische kulturelle Unsichtbarkeit[3] ist problematisch und hat gesellschaftliche Auswirkungen – durcheinander geratene Definitionen von Liebe und Freundschaft, von Begehren und Bewundern sind deshalb keineswegs trivial. Warum? Die Antwort ist so einfach wie pathetisch: Weil Repräsentation Bedeutung hat und schafft. Weil Entstigmatisierung wichtig ist. Formate wie The L Word oder kürzlich erst Princess Charming haben gezeigt, wie wichtig es auch heute noch ist, immer wieder zu betonen, dass lesbische Liebe real und etwas anderes als enge Freundschaft ist, dass nicht alle Lesben aussehen, wie Onkel Ralf sich Lesben vorstellt, dass Frauen romantische Gefühle und sexuelles Begehren empfinden, auch zueinander, und dass es okay ist, das auch ganz explizit so zu benennen. Jetzt muss das wohl nur noch im deutschen Literaturbetrieb ankommen.


[1] Byrne Fone argumentiert weiterführend, dass die „friendship tradition“ den Ausdruck leidenschaftlicher, gleichgeschlechtlicher Gefühle überhaupt erst ermöglicht. (Vgl. Homophobia. A History. Metropolitan Books, 2000. 333.)

[2] Vgl. Kirsten Plötz: „Weitgehend ignoriert. Lesbisches Leben in der frühen Bundesrepublik“. In Bewegung bleiben. 100 Jahre Politik, Kultur und Geschichte von Lesben. Hg. von Gabriele Dennert et al. Querverlag, 2007. 29.

[3] Vgl. Ulrike Hänsch: Individuelle Freiheiten – heterosexuelle Normen in Lebensgeschichten lesbischer Frauen. Leske + Budrich, 2003. 59.

Beitragsbild von kyo azuma

Die Bestatter – Eine Erzählung

Auszug aus einer Erzählung von Thilo Dierkes

Der Test sollte Heranwachsenden, die dem Thema bisher mit zu viel Fantasie begegnet waren, eine genaue Vorstellung ihres beruflichen Werdegangs geben. Durchgeführt wurde er im Hauptsitz der Arbeitsagentur, am Ende einer langen Abfolge von Furnierholztüren und kryptischen Raumbezeichnungen. Fragen, die über einen Röhrenbildschirm flackerten und auf die psychische Verfasstheit der Getesteten abzielten: Wie viel Zeit benötigen Sie, um in einem beliebigen Café Ihre Bestellung zu formulieren? Was fühlen Sie beim Anblick eines Rapsfeldes? No7 rutschte auf einem Stuhl herum. Halten Sie Ihre Bestellungen für gerechtfertigt? Halten Sie eine Entlohnung für angemessen? Halten Sie gerne Reden? Können Sie mit Menschen? Der Test nahm den Großteil des Morgens, des Vor- und frühen Nachmittags in Anspruch. No7 musste sich zusammennehmen, um nicht einem früh erlernten Impuls vorauseilender Enttäuschung nachzugeben. Was können Sie mit Menschen? Als er aus dem Gebäude trat, war er sich nicht mehr sicher, ob er es am Morgen durch diese Tür betreten hatte. Einige seiner Mitschüler_innen standen noch auf dem Parkplatz herum, als sei ihr einziger Zweck einen Schatten zu werfen. Auch er glaubte, versagt zu haben.

Der entsprechende Brief kündigte sich, wie Briefe es oft tun, durch eine Reihe schlechter Omen an: Schwarze Katzen, verunglückende Schornsteinfeger_innen, Scherben, die explodierte Feuerwerksfabrik, zwei Verkehrstote auf der Ausfallstraße, der Winterschlussverkauf, die höchsten Temperaturen, die jemals in einem mitteleuropäischen April gemessen wurden. No7s Großmutter las die Schlagzeilen des Lokalteils vor, während er aus dem Küchenfenster schaute. Es war die einzige Art von Gespräch, die sie führten; zwischen ihnen der Umschlag in tonlosem Grau. No7 sah seine Zukunft vor sich gerinnen; seine Großmutter, die Tanten vor Tagesanbruch im Schatten der Häuserblocks, neben ihnen die Fahrradanhänger mit den Zeitungen. Immerzu schlechte Nachrichten durch Treppenhäuser tragen. Er öffnete den Umschlag, zog den Zettel heraus, wie man ein Pflaster entfernt. Bestatter, stand da. Er stutzte. Ich soll Bestatter werden.

Wie viele seiner Mitschüler_innen bemerkte No7 den allgemeinen Stimmungsumschwung erst, als er sich bereits vollzogen hatte. Eine bleierne Mutlosigkeit hatte sich über den Schulhof gelegt, die sich grundsätzlich von der Großen Panik des letzten Jahres, von der Kleinen Panik des Jahres davor, auch von der latenten Angst unterschied, den Querelen, der Quengelphase und den Wochen des Trotzes. Jene, die bereits einen Brief erhalten hatten, rotteten sich zu verschlossenen Schicksalsgemeinschaften zusammen. Ein Flüstern ging um; haarsträubende Geschichten über Pausenräume und Stechuhren, Versicherungsbeiträge, heimliche Zigaretten in der Lieferzufahrt; von Grußkarten war die Rede, von plastikverschweißten Präsentkörben und Weihnachtsfeiern. Schaudernd imitierten die Schüler_innen einen schwachen Händedruck oder eine Lohnverhandlung, aber stets verstrichen danach einige Momente, ohne dass jemand lachte. Im Gegenteil schien jedes Gespräch damit zu enden, dass die Beteiligten grübelnd und ohne sich zu verabschieden in unterschiedliche Richtungen gingen, auch wenn sie ins selbe Klassenzimmer mussten.

No7 fand sich von all dem ausgeschlossen. Außer ihm sollte niemand Bestatter werden; die ganze Schüler_innenschaft war ihm eine Masse entfernter Bekannter geworden, denen er im Vorübergehen kaum ein Nicken, geschweige denn ein teilnahmsloses Hallo entlocken konnte. Er verbrachte die Pausen größtenteils am Tor stehend, wie um niemand Bestimmtes an der Schule zu empfangen, und beobachtete die Gruppen am Wasserspender, bei den Mülltonnen und an der Tischtennisplatte. Sie sahen jeweils auf ihre eigene Art traurig aus. No7 wusste nicht, ob er traurig war. Erleichtert vielleicht, einen Namen für das zu haben, was er von seinem Leben erwarten konnte; nicht einer der Unglücklichen zu sein, die noch keinen Brief erhalten hatten und mit gesenkten Köpfen über den Schulhof rannten, als fürchteten sie, dass ein enormer Gegenstand auf sie stürzen könne. Zwar kursierte das Gerücht, im Werkraum, zwischen den Farbregalen, träfen sich außerhalb der Unterrichtszeit die Abgeschlagenen, um Bescheinigungen zu fälschen oder Originale gegen Sammelkarten, Alkopops und seltene Kaugummiarten zu tauschen, aber mit Ausnahme der Armbanduhr, die No7 zur Konfirmation bekommen hatte, besaß er nichts von Wert und wollte außerdem vor seinen Eltern nicht lügen müssen. Zumal er schon eine ungefähre Vorstellung seines kommenden Berufslebens hatte.

No7 kannte die Bestatter. Er hatte sie auf der Beerdigung seines Großvaters gesehen. Wächserne Männer in schwarzen Anzügen, die sich während der Zeremonie im Hintergrund hielten, die Arme hinter den Rücken verschränkt und stets bereit den Trauernden handbestickte Taschentücher anzubieten, wenn die Tränen kamen. Die Bestatter besaßen ein ausgeprägtes Gespür für alles Zwischenmenschliche. Sie wussten, wann Abstand geboten war, wann wiederum ein sanftes Berühren des Unterarms Beileid zum Ausdruck brachte. Sie kannten die Unwägbarkeiten von Trauergesprächen, Antworten auf das Warum und Was wäre wenn. Die Bestatter vermieden die offensichtlich und die weniger offensichtlich falschen Worte. In ihren Stimmen lag ein Klingen wie von einem weit entfernten Glockenspiel. Sie rochen immerzu nach Lilien; und ihr Händedruck ließ den Gegenüber mit keinem unangenehmen Gefühl zurück.

Obwohl die Beerdigung wenig mehr als zwei Jahre zurücklag erinnerte sich No7 kaum an den genauen Ablauf. Nur die engste Familie, seine Großmutter, Tanten und Eltern waren dort gewesen. Auf einem Klapptisch hatten Thermoskannen mit Kaffee und angeschnittener Kuchen gestanden, No7 in zweiter Reihe vor dem ausgehobenen Grab. Fliegen auf dem Büffet. Die Fliegen hatten sich ihm ins Gedächtnis gebrannt; und dass plötzlich ein Bestatter neben ihm stand, mit glänzenden Schuhen und Wangenknochen, der in die Knie ging, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Er hielt ein silbernes Kreuz in der Hand, drehte es, als würde er es betrachten. Ließ es letztendlich in eine Anzugtasche gleiten und legte die Hand auf No7s Schulter. Überraschend schwer war diese Hand. Die Grashalme ringsum schienen sich von ihnen abzuwenden, die Grabrede nahtlos ins Rauschen der Birken ins Summen der Fliegen überzugehen. Ein süßlicher Duft stieg um No7 auf. Die Hand des Bestatters auf seiner Schulter wurde schwerer und schwerer. Der schien geradewegs durch ihn hindurch zu schauen, seine Augen in ihre Höhlen zurückzuweichen. Stille.

No7 wähnte sich allein auf der Hinterseite der Welt. Er stand auf dem gekippten Friedhof, umringt von angewinkelten Birken, das Licht fiel hin und her. Jeder Wind scheuchte die Silhouetten kleinerer Tiere durch das Gras entlang der Wege. Zuerst, dachte er, fühlte er nichts. Dann einen ungekannten Schmerz, etwas Bleiernes, Heißes, das in seiner Magengrube wuchs. Er beugte sich über, verkrampft. Er schrie, aber der Schmerz nahm zu. Als würde er ausgekocht. Siedende Säure in seinem Hals, der Schaum, geplatzte Äderchen. Er wollte sich stützen, wollte sich an irgendetwas festklammern, wollte alles zerschlagen und abreißen, wenn nötig. Wollte greifen und fassen, aber seine Hände fanden nur Luft. Nur Luft und Luft und Luft und Schaum in seinem Mund und Säure in seinem Hals und das brennende Ding in seinem Magen – Atmen. Das Gesicht des Bestatters, diesmal besorgter, Schweißperlen auf seiner Stirn. Atmen, Junge, sagte er, die Hände tastend in den Anzugtaschen. No7 nickte, schluckte. Fand seinen Körper, nicht brennend, im rechten Winkel zur Erde. Der Bestatter zog die Hände aus den Anzugtaschen, leer. Er zuckte mit den Schultern. Sein Blick ging zum Grab, das ein Friedhofsgärtner gerade begann zuzuschaufeln. Ich kann dir nicht sagen, dass es besser wird. Es wird eine ganze Zeit nicht besser werden. Nicht heute. Nicht Morgen. Der Bestatter wandte sich wieder zu No7. Aber das weißt du. No7 nickte erneut. Was du nicht weißt – und das ist schmerzvoll. Aber du kannst darum herum leben.

Was ist, wenn ich nicht darum herum leben will?

Niemand möchte das, sagte der Bestatter und drückte kurz No7s Arm. Aber, damit richtete er sich auf, es gibt keine Alternative. Mein Beileid, sagte er und ging den anderen Bestattern nach, die bereits am Friedhofstor standen und ihre Taschenuhren kontrollierten. Der Motor eines Autos sprang an, die Birken rauschten, die Fliegen waren fort.

Irgendwann dann war die Beerdigung für beendet erklärt worden. No7s Tanten hatten den Kuchen eingepackt, die Großmutter noch ein letztes Gespräch mit Gott und dergleichen geführt. Kurz darauf waren sie alle zusammen nach Hause gefahren.

Im Kreis der Familie war der Brief auf allgemeine Zustimmung gestoßen. No7s Großmutter hatte über den Rand der Zeitung geblickt und gesagt: Da bin ich aber froh, seine Tanten hatten ihm überschwänglich gratuliert, als sie aufgestanden waren, seine Eltern hatten ihn abends in die Arme geschlossen und waren ihm durchs Haar gefahren. Neuerdings sagten sie Sätze wie: Dann machst du ja auf eine Art etwas Handwerkliches oder Man braucht nicht für alles ein Studium. Wann immer Bilder von Krawatten in den Werbeprospekten waren, schnitten sie die Seiten heraus und hängten sie an die Kühlschranktür. Es handelte sich dabei um einen einfachen Trick, der die Familie an gemeinsame Ziele, Wünsche, Hoffnungen erinnern sollte. No7s Eltern benutzten ihn oft. Wenn sich sein Vater ein Feierabendbier aus dem Kühlschrank nahm, blieb sein Blick häufig an einem Zeitungsschnipsel hängen, der die Mittelmeerstrände pries, die darüber aufragenden Felsklippen, die darauf thronenden Dörfer. Auf dem dazugehörigen Schwarzweißfoto konnte man das Türkis des Meeres förmlich sehen. No7 kannte diesen Blick; er galt allem Verlorenen. Seine Mutter sah ihn manchmal so an, wenn sie über den Schulabschluss sprach oder Anzüge oder Grundstückpreise in der Region.

Nach dem Tod des Großvaters hatten sie dessen Werkstatt entrümpelt, den Keller, ein vollgestopfter Raum mit niedriger Decke, der in No7 stets das Gefühl hervorrief, eine geheime zweite Tür übersehen zu haben. Die Werkbank, das Transistorradio, alles überzogen von einer dünnen Schicht Staub und Sägespäne. Ein gutes Dutzend halbfertiger Möbelstücke hatten sie herausgeholt, Hocker mit schiefen Beinen, keiner zu gebrauchen. Krumme Regale, in die man nichts hineinstellen konnte. No7 hatte versucht, sich seinen Großvater vorzustellen, rotierend inmitten des Gerümpels, einen Stuhl vor Augen, einen Tisch. Wie ihm die Anzeichnungen misslungen waren, die Säge entglitten. Wie er immer wieder probiert haben musste, sich auf einen der Hocker zu setzen und dann, nach dem fünften Versuch, auf dem Boden liegend weitergetrunken hatte.

Während der Entrümpelung war No7 zu der unbewussten Auffassung gelangt, eines Tages auf eine plötzliche, möglicherweise gewaltvolle Art ums Leben kommen zu müssen, und ahnte ähnliches für seinen Vater, dessen Alltag aus undurchsichtigen Tätigkeiten in einem Lagerhaus am Stadtrand bestand, aus Paketen, die in erratischen Mustern verschoben werden mussten, um eine unheilvolle Maschine zufrieden zu stellen; für seine Mutter, die im Büro stets noch eine kurze Notiz schreiben, eine Akte bearbeiten, ein Fenster öffnen oder schließen musste, bevor sie dazu kam, etwas zu essen oder zu trinken. Nur seine Großmutter und Tanten würden ewig leben. Und wenn sie dann doch stürben, würden die Zeitungen den Betrieb einstellen, die Verlagshäuser Trauerkarten drucken und darauf würde stehen: Wir danken für die Zusammenarbeit.

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Ein bürgerliches Trauerspiel – Über Familienbilder und Abtreibungsverbot

von Isa Hoffinger

Die Literatur und das Leben sind voller familiärer Konflikte: Brudermorde, Inzeste, Seitensprünge. Dennoch glauben viele Menschen an das Märchen von der heilen Familie. Auch einige Argumente von Abtreibungsgegnern in der aktuellen Debatte basieren darauf. Warum hält sich dieser Mythos so hartnäckig?

Murphy Brown war schuld. Zumindest aus der Sicht von James Danforth Quayle. Im Frühsommer 1992 schimpfte der damalige US-Vizepräsident über die Hauptfigur der gleichnamigen Sitcom: „Es hilft uns nicht, wenn Murphy Brown, eine Figur, die repräsentativ für die intelligenten und gute bezahlten Frauen der Gegenwart ist, zur Primetime über die Relevanz von Vätern spottet, indem sie ein Kind alleine zur Welt bringt und das als Frage des Lebensstils bezeichnet.”

Wie die Soziologin Christine Zimmermann zeigt, gehörte Murphy Brown zu den beliebtesten und langlebigsten US-Serien. 247 Folgen wurden von 1988 bis 1998 ausgestrahlt. Die Protagonistin war eine zuweilen recht sture, aber erfolgreiche Reporterin. Ihr Vergehen bestand, so sah das offenbar der Republikaner und spätere Trump-Unterstützer James Danforth Quayle, in ihrem Versuch, ihre Berufstätigkeit mit ihrer Mutterrolle zu vereinbaren.

Interessant ist, wie stark Quayles wütender Kommentar damals verfing. Nach seiner Aussage vor dem Commonwealth Club of California gab es eine öffentliche Debatte über die angebliche Krise der Familie, schlimmer noch, über den moralischen Verfall der ganzen Gesellschaft. Wer glaubt, das seien die 1990-er gewesen und heute, dreißig Jahre später, sei alles akzeptiert, Alleinerziehende, LGBT-Eltern, Reproduktionsmedizin, täuscht sich.

Von der Pille zu Roe vs. Wade

Inzwischen pochen Biolog*innen wieder auf die Zweigeschlechtlichkeit, was Vorurteile gleichgeschlechtlichen Paaren gegenüber verstärkt und Abtreibungsgegner behaupten neuerdings abermals, Schwangerschaftsabbrüche verstießen gegen das natürlichste aller Gefühle: Die biologisch begründete Mutterliebe, die die französische Feministin Elisabeth Badinter im Jahr 1980 schon als Mythos entlarvte. Warum nur wird das Rad der Zeit gerade derartig zurückgedreht?

Fast immer, wenn es gesellschaftliche Spannungen gibt, wird die Familie dafür verantwortlich gemacht. Dass Ursachen für Unzufriedenheiten aller Art in der Familie verortet werden, liegt auch daran, dass die Entstehung der Kleinfamilie von Beginn an mit hohen Erwartungen an Glück, Erfolg, Selbstverwirklichung verknüpft war. Scheitern persönliche Träume oder die Ambitionen bestimmter Gruppen, sind nicht etwa die eigenen Ansprüche zu hoch und ist nicht etwa die Politik schlecht. Nein, die Familie ist dann „in der Krise“. Vom Zerfall der moralischen Institution Familie sprechen darum auch die Verfechter*innen der neuen Abtreibungsverbote so gerne.

Gewalt in der Ehe war bis 1997 straffrei

Dass der Aufschrei gegen die Entscheidung des Supreme Court in den USA im Moment unüberhörbar ist, ist mehr als verständlich. Für das Recht, über ihren Berufswunsch, ihr Leben und ihren Körper selbst zu bestimmen, mussten Frauen hart kämpfen. Noch bis 1997 galt etwa in Deutschland nur der erzwungene außereheliche Geschlechtsverkehr als Straftat. Nötigte ein Ehemann dagegen seine eigene Frau zum Sex, hatte er juristisch nichts zu befürchten. Wie viele ungewollte Schwangerschaften Folgen von Vergewaltigungen waren und sind, wissen wir nicht.

In den 1960er und 1970er Jahren verursachten zwar zuerst die Anti-Babypille und später dann die höchstrichterliche Entscheidung zur Abtreibung im Fall Roe vs. Wade in den Vereinigten Staaten einen nachweisbaren Rückgang von Schwangerschaften, aber weder die Pille noch die Richter konnten sexuelle Gewalt aus der Welt schaffen. Warum so selten über Vergewaltigungen durch Angehörige gesprochen wird und die Dunkelziffer bis heute so hoch ist, hat auch mit einem Familienleitbild zu tun, das seit seiner Entstehung absolut unrealistisch war.

Die weibliche Tugend als Waffe im Kampf um den Aufstieg

Die Familie ist eine der ursprünglichsten Formen menschlicher Gemeinschaft. Konstitutiv für diese Sozialform ist, soziologisch gesehen, die Zusammengehörigkeit von mindestens zwei Generationen, die in einer Eltern-Kind-Beziehung zueinander stehen. Ob es nur einen Elternteil gibt, der im Haushalt mit dem Nachwuchs zusammenlebt oder zwei, das spielt, zumindest für die familiensoziologische Definition, glücklicherweise heute keine Rolle mehr. Die Tatsache, dass es heterosexuellen menschlichen Sex gibt, hat zu der Annahme geführt, dass die Familie eine Naturkonstante sei. In Wirklichkeit ist sie eine historisch determinierte Lebensform, deren Entwicklung eng mit dem Wandel sozioökonomischer Verhältnisse verknüpft ist.

Diverse Vergesellschaftungsprozesse haben sich an familialen Strukturen orientiert. Dies wird an der Übertragung von Verwandtschaftsbegriffen auf andere soziale Systeme deutlich. So beeinflusste das Bruderschafts-Modell einige kollektive Organisationsformen, von den frühmittelalterlichen Kaufleute- und Handwerkergilden bis zur Arbeiterbewegung um 1900. Umgekehrt haben wirtschaftliche und politische Prozesse zur Herausbildung spezieller Familientypen geführt und sogar die Binnenstruktur bestehender Familienformen verändert, wie eine Entwicklung im 17. Jahrhundert zeigt: Mit der Inanspruchnahme der Landesvater-Position durch den absolutistischen Herrscher lässt sich, das zeigen familiensoziologische und sozialhistorische Studien, auch eine Zunahme an väterlicher Autorität in der Familie nachweisen. Die Familie war damals ein Abbild gesellschaftlicher Strukturen. Sie war schon immer eine variable Sozialform und keineswegs eine natürliche, stabile oder gar gottgewollte Form des Zusammenlebens.

Pro-Life-Anhänger, Geistliche und Republikaner rekurrieren nichtsdestotrotz unbeirrbar auf ein überholtes Familienleitbild, das im 17. Jahrhundert entstand. Damals entwickelte sich das bürgerliche Familienmodell, ein ideologisches Konstrukt, zu dem auch die sogenannten Geschlechtscharaktere gehörten, die die Historikerin Karin Hausen erforscht hat. Frauen sollten angeblich von Natur aus sanft und ruhig sein, Männer tatkräftig und mutig. Das ließ eine Rollenteilung plausibel erscheinen. Hinter diesem Familienmodell, das der Frau die innerhäusliche Sphäre und dem Mann die außerhäusliche Sphäre zuwies, standen zum einen reale Erfordernisse der damaligen Zeit: Es gab nach und nach weniger sogenannte große Haushaltsfamilien als Produktionsgemeinschaften, etwa in der Landwirtschaft. Die Erwerbsarbeit fand also nicht mehr zuhause statt und wurde von der Privatsphäre getrennt. Aber auch politische Ziele des sogenannten höheren Bürgerstandes, einer Gruppe, die sich aus Gelehrten, Künstlern, Kaufleuten, Unternehmern, höheren Beamten zusammensetzte, steckten hinter der Entstehung dieses Familienmodells.

Der Ursprung des Amerikanischen Traums

Seit dem 17. Jahrhundert wird die sogenannte Kernfamilie mit maximal zwei Generationen als Keimzelle der Gesellschaft betrachtet. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Noch im Jahr 2013 setzte der Schweizer Rotary Club einen Ausspruch des Berner Dichters Jeremias Gotthelf als Motto auf seine Webseite: „Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland“. Jeremias Gotthelf hieß in Wirklichkeit Albert Bitzius, war im Hauptberuf Pfarrer und lebte von 1797 bis 1854.

Die Grundlage des bürgerlichen Selbstverständnisses war im 18. Jahrhundert das Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit, das sich auch heute noch im Amerikanischen Traum spiegelt. Die gesellschaftliche Position sollte, im Gegensatz zur Ständegesellschaft, kein Geburtsrecht mehr sein, sondern das Ergebnis persönlicher Fähigkeiten, die zu erwerben prinzipiell jedermann möglich sein sollte. Dieser Gedanke impliziert ein bestimmtes Menschenbild, demzufolge alle Menschen autonome, selbstverantwortliche Individuen sind. In diesem Zusammenhang ist neben der Französischen Revolution der Einfluss der philosophischen Anthropologie von Bedeutung, die sich seit dem Humanismus und der Reformation entwickelte. Sie erhielt von Kant und Hegel entscheidende Impulse, etwa durch Hegels Theorie über die Konstitution des Selbstbewusstseins durch den Kampf um Anerkennung, die als prototypische soziologische Subjekttheorie bezeichnet wird. Sasa Josifovic hat dazu eine lesenswerte Arbeit vorgelegt.

Jeder ist seines Glückes Schmied

Das neue Leistungsprinzip setzte Werte voraus, die in der Familie ausgebildet werden sollten. Darum wurde die Familie auch so wichtig. Mit ihrer Hilfe sollten die Bürgerskinder Tugenden entwickeln und Kenntnisse erwerben, die im Wettstreit mit dem Adel von Vorteil waren: Selbstbeherrschung, Fleiß, Arbeitsethos. Eine wichtige Rolle spielte der Wert der Innerlichkeit, der durch den Protestantismus verbreitet wurde und der auch von den Evangelikalen in den USA heute noch gepredigt wird. Erst die Konzentration auf das durch den Protestantismus vermittelte Bewusstsein von Sündhaftigkeit ließ das Gewissen zu einer mächtigen Kontrollinstanz werden. Nicht nur das Scheitern beruflicher Ambitionen, auch das Abdriften in einen lasterhaften Lebenswandel konnte so der Familie zugerechnet werden.

Die bürgerlichen Familien mit ihren tugendhaften Töchtern wurden in der Literatur wie im Leben zu Sinnbildern einer neuen Sittlichkeit, die im Gegensatz zu den sexuellen und materiellen Ausschweifungen des Adels standen. Das machte die Bürger moralisch wertvoller und den Adel minderwertiger. Wurde eine Bürgerstochter von einem Adeligen verführt, bedeutete das also nicht nur persönliches Leid, sondern auch einen Rückschritt im Kampf um Gleichberechtigung der Bürger. Lessings „Emilia Galotti“ thematisiert das beispielsweise.

Die Ehe- und Familienlüge

Um 1900 und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kam es zu einem rasanten Wandel der Lebensbedingungen in einer Welt, die seit dem Siegeszug der Industriellen Revolution immer komplexer wurde. Die Modernisierung rief Emotionen des Unbehagens hervor. Hinzu kam, dass das Individuum aufgrund von Rationalisierung und Technisierung die Möglichkeit der Selbstvergewisserung verlor. Sein Kapital war nicht mehr die eigene Leistung, sondern mittlerweile eher der Einsatz von Maschinen. Während Angehörige des Großbürgertums, also etwa Fabrikbesitzer, die Gewinner der Industrialisierung waren, verarmte die Arbeiterschaft. Das sogenannte Kleinbürgertum resignierte. Die Schere zwischen Arm und Reich begann zwar nicht erst zu jener Zeit, auseinanderzugehen, aber die Enttäuschung vieler Kleinbürger, den Aufstieg trotz aller Anstrengungen nicht schaffen zu können, mündete in einen Rückzug ins Private, und der Frust war so stark, da die Hoffnungen auf das Vorwärtskommen durch eigene Kraft vorher so groß waren. Statt überkommene Moralvorstellungen einfach über Bord zu werfen und sich einzugestehen, dass das Familienmodell nur ein unerreichbares Ideal gewesen war, klammerte man sich daran wie Ertrinkende an einen Rettungsring. 

Der Institution Familie gelang es um 1900 in Europa kaum noch, Werte zu vermitteln, die die Welt durch konkrete Sinnzuweisungen erfahrbar machen konnten. In der Literatur spiegelt sich das in Gerhart Hauptmanns Familiendramen oder im expressionistischen Schauspiel, etwa in „Vatermord“ von Arnolt Bronnen. Die Kinder begannen, zu rebellieren. Sie warfen der Familie eine Verlogenheit vor, die nur vor dem Hintergrund zu verstehen ist, dass die Familie zuvor so enorm aufgewertet worden war. Zeitgenossen sprachen nun erstmals von einer „Krise der Familie“, die sich in der Literatur manifestiere. Im Grunde ist das auch der Zustand, in dem sich die moderne Familie bis heute befindet. 

Die Verlierer des Digitalkapitalismus

Der Prozess einer beschleunigten Veränderung ist auch jetzt, seit den Nullerjahren, wieder zu beobachten. In den USA hat der Digitalkapitalismus zu viel Unsicherheit bei Menschen geführt, die im Handwerk oder im klassischen Dienstleistungssektor beschäftigt sind. Ein Job reicht vielen nicht mehr zum Überleben. Durch die Pandemie wurde die Wirtschaft zusätzlich geschwächt. Und scheinbar ist es nun, auch vor dem Hintergrund der verlorenen Wahl von Trump, wieder einmal oder immer noch die intakte Familie, die für Ordnung sorgen und alles ins Lot bringen soll, was politisch schieflief.

Auf Kosten von Mädchen und Frauen gehen Republikaner auf Stimmenfang, fällen Richter*innen nun wieder Urteile. Nicht nur in den USA, auch in Polen. Institutionen, etwa Gerichte, brechen nicht nur, und das ist das Tragische, den moralischen Stab über Frauen, die ungeplant oder ungewollt schwanger sind, sondern sie sorgen darüber hinaus dafür, dass Frauen, auch wenn sie Opfer von Vergewaltigungen sind, doppelt bestraft werden. Mit der eigenen Scham und mit dem Gefängnis.

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Wovon wir sprechen, wenn wir Versöhnung sagen oder: Wer fabriziert hier wem einen Popo?

von Mia Raben

Ich bin ein von innen verschmutztes, kluges, auffällig musikalisches, ordentlich frisiertes Mädchen mit Kragen. Ich bin irgendwie anders, aber sympathisch, denn ich bin anpassungsfähig. Ich lese den Erwachsenen ihre Wünsche aus den Gedanken ab, bevor sie sie selbst formulieren können. Zum Beispiel: Zeige dich lässig und unbeeindruckt vom Reichtum deiner Freundinnen und Freunde. Tu so, als sei es ganz normal, vier Mercedesse vor dem Haus stehen zu haben, alle mit fast gleichem Kennzeichen, immer Hamburg und die Initialen meiner Freundin. HH-DH. Tu so, als gehörtest du dazu. Als hättet ihr in der Familie dieselben Rituale, wie alle anderen auch. Lindenstraße gucken. Das Auto waschen. Sonntagsfrühstück. Mahlzeiten immer zur selben Zeit. „Wir essen immer um 18.30 Uhr”, höre ich mich sagen. Das ist nicht wahr. Wir essen, wann es uns in den Kram passt. Manchmal erst um neun. Damit das nicht rauskommt, und auch andere Dinge nicht, die bei uns „komisch“ oder anders sind, übernachte ich lieber bei meiner Freundin, anstatt sie bei mir. Dagegen hat niemand etwas einzuwenden. Erst zwei Jahrzehnte später werde ich erleichtert feststellen, dass meine Kinder gern andere Kinder zu uns zum Übernachten einladen.

Schamhafte Wahrheiten. Wie sich ihnen nähern?

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Eine Poetik des Zweifels – Zum hundertsten Geburtstag der Schriftstellerin Ruth Rehmann

von Nicole Seifert

Ruth Rehmanns erster Auftritt bei der Gruppe 47 war denkwürdig. Am Abend sang sie „schallplattenreif Chansons mit einer wilden Stimme“, wie es später in der FAZ heißen sollte, und ihre Lesung am nächsten Tag rief in Großholzleute im Allgäu derart positive Reaktionen hervor, dass sie für den Preis der Gruppe des Jahres 1958 im Gespräch war. Und hätte Günter Grass nicht noch Aufsehen mit einem Kapitel aus seinem unveröffentlichten Roman Die Blechtrommel erregt – sie hätte den Preis wohl auch bekommen. Ebenfalls auf der Tagung anwesend war Siegfried Unseld, der Ruth Rehmann schließlich unter Vertrag nahm. Der Roman, aus dem sie den Auszug „Das erste Kleid“ gelesen hatte, erschien 1959 unter dem Titel Illusionen bei Suhrkamp, wurde in mehrere Sprachen übersetzt, ein weiteres Kapitel schaffte es in die Schulbücher, dann geriet der Roman langsam in Vergessenheit. Der AvivA Verlag hat Illusionen nun anlässlich des hundertsten Geburtstags der Autorin neu aufgelegt.

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Erfahrungen und Widersprüche – Zum hundertsten Geburtstag Franz Fühmanns

von Lukas Betzler

Vor hundert Jahren, am 15. Januar 1922, wurde Franz Fühmann im böhmischen Rokytnice nad Jizerou (Rochlitz an der Iser) geboren. Fühmann wurde einst zu den bedeutendsten Schriftsteller:innen der DDR gezählt und auch im Westen gelesen, wo seine Werke vor allem bei Suhrkamp und Luchterhand erschienen. Heute hingegen, knapp 38 Jahre nach seinem Tod, ist er weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur unter denjenigen, die in der DDR aufwuchsen, hat sein Name noch einen vertrauteren Klang, denn es gab dort in den siebziger und achtziger Jahren wohl kaum ein Kind, das keine seiner Kindergeschichten oder Mythen-Nacherzählungen kannte. Aber diese Lektüren liegen schon weit zurück und werden nur bei wenigen seither erneuert worden sein. Auf dem Radar der Literaturkritik und -wissenschaft befindet sich Fühmann, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sowieso schon seit längerer Zeit nicht mehr. Daran hat bislang auch der Umstand wenig geändert, dass Fühmann von Schriftsteller:innen wie Marcel Beyer, Annett Gröschner, Peter Härtling oder Ingo Schulze zu ihren wichtigsten Vorbildern gezählt wird. Die „Fühmann-Renaissance“, von der Stephan Krause schon 2018 auf literaturkritik.de angesichts zahlreicher neuer Veröffentlichungen zu Fühmann freudig schrieb, ist bedauerlicherweise immer noch mehr Wunsch als Wirklichkeit.

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Die Belange der Liebe. Über Anne Webers „Tal der Herrlichkeiten“

von Samuel Hamen

In ihrem „Tal der Herrlichkeiten“ braucht Anne Weber nicht viel, um ihre Hauptfigur in ihrer ganzen Erbarmungswürdigkeit zu porträtieren: einen Strand, ein Meerestier und einen vom Leben gezeichneten Mann, der sich kraftlos zu Boden fallen lässt. „In kaum einer Handbreit Entfernung, aber von Sperber ungesehen, lief ein Einsiedlerkrebs an ihm vorüber, mit einem Teil seiner Beine sein schützendes Gehäuse festhaltend, mit vier weiteren Haus und Leib vorwärtsbewegend, scheinbar unbekümmert, als wäre der Liegende kein ungleich größeres und somit bedrohliches Lebewesen, sondern eine angeschwemmte tote Robbe oder ein Stein.“

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