Schlagwort: Film

Vorlagen der Angst – Wie von Krebs erzählt wird

von Simon Sahner

Mit dem Gedanken, es gebe ein Reich der Kranken und eines der Gesunden und von Geburt an besäßen wir die Staatsbürgerschaft für beide, eröffnet Susan Sontag ihren berühmten Essay über Krebs und Krankheit als Metapher. Sie wolle dennoch nicht beschreiben, fährt sie fort, wie es ist, in das Reich der Kranken auszuwandern und dort zu leben, sondern stattdessen die Fantasien schildern, die es umranken. Ihrer eigenen Überzeugung zum Trotz, dass Krankheit eben – entgegen dem Titel ihres Essays – keine Metapher ist, beginnt sie also ihre Analyse des Reichs der Kranken mit einer solchen. Man ist verleitet bei dem Gedanken an ein Leben, das sich in zwei Reichen abspielt, an die einleitenden Worte von Charles Dickens‘ Eine Geschichte aus zwei Städten zu denken: „Es war die beste aller Zeiten, es war die schlimmste aller Zeiten.“ Weiterlesen

Ein bitterer Geschmack – Erzählungen von Queerness

von Eva Muszar

CN: Suizid, (sexualisierte) Gewalt

 

‚Du darfst mich nicht so liebhaben, Manuela, das ist nicht gut. Das muß man bekämpfen, das muß man überwinden, abtöten.‘ […]

 ‚Liebes, geliebtes Fräulein von Bernburg! Nicht – […] Sie wissen doch, Sie wissen es ja – ich kann das nicht überleben! Das ist ja der Tod.‘“

 

Kurz nach diesem Wortwechsel stürzt sich Manuela, die Hauptfigur von Christa Winsloes Roman Mädchen in Uniform (1933), in den Tod. Ihr Suizid ist kein Einzelfall. Das Phänomen hat einen zynischen Namen bekommen: „Bury your gays“ (in etwa: „Begrabe deine schwulen/lesbischen Figuren“). Und es zieht sich hartnäckig durch die Literatur- und Filmgeschichte: In 22 der 28 amerikanischen Filme, die zwischen 1962 und 1978 offen von Homosexualität handeln, sterben lesbische oder schwule Figuren gewaltsam oder durch Suizid. Von 1976 bis 2020 sterben mindestens 214 Lesben und bisexuelle Frauen in TV-Serien.[1] Grausam ergeht es meist auch den wenigen Figuren, die trans sind. Eine Auswertung von US-Serien zwischen 2002 und 2012 ergibt: In 40 Prozent der Fälle sind sie Opfer und in 21 Prozent Mörder:innen oder Antagonist:innen. Weiterlesen

Stummfilmästhetik auf TikTok – Attraktion und Narration

von Christian Albrecht

 

#Bippidyboppidyboo war Anlass für über 84 Millionen Aufrufe im sozialen Video-Netzwerk TikTok. Folgt man dem Hashtag, führt er zu Videos, die stets ähnlich gestrickt sind: Ungeschminkte, verschlafene und/oder frisch geduschte Menschen stehen in Bademantel, Pyjama oder Jogginghose vor dem Smartphone und schwingen zum Lied ‚Bibbidi-Bobbidi-Boo’ aus Disneys Zeichentrickfilm Cinderella einen imaginären Zauberstab. Ein Sprung in die Luft – und mit der Landung vollzieht sich die wundersame Verwandlung vom unordentlichen Aschenputtel-Ich in das ausgehfertige, selbstbewusste Alter Ego; statt des Gesangs der guten Fee nun Audi von Smokepurpp oder Lalala  von bbno$. Weiterlesen

Warum Superheld:innen Spaß machen – Absurdität, Ermächtigungsfantasie, Mitreden

 von Jonas Lübkert

 

Superheld:innen sind allgegenwärtig. Zum ersten Mal seit 2008 erschien 2020 kein Film der Marvel Studios. Das Superheld:innenthema blieb allerdings präsent; dafür sorgten Birds of Prey und Wonder Woman 2 aus dem DC Extended Universe, Netflixserien wie Umbrella Academy, die Amazonserien The Boys und Spiele wie Marvel´s Spider-Man: Miles Morales die von der Games Community mittlerweile nicht mehr als Wegwerf-Merchandiseprodukte wahrgenommen werden, sondern sich zwischen den Klassikern der Branche einordnen. Selbst wenn man alle Comics aus demselben Genre ignoriert, was in Deutschland auch häufig geschieht, fliegen einem Personen mit Superkräften teils wortwörtlich in allen anderen Bereichen um die Ohren. Weiterlesen

Ein moralisches Komplettversagen – Über die Rezeption von Leni Riefenstahl

von Christina Dongowski

 

In den deutschsprachigen Feuilletons wird alle paar Jahre neu verhandelt, wie inakzeptabel es ist, sich mehr oder weniger affirmativ zu Nazi-Ästhetik, ihren Vertreter:innen und ihrem xten Aufguss zu verhalten. 2020 waren es die Juden-Witzchen von Lisa Eckart, ein im Retro-Ufa-Look auftretendes österreichisches Humor-Sternchen, die zum Gipfel ironischer Meta-Diskurse und ästhetischer Provokation hochgeschrieben wurden. Für diese Debatte hätte die Veröffentlichung der neuen Leni Riefenstahl-Biographie der Dokumentarfilmerin und Autorin Nina Gladitz im Herbst 2020 ein wichtiger Beitrag sein können. Gladitz macht die Funktion etlicher, scheinbar rein ästhetischer Argumente für die Verwischung und Normalisierung von Täterschaft im Kulturbetrieb der Nazi-Zeit und danach explizit zu einem der zentralen Themen des Buches. Diskutiert wurde die Biographie in den Feuilletons so aber nicht. Die Reaktion auf das Buch war trotzdem in gewissem Sinne einschlägig, hat es doch zu erstaunlichen (sozial)medialen Erkenntnisschüben geführt: Die Lieblingsregisseurin Adolf Hitlers und Regisseurin der wichtigsten und erfolgreichsten NSDAP-Propagandafilme war eine Nazi-Täterin. No shit, Sherlock! könnte man meinen. Bloß gehört die schlichte Erkenntnis, dass Leute, die freiwillig Nazi-Kunst machen, auch Nazis sind, eben noch immer nicht zu den Basics deutscher Debatten. Genauso wenig verbreitet ist das Wissen, dass man Menschen in Lager sperren und sie dort ermorden (lassen) und gleichzeitig Künstler:innen oder unglaublich belesen und gebildet sein kann. Mit dem Kunst-Bonus kommt der Persilschein. Immer noch.

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‚Lolita‘ wiedergelesen – Das Empathie-Bootcamp

von Susanne Romanowski

 

[Content Note: Kindesmissbrauch]

Wer über Vladimir Nabokovs Roman Lolita (1955) schreibt, kann sich eine Diskussion über den ethischen Status des Dargestellten sparen. Bei kaum einem anderen Werk ist das Thema so unumstritten abscheulich. In dieser Einschätzung wird man etwa auch von Google bestätigt: Wenn ich „nabokov lolita“ in die Suchzeile eintippe, erscheint als erstes die Anzeige: „WARNUNG! Kindesmissbrauch ist illegal.“ Weiterlesen