Über Diversität in der Buchbranche wird seit einigen Jahren viel diskutiert, um ihren Mangel zu kritisieren und um für eine größere Vielfalt einzustehen. Sharon Dodua Otoo, Bachmann-Preisträgerin und Autorin des Romans „Adas Raum“ (Fischer 2021) gehört in diesem Diskurs zu den wichtigsten Stimmen- Jetzt hat sie gemeinsam mit den Ruhrfestspielen das Schwarze Literaturfestival „Resonanzen“ (19. bis 21. Mai) ins Leben gerufen, um anderen deutschsprachigen Schwarzen Autor*innen den Weg in den Literaturbetrieb zu ermöglichen. Wie genau das aussehen soll, verrät sie uns im Interview.
Die deutsche Buchbranche ist vor allem hinter den Kulissen vorrangig weiß (und bürgerlich). Auch wenn mehr und mehr Bücher erscheinen, die den Literaturbetrieb diverser machen, bilden die Bücher und Autor*innen, die von Verlagen eingekauft und veröffentlicht werden, diese Struktur mehr als deutlich ab. Damit Verlagsprogramme dauerhaft diverser werden, muss sich zunächst aber hinter den Kulissen einiges ändern. Elisa Diallo (Paris, *1976), zuständig für Rechte und Lizenzen im Schöffling Verlag und Autorin des Memoirs „Französisch verlernen. Mein Weg nach Deutschland“, hat einige Vorschläge, wie man das Problem fehlender Repräsentation in der hiesigen Verlagsbranche anpacken könnte. Das Wort „Diversität“ kann sie langsam nicht mehr hören. In Ermangelung einer Alternative verwenden wir es im Interview trotzdem.
Elisa, in deinem Buch Französisch verlernen thematisierst du unter anderem Rassismus in Deutschland und Frankreich. Um deinen Job in der Buchbranche geht es dabei nur am Rande. Du erzählst aber eine Anekdote: „Eine meiner Freundinnen ist Lektorin in den Niederlanden und auch schwarz. Wir witzeln oft, dass wir wohl die beiden einzigen Nicht-Weißen in der internationalen Verlagswelt sind. Auf den Buchmessen passiert es manchmal, dass uns die Kollegen verwechseln, die uns oder eine von uns beiden kennen.“ Zunächst ganz allgemein gefragt: Wie divers ist die hiesige Buchbranche?
Elisa Diallo, Mitarbeiterin im Schöffling-Verlag und Autorin, Fotografie: Herby Sachs
Die deutsche Buchbranche ist meiner Erfahrung nach extrem weiß. Fast noch störender als die fehlende Diversität wegen Hautfarbe und ethnischer Herkunft ist für mich aber die bezüglich sozialer Herkunft. Es wird eine bestimmte Ausbildung erwartet, um mit Texten zu arbeiten. Aber die Frage ist: Stimmt das wirklich? Braucht es dafür einen akademischen Titel? Auch der Vertrieb von Büchern, sprich die Buchhandlungen, könnte diverser werden. Dieser Bereich ist im Umbruch, aber noch überwiegend weiß und bürgerlich, und die meisten Buchhändler*innen sprechen nur eine bestimmte Zielgruppe an. In den letzten Jahren, so mein Gefühl, haben sich alle im schnellsten Tempo zum Thema „Diversität“ weitergebildet, alle reden von „BPoC“, aber bei mir weckt das Unbehagen. Schaut man die Herbstvorschauen durch, ist dieser „Trend“ auch schon wieder vorbei.
In den USA gibt es die Debatte schon länger, in Deutschland ist sie noch neu…
Solange „Diversität“ nur ein Werbeslogan bleibt, bin ich skeptisch. Wir brauchen auf jeden Fall Studien, handfeste Daten zu diesem Thema, sonst ist es immer nur gefühlt. „Gefühlt“ sind wir auf einem guten Weg, aber vielleicht auch nicht. Wir brauchen Daten über das Personal in der ganzen Branche, Verlage, Agenturen, Buchhandlungen … Und es geht auch um die Inhalte der Bücher. Wir hatten ein tolles Frühjahr mit Sharon Dodua Otoo, Mithu Sanyal oder Asal Dardan – viele verschiedene Stimmen. Aber alle haben über das Thema Rassismus geschrieben. Ich weiß nicht, ob es jemanden interessiert, sobald Schwarze Autor*innen über etwas anderes schreiben, während weiße Männer über alles schreiben können. Außerdem gelten Schwarze Erzählungen als Nische. Deutschland sieht sich immer noch als homogene weiße Gesellschaft, was extrem kontraproduktiv ist. Man geht von einer weißen, bürgerlichen Leserschaft aus, die man bedienen muss und glaubt, diese Leserschaft könne sich nicht mit Schwarzen Geschichten identifizieren. Es ist nur Platz für Geschichten mit aufklärerischer Funktion, man soll was lernen über Rassismus. Darüber hinaus besteht kein Interesse.
Du hast es eben schon angesprochen: In den USA gibt es Umfragen wie dieDiversity Baseline Survey, in denen Mitarbeiter*innen von Verlagen und Redaktionen unter anderem ihre Race angeben können. Ist eine vergleichbare Umfrage auch für Deutschland wünschenswert, um zahlenbasiert weiterarbeiten zu können?
Ja, dann hätte man eine Bestandsaufnahme. Ähnlich wie bei #frauenzählen: Für mich waren diese Grafiken überraschend, fast kontra-intuitiv, weil ich gedacht hätte, dass Frauen sichtbarer sind in der Literaturwelt. Genau deswegen brauchen wir Zahlen. Sonst ist das am Ende nur ein Trend und geht nicht weiter. Die Frage der Repräsentation ist keine theoretische „Luxusfrage“, sondern ein Stück des Puzzles, wie wir friedlich und respektvoll in einer vielfältigen Gesellschaft zusammenleben wollen. Ich sehe das als ein Kontinuum – von der Abwesenheit sogenannter Minderheiten in der Literatur und generell in Medien zur Gewalt von Polizei und der Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Das bewirkt etwas. Durch ZDF-Krimis bekommt man starke Empathie für Polizist*innen und deren Probleme.
Du hast im Vorfeld dieses Interviews gesagt, du möchtest dich zu dem Streit um die Übersetzung von Amanda Gormans Gedichtband The Hill We Climb äußern. Wie ist deine Haltung dazu?
Ich fand diese reflexartigen Reaktionen unglaublich. Alle Schwarzen Autor*innen aus Amerika, die in Europa übersetzt werden, werden von weißen Übersetzer*innen übersetzt. Es ging darum, sich einmal etwas anderes zu überlegen, weil die Autorin Aktivistin ist und in einer bestimmten Tradition schreibt. Seit drei Jahren redet man sich den Mund fusselig über Diversität. Das hat Janice Deul in ihrem Text [der Auslöser der Diskussion] über die Gorman-Übersetzung thematisiert – aber was daraus gemacht wurde, war eine emotionale, irrationale Empörung von wegen, „als weiße Person darf man gar nichts mehr“ und „dann darf man auch keine griechischen Klassiker übersetzen“.
Sharon Dodua Otoo schrieb über die Kontroverse um die niederländische und katalanische Übersetzung: „Bemerkenswert erscheint es mir an dieser Stelle, dass die Gefühle und Ansichten von Obiols und Rijneveld so viel Platz bekommen haben – dass ich allerdings auf Anhieb nichts über die Reaktionen Schwarzer Übersetzer*innen in Spanien oder den Niederlanden gefunden habe.“
Der niederländische Artikel war ein Kommentar über die Entscheidung, dass Marieke Lucas Rijneveld The Hill We Climb übersetzen sollte. Rijneveld hat sich dann von sich aus zurückgezogen, es gab kein Verbot durch eine Institution oder so. In Holland hat man viel Geld hingelegt, da war klar, dass man sich eine*n Superstar als Übersetzer*in ins Boot holt, und Rijneveld war durch den Gewinn des International Booker Prizes in den USA bereits bekannt. Worum es bei Amanda Gorman geht, wofür sie steht, hat niemanden interessiert oder niemand erkannt – weil Verlage das in der Regel nicht können, weil Verlage diese Sensibilität, die Expertise meistens nicht im Haus haben. Da musste erst eine Person von außen kommen, eine Schwarze Aktivistin, die fragte, ob erneut alles nach Schema F gemacht oder ob nicht die Chance genutzt werden sollte, um ein Zeichen zu setzen. Daran sieht man, wie fake die Diskussionen um Diversität sind.
Auf Deutsch wurde der Gedichtband am Ende von Uda Strätling, Hadija Haruna-Oelker und Kübra Gümüşay übersetzt, einer weißen Übersetzerin, einer Schwarzen Journalistin und einer bekannten Autorin mit türkischem Background. Was sagst du zu dieser Wahl?
Ich dachte zuerst, das ist interessant, warum nicht ein Experiment wagen? Aber ich frage mich auch, wie das zustande kam. Warum braucht man so ein Team? Konnte man bei Hoffmann und Campe keine Schwarze Übersetzerin finden? Die Branche funktioniert über persönliche Kontakte. Sobald wir konkrete Zahlen und Daten haben und feststellen, dass es ein Problem mit Repräsentation gibt, müssten wir dies Funktionsweise der Branche durchbrechen. Ich denke vielleicht ein bisschen radikal, aber so wäre man gezwungen, neue Wege für eine Zusammenarbeit zu finden, damit auch andere Leute mal zum Zug kommen.
Die Nominierungen für den Preis der Leipziger Buchmesse haben für einigen Unmut gesorgt, und auch bei anderen Preisen wird immer häufiger die Zusammensetzung der Jury kritisiert. Esgab einen offenen Brief mehrerer Autor*innen, Journalist*innen und Menschen aus dem universitären Bereich, der nicht nur die Beachtung von Schwarzen und Autor*innen of Color fordert, sondern auch die Strukturen des Literaturbetriebs kritisiert. Was waren dein erster Gedanke, als du von dem Brief erfahren hast?
Grundsätzlich finde ich es immer gut, wenn dieses Thema angesprochen wird. Ich hatte aber gemischte Gefühle dabei. Meine erste Reaktion zur Shortlist war auch Überraschung darüber, dass Adas Raum nicht nominiert wurde, weil ich das für eines der wichtigsten Bücher des Frühjahrs halte – auch ästhetisch! Wir wissen natürlich nicht, wie die Jury arbeitet. Ich habe übrigens gehört, dass in der Sitzung debattiert wurde über die rein weiße Shortlist, aber dass man diese Bücher am Ende halt am besten fand und die Liste durchaus als divers ansah, weil alte Schriftstellerinnen nominiert waren. Bei dem offenen Brief war meiner Meinung nach schade, dass die Leute, die unterschrieben haben, hauptsächlich amerikanische und britische Universitätsmitarbeiter*innen waren. Daher meine Skepsis. Man weiß, was das für Kritik aufruft – dass es sich um Identitätspolitik handelt, die aus der angelsächsischen Welt importiert wurde. Und die Reaktionen, die ich wahrgenommen habe, gingen auch alle in diese Richtung. Insgesamt freue ich mich über jeden Aufschrei, weil wir uns dringend in der Branche damit auseinandersetzen müssen, aber ich habe das Gefühl, das ist komplett ins Nichts gelaufen.
Sollte man denn auf den natürlichen Wandel, auf nachwachsende Generationen hoffen, oder bist du für proaktive Maßnahmen?
Ich bin generell für Quoten und proaktive Maßnahmen, sonst warten wir noch drei Generationen, und dafür habe ich keine Geduld. Wir brauchen in den Verlagen dringend Leute, die sich mit diesem Thema auskennen, damit das nicht nur ein punktueller Hype ist, sondern auf der Agenda bleibt. Ich traue den Verlagen zu, dass sie etwas erreichen, wenn sie es wirklich ernst meinen. Da, wo man feststellt, dass man ein Wissen nicht hat, muss man sich dieses Wissen reinholen, zum Beispiel durch Diversity Manager. Für eine Branche, die davon lebt, sich in andere hineinzuversetzen und neue Welten zu erträumen, sind wir alle unglaublich fantasielos. Auch inhaltlich sehe ich in Deutschland viel Luft nach oben: Wenn man durch die Vorschauen zur Unterhaltungsliteratur blättert, geht es bei den Krimis immer nach Skandinavien, die Frauenliteratur ist durch und durch weiß, und auch in der Fantasy hat man es als nicht-weiße*r Autor*in unglaublich schwer. Es wird immer erwartet, dass du nur über Rassismus schreibst. Ich muss leider wieder Amerika als Beispiel nehmen. Dort gibt es die literarische Gattung Afrofuturism, die Science-Fiction, alternative Welten und Vorstellungen von Afrika verbindet, mit Schwarzen als Protagonist*innen. Das hat dafür gesorgt, dass viele Schwarze Leute das Schreiben als Möglichkeit für sich sehen. Es ist in den USA ein anerkanntes literarisches Genre, das in Mainstream-Verlagen publiziert wird.
Die Forderung, gezielt (mehr) nicht-weiße Autor*innen zu nominieren, könnte aber darüber hinwegtäuschen, wie homogen die Buchbranche ist. DieNew York Times etwa stellt in einer groß angelegten Recherche aus dem vergangenen Jahr fest: „Literary prizes may also make publishing appear more diverse than it actually is. Over the past decade, more than half of the 10 most recent books that were awarded the National Book Award for fiction were written by people of color […] Look at the books that appeared on The New York Times’s best-seller list for fiction, though, and a different picture emerges: Only 22 of the 220 books on the list this year were written by people of color.” Hältst du eine Quote für sinnvoll, weil sich dadurch rückwärts auch hinter den Kulissen etwas verändern kann, oder verschleiert das eher die Problematik?
Wahrscheinlich beides. Das ist das Problem: Es ist paradox. Durch Maßnahmen erreicht man was, aber man muss immer wieder messen um kontrollieren, was langfristig die Effekte sind. Das ist eine fortlaufende Arbeit. Das Problem ist wahrscheinlich, inwiefern Preise generell repräsentativ sind für den Markt und inwiefern sie den Markt auch steuern.
Es gab in den vergangenen Monaten zwei Verlagsgründungen, die für unser Thema interessant sind: Stolze Augen ist ein Verlag von BPoC für BPoC, der Akono Verlag konzentriert sich auf zeitgenössische afrikanische Literatur. Reicht das aus, um nachhaltig nicht-weiße Autor*innen zu publizieren?
Das ist auf jeden Fall gut. Den Vorteil haben wir in Deutschland dank der Preisbindung: Wir haben sehr viele kleine Verlage und unabhängige Buchhandlungen und können viel mehr Vielfalt am Leben halten. Eigentlich sollte man meinen, wir könnten im Vergleich zu Amerika oder England, wo es das nicht gibt, super mutig sein. Generell habe ich keine Angst vor Identitätspolitik, auch nicht im Kulturleben. Ich freue mich über jede mutige Gründung. Aber nachhaltig ist das nicht, denn den Markt in seiner Gesamtheit bestimmen immer mehr die Konzernverlage.
Der Akono Verlag wurde von einer weißen Person gegründet. Findest du es gut, wenn Weiße ihre Privilegien einsetzen, oder siehst du es als Problem, wenn ein auf afrikanische Stimmen ausgerichteter Verlag von einer Weißen geleitet wird?
Ich fürchte, ich finde das problematisch, auch wenn es schwierig ist, das zu begründen, weil ich dann sofort den Vorwurf des „umgekehrten Rassismus“ höre. Ich will nicht behaupten, dass Weiße zwangsweise keine Expertise haben, aber ich frage mich: Wo sind die Schwarzen Leute, die die Autorität haben, andere Schwarze zu verlegen? Aber klar, die Struktur ist, wie sie ist, die Macht liegt noch immer fast ausschließlich bei Weißen, und im Moment kann man nicht mehr verlangen, als dass sie ihre privilegierte Position nutzen und anderen Sichtbarkeit verschaffen.
In den USA wurden nach den Debatten und dem Black Lives Matter-Sommer gezielt Schwarze Lektor*innen und Verleger*innen eingestellt beziehungsweise befördert und neue Imprints gegründet, um nachhaltig nicht-weiße Stimmen zu fördern, während sich hier in Deutschland bisher so gut wie nichts getan hat. Was wünschst du dir für die Zukunft?
Um das Thema ernsthaft anzugehen, müssen, wie gesagt, als erstes Daten erhoben werden. Mit Rassismus sollten sich nicht nur die paar Schwarzen Menschen der Branche beschäftigten, sondern alle, das geht nämlich Weiße ebenso an. In Amerika wurden im vergangenen Jahr in oberen Etagen auch nicht-weißen Menschen wichtige Positionen zugetraut. Das kann man sich auch in Deutschland wünschen. Vielleicht passiert es auch schneller, als man denkt, wer weiß. Ich bin insgesamt skeptisch, was dieses Thema angeht, aber ich bin gleichzeitig überzeugt, dass es gar nicht so viel braucht, um etwas zu bewegen. Und eigentlich traue ich es der Branche zu, dass ich das noch erlebe, bevor ich in Rente gehe. Das Problem ist, dass es zwar nicht den Willen gibt, nichts zu verändern, aber auch nicht den Willen, etwas zu verändern. Und die Abwesenheit von Willen reicht schon aus, damit alles so bleibt, wie es ist.
Ein Interview von Katharina Walser mit der Modetheoretikerin und Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken
Was hat Literaturwissenschaft mit Mode zu tun? Liest man die Texte der Romanistin Barbara Vinken, findet man einige Antworten auf diese Frage. In ihrem wohl bekanntesten Buch zur Mode, Angezogen, zeigt sie auf, wie wenig zufällig der Umgang mit Kleidern ist und wie stark er mit kulturellem und geschichtlichem Wandel verwoben ist. Aber auch Vinkens im engsten Sinne akademischen Werke lesen die Gesellschaft oder in diesem Fall die literarischen Figuren über ihre Kleider und zeigen so die Verwandtschaft von Text und Textil.
Mithu M.Sanyal ist bisher als Autorin von Sachbüchern* und als öffentliche Stimme im Diskus um race und Feminismus in Erscheinung getreten. Nun hat sie ihren ersten Roman veröffentlicht. Mithu und ich kennen uns schon länger. Einige Jahre lang haben wir zusammen im Kölner Literaturatelier Texte besprochen. Anlässlich ihres Romans „Identitti“ habe ich mit Mithu ein Gespräch über race und sex, Schreiben, soziale Netzwerke und den Raum von Frauen innerhalb und außerhalb von Romanen geführt, pandemiebedingt per Zoom. „Identitti“ erscheint am 15.2.21 bei Hanser.Weiterlesen
Muna AnNisa Aikins ist Sozialwissenschaftlerin, Trainerin für Empowerment und Antidiskriminierung und leitet als Mitglied von Each One Teach One (EOTO) e.V. den Afrozensus. In ihrem literarischen Debüt „Die Haut meiner Seele“ erzählt sie in Gedichten und Erzählungen von den Etappen ihres Lebens: von der Flucht aus einem Krieg, dem Leben in Deutschland, den Narben ihres Aufwachsens in Strukturen, die sie marginalisieren, und von ihrem Weg, diese Wunden zu heilen. Mit Charlotte Milsch spricht sie über literarisches Schaffen, Befreiungsmomente und Verantwortung.
„Die Haut meiner Seele“ ist eine Komposition aus Gedichten und Erzählungen. Und du hast darin einen ganz eigenen Ton gefunden, um dich auszudrücken. Wie kam es zu dieser Sprache?
Muna AnNisa Aikins: Sprachen, die mich geprägt haben, empfinde ich als Möglichkeiten, als Reichtum, was sie ja in unserer Gesellschaft oft nicht sind, zumindest manche Sprachen. Ich kann Realität in verschiedenen Formen ausdrücken, was mir hilft, ein Puzzlestück zu sehen, das ich vorher nicht gesehen habe. Und das war auch der künstlerische Teil, der mir am meisten Spaß gemacht hat: Worte finden als kreativer Prozess. Es hat etwas Symbolisches: Ich drücke etwas mit einem Wort aus und drücke so auch mich selbst aus. Und fühle mich dadurch. Deswegen ist Schreiben für mich ein Heilungsprozess. Sprache als Heimat sozusagen. Sprache ist auf der einen Seite ein Instrument, um mich zu befreien, aber es ist auch ein Instrument, in dem ganz viel Gewalt steckt. Sprache ist kein neutrales Werkzeug.
„Die Haut meiner Seele“ ist autobiografisch, du schreibst darin u.a. von der Gewalt, die du erlebt hast, von Flucht, vom Zurechtfinden in Deutschland, von Erlebnissen in der Familie. Hat es Überwindung gekostet, das zu veröffentlichen?
Muna AnNisa Aikins: Ich habe das Gefühl es ist wichtig, notwendig, dass diese Geschichten erzählt werden, gerade für die Menschen, mit denen ich durch die geografische Herkunftsverbindung verbunden bin, und für deren Herausforderungen innerhalb dieser Gesellschaft und deren Kämpfe. Ich musste für mich eine Ebene finden, wo ich hin konnte mit meinem persönlichen Schmerz und meiner Zerrissenheit. Ich glaube, wir haben eine gemeinsame Verantwortung und deswegen stelle ich es einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung.
Ich hab auch zwischendurch einige Gewalterfahrungen weggelassen, weil ich dachte, das sei zu viel. Ich will niemanden desillusionieren. Aber diese Geschichten sind entscheidend, um das Bild komplett zu machen, um die gesellschaftlichen Gewaltmechanismen wie Patriarchat oder Sexismus zu verstehen. Ich habe mich aber auch gefragt: Wie viel kann ich anderen zumuten? Auf der anderen Seite, ist es ja so, dass bestimmte Gewalterfahrungen in marginalisierten Positionen härter zusammenkommen.
In deinem Buch heißt es: „Ich habe lange versucht, die Seiten in diesem Buch zu reparieren“. Wie sahen diese Versuche aus und was hat sich dann verändert?
Muna AnNisa Aikins: Vieles von dieser Gewalt bestimmt mich ja so, dass ich damit trotzdem werde. Ich finde einen Weg damit zu sein. Irgendwie hat das, was ich an Gepäck mit Mitte 20 hatte, keine Zukunftsvision mehr für mein Werden ergeben. Mein Sein war so schwer und zerrissen, dass ich mich gefragt habe: Wie kann ich mit all dem sein? Die Konsequenz war, dass manches davon aufhören musste, weil ich es nicht mehr mittragen konnte, auch innerhalb meiner Familie.
Und leider müssen Menschen, die in diesen Gewaltmechanismen feststecken, und so erschöpft davon sind, sich diese Befreiungsmomente selbst schaffen. Die werden nicht angeboten oder ermöglicht. Da sieht sich niemand in der Verantwortung. Und wenn, dann im Kampf gegen eine andere Seite. Verantwortung wird oft reduziert auf Schuld und schlechtes Gewissen, aber ich habe gelernt, dass sie einen im Status Quo halten: Du fühlst dich schlecht, weil die Umstände schlecht sind, und das macht dich unfähig zu reagieren.
Geht es dabei auch um generationenübergreifende Traumata? Und was ist deiner Meinung nach besonders wichtig, wenn es darum geht, sie zu durchbrechen?
Muna AnNisa Aikins: Verlust von Heimat bedeutet, dass die folgenden Generationen etwas mitverloren haben, wovon sie gar nicht wissen, was es ist. Es prägt ihr Sein. Es ging mir aber auch um Gewaltmomente, die zwar weit zurückliegen, wie die FGM-Geschichte (FGM = Female Genital Mutilation). Denn sie bestimmten mein ganzes Leben. Es ist wichtig, dass ich nicht nur eine Co-Existenz damit finde, sondern eine eigene Existenz, die davon gesunden kann. Ich hab sehr lange mit mir gekämpft, mich dafür zu entscheiden, eine Rekonstruktions-OP zu machen, weil ich das Gefühl hatte, ich verrate den Struggle, den die Frauen vor mir hatten. Aber wenn ich mich dagegen entscheide, würde ich mir Situationen zumuten, die noch mehr Schmerz und Gewalt bedeuten, z.B. wenn ich Kinder kriegen möchte. Ich wollte, dass andere Frauen wissen, dass es diese Option gibt, denn ich wusste es lange Zeit nicht.
Wir haben uns über Instagram kennengelernt und dort erlebe ich, dass du viel zum Thema Heilen teilst. Du beschreibst den Weg der Heilung in „Die Haut meiner Seele“ auch als Kampf um einen Platz in dieser Welt. Wie sah dieser Kampf für dich aus?
Muna AnNisa Aikins: Das ist eng verwoben mit dem Veröffentlichen. Das, was ich bin, hat seinen Platz. Mein Buch ist wie ein gesamtgesellschaftlicher Hinweis, sich mit dieser Gewaltsituation auseinanderzusetzen. Für mich bedeutet es ja, ein Stück Sicherheit aufzugeben. Es macht mich angreifbar, verwundbar. Trotzdem habe ich eine Stabilität und Balance, von der ich denke, dass es auch den Ursprung jedes Wesens ausmacht, die ich mir wieder dadurch zurück erkämpft habe: Mich dafür nicht zu schämen, den Schmerz nicht zu relativieren. Das begleitet mich wie eine Melodie, auch im Kontext von Gerechtigkeits- und Menschenrechtskämpfen in meiner Arbeit. Ich glaube wir haben alle eine Form des Schaffens in uns, die uns hilft zu heilen. Und das ist meine. Heilen ist ein ständiger Prozess.
Du hast über die Bedeutung deines Schreibens für dich gesprochen. Was ist mit den Leser*innen? Hast du einen Wunsch, was dein Schaffen bei Ihnen bewirken könnte?
Muna AnNisa Aikins: Ich wünsche mir mehr zwischenmenschliche Verbindungen und über diese Bindungen gemeinsame Verantwortungsübernahme, die aktiv wahrgenommen wird, in der wir unsere Welten aktiv gestalten, positiv beeinflussen und verändern. Das verlangt eben auch, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.
Sharon Dodua Otoo stellt in „Das unveröffentlichte Interview“ die Frage: Wie können Schwarze feministische Schriftsteller*innen schreiben und sich in den Strukturen bewegen, die sie marginalisieren und ausschließen? Hast du für dich Antworten auf diese Frage gefunden?
Muna AnNisa Aikins: Ich bin nicht wirtschaftlich vom literarischen Schreiben abhängig. Insofern habe ich viele andere Optionen, die diesen gesellschaftlichen Druck in einem literarischen Kontext relativieren. Aber ich bin von meinen Lebensrealitäten her schon emotional und ganzheitlich darauf angewiesen, dass bestimmte Geschichten erzählt werden, dass es Repräsentation gibt. Und das war beim Schreiben für mich ein Orientierungspunkt: Dass ich möchte, dass bestimmte Geschichten, dass meine Stimme als Angebot platziert wird.
Ich wollte mein Buch aber auch nicht in einem großen Verlag unterbringen, in einer Konstellation, wo ich dem Machtgefälle nicht gewachsen bin. Mir war klar: Das muss in einem emotional für mich erträglichen Setting passieren. Agentinnen haben mir zurückgemeldet, sie wüssten nicht, wie das zu platzieren sei, es sei zu spezifisch. Und das war ein Argument, das mich wütend gemacht hat, wenn Menschen, die zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehören, sagen, das sei nicht relevant für die Allgemeinheit. Das hat mich bestärkt, mein Ding zu machen. Es war ein Findungsprozess, wo ich viel mit mir verhandelt habe: Was kann ich annehmen, hinnehmen? So kam ich zu Unrast, wo auch viele andere BIPoC und Feminist*innen veröffentlicht haben. Und dort wurde ich mit offenen Armen empfangen.
Es geht in dem Artikel von Sharon ja auch um Engagierte Literatur: Da werden oft die Inhalte thematisiert und gar nicht mehr das Schreiben als Kunst. Es geht gar nicht mehr darum, wie die Personen schreiben, sondern nur um die Themen. Das Schreiben an sich sollte auch thematisiert werden. Ich war beim Schreiben auch sehr vorsichtig. Ich muss meine Geschichten navigieren in den Verhältnissen: Wenn ich bestimmte Geschichten erzähle, kann ich dann instrumentalisiert werden für rassistische Gewalt oder Zuschreibungen? So etwas muss ich immer mitdenken.
Du hast von anderen BIPoC Autor*innen gesprochen. Gibt es denn für dich Schriftsteller*innen, die dieses Buch oder dein Schreiben begleitet haben?
Muna AnNisa Aikins: Beim Schreiben habe ich viel von Nayyirah Waheed gelesen. Ich finde es beeindruckend, wie kurz und prägnant sie Gefühle erklärt und auf den Punkt bringt. Das war ein Rettungsanker. Genauso Audre Lorde. Einer der Sätze von ihr, die mich sehr geprägt haben, war: „Your silence will not protect you“. Und „Mindplatter“ von Najwa Zebian hat mich begleitet. Bei ihr geht es auch um Heilen und Zurechtkommen in dieser Welt.
Du schreibst: „Ich bin nicht geboren, um fremd zu bleiben, sondern um zuhause zu sein.“ Hast du dieses Gefühl von zuhause, von Zugehörigkeit, mittlerweile gefunden?
Muna AnNisa Aikins: Ich sage vorsichtig: „Ja“. Das Zuhause bin ich selbst, in meinem ganzen Sein. Ich habe gelernt, dass ich schon alles dabei habe, was ich brauche, und was ich bin. Dass ich mir ein Zuhause in meinem Körper, in meinem Sein machen möchte. Ich möchte meine Erinnerungen und meinen Körper heilen. Auch nach der Geburt meiner Kinder bin ich körperlich noch mehr zu mir selber gerückt, noch mehr in mein Zuhause eingezogen. Es ist das Gefühl von im Hier und Jetzt sein, lebendig sein und fühlen.
Mahmoud Hosseini Zad hat Dürrenmatt, Brecht und zuletzt die Tagebücher von David Rubinowicz ins Persische übersetzt, wurde 2013 mit der Goethe-Medaille geehrt. Während deutsche Literatur in Iran viele Leser findet, beklagt er Desinteresse und Einseitigkeit bei deutschen Verlagen. Gerrit Wustmann hat mit ihm gesprochen. Weiterlesen
Und plötzlich war der kleine Verlag sehr präsent auf Instagram – spätestens mit dem Roman „Ich, Unica“ von Kirstine Reffstrup, der von zahlreichen Bookstagram-Accounts empfohlen wurde. Erschienen ist er im Nord Verlag, gegründet von der 29-jährigen Camilla Zuleger. Das Besondere am Nord Verlag: Er sitzt in Kopenhagen, blickt aber auf den deutschsprachigen Buchmarkt – Zuleger veröffentlicht skandinavische Literatur in deutscher Übersetzung. Wie und wieso sie das macht, erzählt sie im Interview mit 54books.Weiterlesen