Schlagwort: Diskriminierung

„Ich darf das!“ – Warum Meinungsfreiheit kein Selbstzweck ist

von Simon Sahner

Vor einiger Zeit gab Elon Musk dem US-amerikanischen Journalisten David Faber ein Interview in den Werkshallen von Tesla. Gerade war die jährliche Aktionärsversammlung zu Ende gegangen. Im Verlauf des einstündigen Gesprächs fragte Faber den CEO von Twitter, warum er wiederholt Statements poste, die außerordentlich kontrovers seien und den Eindruck erweckten, er sei unter anderem antisemitisch eingestellt oder hänge Verschwörungserzählungen an, und die ihn so ins Zentrum einer großen gesellschaftlichen Auseinandersetzung rückten. Das würde doch vermutlich seinen Unternehmen schaden.

Musk schaute irritiert, er zögerte, begann unsicher zu sprechen und sagte dann, immer noch sichtlich überrascht von der Frage: „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Auf Nachfrage des Journalisten, der ihm versicherte, dass er absolut das Recht habe, seine Meinung zu sagen, war Musk immer noch erkennbar verwirrt, schwieg fast zehn Sekunden, setzte wieder an, schwieg dann erneut und antwortete schließlich sinngemäß, ihm sei jede Konsequenz egal, er sage, was er will, weil er es darf.

Zehn Tage später twitterte Musk eine Karikatur, in der eine große Hand eine Menge sehr kleiner Menschen niederdrückt, daneben der Schriftzug „Um zu verstehen, wer über dich herrscht, finde einfach heraus, wen du nicht kritisieren darfst.“ Laut der Karikatur stammt das Zitat von Voltaire, dem großen Philosophen der europäischen Aufklärung aus dem 18. Jahrhundert. Das ist nachgewiesenermaßen falsch, vielmehr stammt die Aussage von dem US-amerikanischen Neo-Nazi und Holocaust-Leugner Kevin Alfred Strom. Solche falschen Voltaire-Zitate sind nicht weiter ungewöhnlich. Es scheint vielmehr eine nicht unübliche Praxis zu sein, dem bekannten Philosophen Aussagen zuzuschreiben, um ihn dann als Gewährsmann für das unbedingte Recht auf freie Meinungsäußerung zu nutzen. Der berühmteste Fall ist mit Sicherheit „Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“ Wahrscheinlich liegt der Ursprung dieser Fehlzuschreibung bei der Autorin Evelyn Beatrice Hall, die Voltaire in ihrer Biografie über den Aufklärer so zitiert, um seine Haltung zur Meinungsfreiheit pointierter zu formulieren, als es der Philosoph selbst getan hatte.

Das Heiligtum der aufgeklärten Gesellschaft

In diesen beiden beispielhaften Äußerungen von Elon Musk, der sich selbst wiederholt als „free speech absolutist“ bezeichnet hat, liegt meines Erachtens eine Aussage darüber, in was für eine schwierige Situation Meinungsfreiheit als Wert geraten ist, und darüber, was diese Situation über aktuelle gesellschaftliche Konflikte aussagt. Denn was für eine Bedeutung hat der Begriff Meinungsfreiheit für unser Zusammenleben in einer Kultur und einer Gesellschaft noch, wenn seine Erwähnung schon ausreichen soll, potenziell antisemitische und verschwörungstheoretische Aussagen eines Multimilliardärs zu rechtfertigen? Sich auf Meinungs- und Gedankenfreiheit, auf Philosophen der Aufklärung, auf populäre Freiheitslieder und am Ende beinahe immer auf George Orwells 1984 zu berufen, scheint inzwischen vor allem die Indienstnahme von kulturellem Kapital zu sein. Wenn Musk das vermeintliche Voltaire-Zitat postet, postet er das kulturelle Kapital der Aufklärungsbewegung gleich mit. Und wer sich auf diese und andere Größen der Aufklärungsgeschichte beruft, kann – so der Gedanke – nicht ganz falsch liegen.

Aber der Reihe nach. Die Meinungsfreiheit ist nicht zu Unrecht das Heiligtum der demokratischen, liberalen und aufgeklärten Gesellschaft. Geboren aus der Aufklärungsbewegung des 18. Jahrhunderts und den Barrikadenkämpfen der Französischen Revolution, legt das Recht auf freie Äußerung der Meinung den Grundstein für jede Gesellschaft, die sich als demokratisch bezeichnet. Ein Staat, in dem dieses Recht nicht grundsätzlich garantiert ist, kann nicht frei und demokratisch sein. Der literaturgewordene Schlachtruf dazu stammt von Friedrich Schiller aus dem Drama „Don Karlos“, in dem der Marquis von Posa an König Philipp II. von Spanien gerichtet ausruft „Geben Sie Gedankenfreiheit!“ Aus der gleichen Zeit stammt wohl ursprünglich der Text zu dem Lied „Die Gedanken sind frei“, das derzeit als Hymne zahlreicher Verschwörungsbewegungen missbraucht wird.

Es lässt sich generell beobachten, dass Meinungsfreiheit und die dahinterstehenden Werte der Aufklärung derzeit nicht zuletzt von denjenigen mit Inbrunst hochgehalten werden, die sich dafür rechtfertigen wollen, ignorant oder rücksichtslos zu sein. Das gilt für Leugner*innen der Klimakrise ebenso wie für Boris Palmers Auftritt bei der so genannten Migrationskonferenz Anfang Mai in Frankfurt. Mit beeindruckender Penetranz wiederholte Palmer dort das N-Wort vor protestierenden Student*innen ebenso wie später erneut auf der Bühne der Konferenz, schlicht weil er das Recht dazu hat. Mit der gleichen Haltung werden wissenschaftliche Erkenntnisse geleugnet, Menschen diskriminiert und beschimpft. Der Satz „Das ist meine Meinung.“ ist zur Universalrechtfertigung geworden, jedem alles zu sagen und alles zu behaupten. Dabei entsteht der Eindruck, viele dieser Dinge würden nicht zuletzt deshalb gesagt und behauptet, um zu demonstrieren, dass man sie sagen darf. Wenn Palmer vor mehreren nicht-weißen Student*innen ohne erkennbaren Grund das N-Wort wiederholt, dann handelt es sich dabei rein um die Demonstration seines Rechts, genau das zu tun – Meinungsfreiheit wird zum Selbstzweck.

Freiheit trotz juristischer Grenzen

Das Recht soll und darf ihm juristisch auch nicht verwehrt werden. Genauso wenig darf grundsätzlich rechtlich verboten werden, faktisch falsche Ansichten zu verbreiten. Gleichzeitig gibt es aber auch in einem Staat mit Meinungsfreiheit wie Deutschland juristische Grenzen. Beleidigungen können beispielsweise Strafen nach sich ziehen, gleiches gilt für den Tatbestand der Volksverhetzung, der unter anderem die Leugnung der Shoa miteinschließt. Meinungsfreiheit ist also selbst in einem freien, demokratischen Staat, in dem keine Zensur ausgeübt wird und das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, zumindest juristisch gesehen kein Selbstzweck. Dennoch kann man festhalten, dass hierzulande erst einmal fast alles gesagt oder anderweitig geäußert werden kann. 

Wie sehr diese Tatsache aber inzwischen in Vergessenheit geraten ist oder generell in Abrede gestellt wird, offenbarte vor wenigen Tagen erst der vielleicht beliebteste deutsche Fußballtrainer Jürgen Klopp. In einem langen Gespräch im Podcast Hotel Matze äußerte er seine Sorge um Meinungsfreiheit, insbesondere für Menschen in den Medien. “Wer hat denn die Freiheit, zu sagen, was er will?”, fragte er mit Blick auf Comedians unter anderem wie Dieter Nuhr. An solchen Äußerungen lässt sich ablesen, welche Verschiebung eines zentralen Begriffs stattgefunden hat. Die Meinungsfreiheit von Dieter Nuhr, der eine Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat, und allen anderen steht außer Frage. Meinungsfreiheit geht gerade auch in Deutschland mitunter sogar sehr weit.

Das gilt zum Beispiel auch für Produktion und Verkauf von sternförmigen Aufklebern, auf denen auf gelbem Hintergrund die Aufschrift „Dieselfahrer“ abgebildet ist und die an die so genannten Judensterne erinnern. Die Staatsanwaltschaft Halle stellte eine Anzeige gegen den Verkauf dieser Aufkleber mit der Begründung ein, es handle sich um eine zulässige, frei geäußerte Meinung. Unabhängig davon, wie in den Rechtswissenschaften solche Fälle diskutiert werden, kann man also feststellen: Das Grundgesetz hält, die Meinungsfreiheit steht, eine Zensur findet nicht statt. Von einem juristischen Standpunkt aus, würden das selbst diejenigen, die ihre Meinungsfreiheit bedroht sehen, wohl kaum bestreiten. Vielmehr fühlen sie sich von einer gesellschaftlichen Stimmung angegriffen, die mit harscher Kritik und Protest reagiert, wenn das N-Wort ausgesprochen oder geschrieben wird, wenn sich erwachsene Menschen als amerikanische Ur-Einwohner*innen verkleiden oder wenn trans Menschen ihre Identität oder gleich ihre Existenz abgesprochen wird. Man dürfe ja nichts mehr sagen, man traue sich ja gar nicht mehr auszusprechen, was man denkt, man betreibe Selbstzensur – es herrscht die „Cancel Culture“ und Deutschland ist „Wokeistan“. Das erscheint nicht zuletzt deshalb absurd, weil diejenigen, die meisten Menschen, die Meinungsfreiheit in Gefahr sehen, gesamtgesellschaftlich weiterhin in der Mehrheit sind und die Machtpositionen der Gesellschaft innehaben. Dennoch sind es nicht zuletzt oft Politiker*innen in eben jenen Machtpositionen, die vor “Cancel Culture” und der so genannten “Wokeness” warnen. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder verkündete beispielsweise stolz, in Bayern dürfe man – anders als in Berlin – “sagen und singen, was man will”. Dass seine Partei im Bundestag sitzt und de facto auch ohne Regierungsbeteiligung Macht hat, spielt offenbar keine Rolle. Bei der Freiheit, alles sagen zu dürfen, ging es zwar immer schon um Macht; allerdings vor allem darum, keine Angst haben zu müssen, sich gegen die Mächtigen zur Wehr zu setzen. 

Eine einfache Forderung

Dabei kann man sich durchaus und mit Recht fragen, wo eigentlich das Problem liegt. Menschen, die Diskriminierung erleben, sagen anderen, verwendet bitte nicht dieses oder jenes Wort, macht keine Witze über uns, nehmt uns ernst, erkennt unsere Identität an, sonst verletzt ihr uns. Letztlich steckt hinter dem gesamten Diskurs ein berechtigter Anspruch auf Rücksichtnahme, auf einen Wert also, der essentiell ist für das Zusammenleben in einer Gesellschaft. Und hier kommt wieder die Aussage von Elon Musk ins Spiel „Das ist Meinungsfreiheit, ich darf sagen, was ich möchte.“ Denn, wo das Recht auf Meinungsäußerung herrscht, herrscht noch kein Zwang zur Meinungsäußerung. Genauso wie Musk mit Blick auf seine ökonomischen Interessen darauf verzichten könnte, Verschwörungserzählungen zu äußern, also sich selbst nicht zu schaden, könnten andere Menschen aus Rücksichtnahme auf andere auf das N-Wort verzichten oder darauf einer trans Frau zu sagen, sie sei in Wahrheit ein Mann. Sie könnten darauf verzichten, anderen zu schaden, indem sie Rücksicht nehmen.

Diese Form der Selbstbeherrschung, die manche als Selbstzensur empfinden, ist ein grundlegender Bestandteil unseres Zusammenlebens. Niemand sagt immer alles, was er denkt und meint, darauf haben wir uns als Gesellschaft geeinigt, auch wenn wir es nicht durch Gesetze geregelt haben. Die meisten von uns würden ihrem Unmut über langes Warten nicht lautstark Ausdruck verleihen. Auch wenn wir der Meinung sind, dass die Person an der Kasse gerade richtig lahmarschig arbeitet. Die meisten von uns sagen auch fremden Menschen im Aufzug nicht, dass wir ihr Outfit ausgesprochen geschmacklos finden und dass der Pickel auf ihrer Nase richtig eklig aussieht, auch wenn das unsere Meinung ist. Meinungen sind teilweise unverschämt, beleidigend und sogar falsch und es gehört zu den Grundregeln zwischenmenschlicher Kommunikation und einem funktionierenden gesellschaftlichen Zusammenleben nicht alles zu sagen, was man denkt und meint, auch wenn man es darf. Letztlich geht es dabei um Anstand und Respekt, Werte, die gerade in konservativeren Kreisen immer wieder gefordert werden. Es hätte aber auch mit Anstand und Respekt zu tun, auf das N-Wort zu verzichten, sich nicht als amerikanischen Ureinwohner zu verkleiden oder anzuerkennen, dass auch Menschen, die nicht der eigenen Vorstellung von Männlichkeit entsprechen, männlich sein können. Denn letztlich geht es dabei um nichts anderes als darum, andere Menschen nicht zu verletzen.

Die absolute Freiheit des einen ist die Einschränkung des anderen

Deswegen erscheint der Kampf, den derzeit viele um Meinungsfreiheit führen, in sein Gegenteil verkehrt worden zu sein. Der zentrale Wert der Aufklärung wird zum Instrument, um die Freiheit diskriminierter Gruppen zu beschneiden. Die Freiheit, das N-Wort zu sagen, geht am Ende zu Lasten der Freiheit der Menschen, die dadurch verletzt werden. Sich mit Elementen anderer Kulturen zu verkleiden, ohne deren Bedeutung zu respektieren oder gar zu kennen, greift in die Freiheit der Menschen ein, ihre Identität und Kultur in ihrem Sinne zu repräsentieren. Man kann also tatsächlich nicht ohne Konsequenzen alles sagen oder tun, was man möchte. Das kann auch zu Unsicherheit führen und zur Angst davor, das Falsche zu sagen. Wer das aber als Einschränkungen der Meinungsfreiheit deklariert, verkennt die Komplexität von Freiheiten. Es ist eine der größten Herausforderungen, die es für eine Gesellschaft geben kann, das Zusammenleben so zu gestalten, dass möglichst vielen Menschen, möglichst viele Freiheiten zukommen. Deswegen ist es so elementar, dass Freiheiten mit Verantwortung, Respekt und Rücksicht verbunden werden. Es kann deswegen hilfreich sein, sich zu fragen, warum man etwas sagen oder tun möchte, und was passieren würde, wenn man darauf verzichtet. Denn Freiheiten sind meistens eine Sache der Aushandlung, die auf der Überlegung basiert, welche Konsequenzen die freiwillige Einschränkung der eigenen Freiheit hätte. Man kann sich fragen, ob der Verzicht auf ein Wort, für das es einen Ersatz gibt, wirklich schwerer wiegt, als die Freiheit anderer. Oder ob die eigene Auswahl eines Kostüms relevanter ist, als die Repräsentation einer Kultur. Ebenso kann man, bevor eine Aussage trifft, für einen Moment innehalten und die eigene Meinung in Frage stellen. Es sollte nicht zu viel verlangt sein, auch lang gehegte Ansichten oder vermeintliches Wissen zu hinterfragen. Wenn die Antwort auf diese Frage dann lediglich darin besteht, zu sagen “Ich darf das“, hat man es sich wahrscheinlich zu leicht gemacht. 

Es kann also gute Gründe geben, nicht alles zu sagen, was man sagen will. Dazu gehören rein egoistische Gründe, wie, dass man seine Anleger*innen und Werbekund*innen nicht verprellen will, ebenso wie, dass man anderen Menschen durch eigene Aussagen kein Leid zufügen will. Selbst die elementarsten Freiheiten, die juristisch garantiert sind, stehen im Kontext eines gesellschaftlichen Zusammenlebens, das nur mit Rücksichtnahme funktionieren kann. Die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung vorzuschieben, um einfach alles zu sagen, was man sagen möchte, egal, welchen Schaden man damit anrichtet, zeugt hingegen von Respektlosigkeit gegenüber den Werten von Freiheit und Demokratie. Dadurch verkommt eine der zentralsten Voraussetzungen für eine freie Gesellschaft zu einer leeren Hülle, unter der sich jeder verstecken kann, der sich angegriffen fühlt, weil ihm Kritik oder Widerspruch entgegenschlägt, oder dem gesagt wird, seine Äußerungen seien diskriminierend. Das ist nicht nur den Menschen gegenüber respektlos, die diskriminiert werden oder denen ihre Identität abgesprochen wird, sondern auch denen gegenüber, die in repressiven und diktatorischen Staaten wie dem Iran oder China darum kämpfen, nicht für ihre freie Meinungsäußerung verfolgt, gefoltert und getötet zu werden. Denn auch wenn Voltaire vieles nicht gesagt hat, was ihm zugeschrieben wird, dürfte sein Verständnis von Meinungsfreiheit vor allem darauf gezielt haben, gegen staatliche Unterdrückung vorzugehen.

Übrigens ist Voltaire trotzdem kein guter Gewährsmann für Freiheit und Demokratie. Seine Schriften sind voll von zweifelsfrei antisemitischen und zutiefst rassistischen Aussagen, die heutzutage vermutlich sogar unter Volksverhetzung laufen würden und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt wären. Voltaire dürfte heute wirklich nicht alles sagen, was er meinte, und selbst das wäre richtig so. Man muss – um Evelyn Beatrice Hall Aussage zu variieren – wahrlich nicht für jede Meinung bereit sein zu sterben.

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Eine kurze Geschichte des Nicht-Schreibens – Mit Tillie Olsen

von Katharina Walser 

Ich sitze hier und warte bis meine Großmutter aus dem MRT kommt. Vor einigen Wochen war sie in Kroatien gestürzt. Den Bus wollte sie erwischen, um von ihrer älteren Schwester, die sie dort zeitweise pflegt, nach Hause zu fahren. Der Bus fährt nur ein paar mal am Tag von der dalmatinischen Hafenstadt ins kleine Dorf im Hinterland und sie war spät dran, ist zu schnell gelaufen, über ihre eigenen Sandalen gestolpert und der Länge nach hingefallen. Für einen Sturz Mitte 80 ist es “gut” gegangen, “nur” die Hand war gebrochen. Aber nun war die ewige Kümmerin selbst verletzt und musste dorthin kommen, wo sich andere noch um sie kümmern konnten. Zu uns nach Deutschland. 

Ich warte bis die Untersuchungen gelaufen sind und ich zurück ins Arztzimmer kommen kann, um zu übersetzen. Auf meinem Schoß liegt ein Rezensionsexemplar der deutschen Erstübersetzung von Tillie Olsens gesammelten Essays Was fehlt (Ü: Nina Frey & Hand-Christian Oeser), ein Buch, auf das ich lange gewartet habe. Es ist ein Montag im September 2022, 7 Uhr morgens – der einzige Termin, der in der Radiologie zu kriegen war. Bis wir wieder gehen können, ist es 10 Uhr, bis ich sie nach Hause gebracht habe, 12 Uhr, bis ich zurück an meinem Schreibtisch bin, 14 Uhr. Statt zu arbeiten, rufe ich meine Mutter an, um ihr von Großmutters Zustand zu berichten und zu planen, wer diese Woche wann vorbei fahren kann, um einzukaufen, zu kochen, zu putzen. Ich mache in dieser Woche 15 Minusstunden bei der Lohnarbeit. Wie viele Minusstunden ich an meinen Texten mache, weiß ich nicht, denn fürs Schreiben werde ich meist nicht bezahlt. Für mein Schreiben habe ich kein Log-in-System oder Urlaubstage. Ich schreibe nach der Arbeit abends, am Wochenende und manchmal, wenn ich sonst nicht dazu käme, auch in der Mittags-”Pause”. Wenn die Care-Arbeit dann noch hinzukommt, die sich nicht auf Wochenendtage oder Mittagspausen verschieben lässt, schreibe ich wochenlang gar nicht und bereue Rezensionen zugesagt zu haben, als die Care weniger war und meine Naivität groß. 

Die Personen, die durch die Strukturiertheit unserer Lebens-und Arbeitswelt – in diesem Fall den Strukturen des Literaturbetriebs und den Bedingungen für freie Autor:innenschaft – auf verschiedenste Weise vom Schreiben abgehalten werden oder es nur durch einen sehr beschwerlichen Weg schaffen, sind Olsens Gegenstand: “Schreibende einer Klasse, eines Geschlechts oder einer Hautfarbe, die in der Literatur nur am Rande vertreten sind – für sie ist eine erschöpfende Leistung, trotz verschwindend geringer Chance eine ‘schriftliche’ Stimme gefunden zu haben.” Dieses, wie Olsen es nannte, “Schweigen der Marginalisierten”, das eintritt, wenn bestimmte Personen nicht mehr oder nur sehr wenig schreiben können,  ist ein vielfältiges, denn die Unterdrückungsmechanismen, die verschiedene gesellschaftliche Stimmen klein halten, sind mehrfach miteinander verschränkt. Auch, wenn sie den Begriff noch nicht nutzen konnte, Olsen wusste sehr genau von dieser Mehrfachdiskriminierung. Sie widmete sich in ihren Essays und Vorträgen auch durch ihre eigene Perspektive als Mutter und postmigrantisches Arbeiterinnenkind, vor allem den ineinandergreifenden Geschlechts- und Klassen-Diskriminierungen, die an diesem “unnatürlichen Schweigen” in der Literatur partizipieren.

Doch welche Umstände braucht es, um in dieser versteinerten literarischen Umwelt Fuß zu fassen? Mit einem Blick in Notizen und Tagebücher bekannter Schriftsteller:innen, unter anderem Henry James, Thomas Mann, Joseph Conrad, Virginia Woolf, Katherine Mansfield oder Rilke, zeigt Olsen, dass es vor allem die Freiheit von Care-Arbeit, die Geschlechtszugehörigkeit und die finanziellen Mittel sind, die zum Schreiben ermächtigen. So regelte eine “stille, wachsame, unermüdliche Liebe” Joseph Conrad im Hintergrund seines Schaffens den gleichmäßigen Ablauf seiner Tage. Ruhe und Stille braucht es im Sinne dieser großen Literat:innen, um zu schreiben, dieses “unbegrenzte Alleinsein“, das Rilke suchte. Im Umkehrschluss ist für diejenigen, für die diese Ruhe nicht möglich ist, die Kümmernden, ein Schreiben also nicht möglich, oder zumindest nicht in dem Maß, das es braucht, um große Erfolge und Quantität in Produktion zu liefern. 

Wenn ich mit Kolleg:innen aus nicht-migrantischen Familien spreche, die ebenso um meine angesammelten Minusstunden wissen wie ich, heißt es oft, ob die Oma denn nicht alleine zum Arzt gehen könne, das sei doch nicht “meine Aufgabe”, sie zu all ihren Terminen zu begleiten. Und ich denke daran, wie einseitig Care selbst in vermeintlich feministischen Kreisen immer noch gedacht wird. 

Es fehlt ein breiterer Begriff von Care-Arbeit. 

Immerhin gibt es langsam überhaupt einen Begriff, mit dem die Arbeit bezeichnet wird, die auf Gehaltszetteln unsichtbar bleibt, die Zuhause und in Familien geleistet wird –  einen Begriff für die Pflege, die Betreuung, die emotionale Arbeit und den mental load. Und es gibt eine immer weiter erstarkende öffentliche Debatte darum, wie diese Care- mit 40h Lohnarbeit zusammenfinden soll. 

Für die Zunft der Schreibenden, haben sich in den vergangenen Jahren Anthologien wie Schreibtisch mit Aussicht und Autor:innenkollektive wie writing with CARE/RAGE oder otherwirtersneedtoconcentrate mit dieser, wie die Journalistin Mia Latkovic es in ihrer aktuellsten Newsletter-Folge benennt, “VerKeinbarkeit” von Schreiben und Care auseinandergesetzt. Vor allem mit der Doppelrolle, die gerade schreibende Mütter zu stemmen haben und mit die auch Olsen primär beschäftigte. 

Diese Debatte wird zurecht geführt, denn die geleistete Care ist auch in Deutschland und auch in den 2020ern in keinster Weise gendergerecht verteilt. Bleibt die Debatte jedoch dort stehen – das wird mir bei den Kommentaren meiner Kolleg:innen aufs Neue bewusst – denkt sie bei weitem nicht alle Menschen mit, die täglich Care leisten, ebenso, wie sie diverse Familiengefüge ausblendet, in denen kreuz und quer Sorgearbeit stattfindet. “Care” scheint für viele weiterhin synonymisch mit “Elternschaft”. In postmigrantischen Familien beispielsweise, wird Care jedoch nicht vorwiegend linear “abwärts” von Eltern zu Kindern, sondern ebenso “aufwärts” von Kindern zu Eltern, Großeltern und “horizontal” zu Geschwistern geleistet. Das liegt zum einen daran, dass in vielen (post-)migrantischen Familien weniger die Konzepte einer reduzierten Kernfamilie gelebt werden (können), aufgrund von fehlendem Wohnraum und den ökonomischen Hürden von externen Pflegeeinrichtungen. Es liegt aber auch daran, dass Kinder für ihre Eltern oft die sprachlichen und organisatorischen Sparings-Partner:innen bleiben, wenn es um Behördengänge, Arztbesuche oder andere Termine geht, bei denen Sprachbarrieren und Bürokratiemauern überwunden werden müssen. 

Das soll nun nicht heißen, dass die Texte, die sich der besonderen Aufgabe der schreibenden Mutter widmen, heute weniger relevant seien, nur, dass unter Umständen die postmigrantische alleinlebende Autorin ohne Kinder, die für ihre Familie verantwortlich ist, Pflege betreibt oder ihre Arbeitszeit in Wartezimmern verpasst, weniger zum Schreiben kommt als die nichtmigrantische Mutter, deren Schreiben und Sorgearbeit in einer Partnerschaft stattfindet, durch die ein familiäres Grundeinkommen bereits gesichert ist.

Olsen hat bereits darauf hingewiesen, dass Diskurse um Mutterschaft nicht ohne Fragen der Klassenzugehörigkeit diskutiert werden können. So bleibt sie in ihrer Untersuchung nicht bei der bloßen Erkenntnis stehen, dass die herausragenden Werke des 20. Jahrhunderts vor allem von kinderlosen Frauen stammen Gertrude Stein, Edith Wharton, Virginia Woolf, sondern verwies zudem darauf, dass diejenigen Frauen, die trotz Mutterschaft literarische Erfolge feierten, schnell zu zählen seien und vor allem: beinahe alle Bedienstete hatten. Konsequenterweise müssen Care-Arbeits-Diskurse heute (wo wir schon beginnen darüber zu sprechen, dass die Abgabe von Care an ökonomisch schlechter gestellte Frauen, keinen inklusiven Feminismus voranbringt, sondern eine “Girl-Boss” Strategie verfolgt) deshalb auch diejenigen mitdenken, die sowohl Brotjobs als auch eigene Care jonglieren müssen und nicht nur immer wieder von den prekären Arbeitsbedingungen im Literaturbetrieb zum Schweigen gebracht werden, sondern “im Vorfeld” schweigen. Über diejenigen, die nicht einmal vom Schreiben träumen können, da ihr Alltag von der Aufrechterhaltung der Grundsicherungen bestimmt wird und/oder von der Übernahme der Care besser gestellter Schreibender. 

Es fehlt eine differenzierte Verwendung des Begriffs “Brotjob”

Auch, dass das Schreiben oft von einem Brotjob begleitet wird, findet langsam aber sicher einen Platz in öffentlichen Debatten, um die Funktionsweisen des gegenwärtigen Literaturbetriebs. Sammelbände, wie Brotjobs & Literatur, Monographien wie Caroline Amlingers Schreiben, aber auch Einzelbeiträge in Zeitschriften, wie Johannes Franzens Beitrag zur Merkur Ausgabe im Februar ‘22 mit dem Titel Das liebe Geld, Literatur und Autonomie-Ideologie diskutieren, zeigen, wie verwoben und vor allem abhängig die Arbeit Schreibender mit anderen Erwerbstätigkeiten ist. Sei es zusätzlich auf Lesungen fahren müssen, Unterricht in kreativem Schreiben zu geben oder aber einer mit dem Schreiben gänzlich unverwandter Tätigkeit nachgehen, um die Lebenshaltungskosten zu decken, während Vorschüsse zu gering ausfallen oder Artikel-Aufträge ausbleiben. 

Diese Veröffentlichungen und die zu ihnen parallel geführten Debatten in den sozialen Medien leisten ihren Beitrag dazu, das romantische Bild aufzubrechen, eine Person könne heutzutage einzig und alleine vom Schreiben leben. 

Leider laufen diese Debatten zuweilen auf Abwegen, wenn so manche:r etablierte:r Autor:in auch dann von “Brotjobs” spricht, wenn die gemeinten Nebentätigkeiten überhaupt nicht mehr dazu sind, lediglich das Brot leistbar zu machen. Jobs etwa, die eine Verwandtschaft zum Schreiben haben, sei es das Übersetzen, das Lektorieren oder das Redigieren, sind zwar Tätigkeiten, die nicht im engsten Sinne das eigene Schreiben am Text betreffen, aber sehr wohl Arbeiten an der eigenen Rolle innerhalb des Literaturbetriebs sowie an den eigenen Fähigkeiten darstellen. Diese Nebenerwerbe stehen deshalb, selbst wenn sie das ökonomische Kapital aufbessern, nicht “neben” dem Schreiben, wie es etwa der Job hinter der Theke tut und sind so ein klarer Vorteil für Schreibende, wo der Erfolg im Literaturbetrieb, wie Olsen schreibt, in hohem Maße vom kameradschaftlichem Umgang, vom “Klima innerhalb literarischer Kreise” abhängt. Diese Tätigkeiten, die das Klima für einige Teilnehmer:innen am Literaturbetrieb verbessern, mit den branchenfernen Arbeiten unter dem Begriff Brotjob diskursiv in einen Topf zu werfen, verschleiert die Ressourcen, die es braucht um diese Jobs in der Branche zu bekommen – ebenso wie die Ressourcen, die die Ausübung dieser Tätigkeiten wiederum schafft. Vielleicht könnten wir anfangen, bei solchen Nebentätigkeiten von Kuchenjobs zu sprechen. 

Meine Lohnarbeit ist nicht wirklich verwandt mit dem Schreiben, auch wenn ich dort ab und an etwas auf-schreiben soll. Unter anderem deshalb, weil die Vergabe all dieser Jobs, die es wären, immer noch in hohem Maße an Praktika-Erfahrung geknüpft sind – also an unbezahlt abgegoltene Monate, die ich mir während des Studiums schlicht nicht leisten konnte – und an die Kontakte, die währenddessen entstehen. Also arbeite ich neben dem Schreiben etwas, für das es keine Rolle spielt, ob ich Kommunikationswissenschaften studiert hätte, oder, wie es tatsächlich ist, einen Masterabschluss in Literaturwissenschaft habe – solange bis die dort erworbenen Fähigkeiten hoffentlich irgendwann die fehlenden Praktika aufwiegen werden und ich sie mit in den Literaturbetrieb nehmen kann. 

 Es fehlt ein transparenter und antiklassistischer Umgang mit den Produktionsbedingungen von Texten sowie der Besetzung literaturbetrieblicher Stellen

Womit ich mein Geld verdiene, war lange kein Gesprächsthema, wenn ich mit anderen Schreibenden ins Gespräch kam. Schon alleine deshalb, weil ich viele Jahre dachte, es ginge nur mir so. Denn, ungeachtet dessen, dass die Rede von Brotjobs größer wurde, gewisse Jobs haben in Kreisen bürgerlicher Autor:innen und Journalist:innen weiterhin einen schlechten Ruf, insbesondere diejenigen, die ihre Marktzugehörigkeit schlechter verschleiern als der Literaturbetrieb.

Online-Marketing ist ganz sicher einer dieser Jobs. Denn irgendwie hält sich, trotz all der Beiträge in den vergangenen Jahren, die auf das Gegenteil verweisen, nach wie vor der Gedanke, dass das Schreiben eine Tätigkeit sei, die unabhängig von den Imperativen der Verwertbarkeit funktionieren sollte, fern vom schmutzigem Kapitalismus und denjenigen, die dir “nur” etwas verkaufen wollen – Kunst der Kunst wegen. Welch kapitalistischen Maschinen Literaturverlage und große Tageszeitungen sind, scheint sich leichter ignorieren zu lassen als eine Anzeige, die ich für meinen Arbeitgeber in den sozialen Medien schalte. Und selbstverständlich gibt es hinter dieser bewussten Ignoranz Menschen, die von ihr profitieren. Denn die Aufrechterhaltung dieses Mythos zur “Berufung”, die man nur aufgrund von ideellen Ansprüchen ausübt, vereinfacht die Rechtfertigung schlechter Gagen im Journalismus oder Verlagswesen –  schließlich mache man das ja gerne und nicht fürs Geld. 

Bevor Olsen an einem Spätsommertag in einem zu hellen Wartezimmer auf meinem Schoß lag, in der Hoffnung ich würde an diesem Tag endlich mehr als zehn Seiten am Stück lesen, hatte ich das Rezensionsexemplar schon dabei, als ich mich für den Sommerurlaub nach Kroatien aufmachte. Die Urlaubspläne, in meinem Fall Was fehlt fertig lesen und eine Bewerbung für ein Schreibseminar fertig stellen, wichen auch dort schon der körperlichen wie emotionalen Care, die mit einem Besuch in der zweiten Heimat immer einhergeht. Erst in späten Abendstunden habe ich versucht, die losen Fragmente, die ich bisher für dieses größere Schreibprojekt sammeln konnte, in ein Exposé für einen Roman zu pressen. Die Romanform war die Voraussetzung für die Teilnahme an besagtem Schreibseminar. 

Auch das Zögern, das ich empfinde, zu dem zu stehen, was dieses “Schreibprojekt” einmal werden soll (dieses allumfassende Schaudern bei dem Begriff “Buch”) hat etwas mit dem verstummen verschiedener (potenzieller) literarischer Stimmen im Laufe der Zeit zu tun. Denn um es überhaupt zu versuchen mit dem eigenen Schreiben, braucht es ein gewisses Gefühl von entitlement, also das Gefühl, dass die eigene Stimme es wert ist gehört zu werden.  “Wie viel doch nötig ist. Um zu schreiben […] wie viel Überzeugung von der Wichtigkeit des eigenen Wortes, des eigenen Rechts, es auszusprechen. [Schwer genug für jeden Mann, der nicht in eine Klasse hineingeboren wurde, die solches Selbstbewusstsein züchtet. Fast unmöglich für ein Mädchen, eine Frau.”, schreibt Olsen. Mein Schreibprojekt ist kein Roman, ich weiß, dass es nie einer sein wird. Ich tue dennoch so, weil ich 28 bin. Was mein Alter damit zu tun hat? Wer als Autor:in ein Stipendium ergattern will, fällt unter 30 in das Raster der Jungautor:innen, an das eine Vielzahl von Fördermöglichkeiten gebunden sind. Idealerweise verlegt man also vor 30 seinen ersten größeren Text bei einem Publikumsverlag, um sich jenseits der 30 auf Töpfe für bereits verlegte Autor:innen zu bewerben. 

Es fehlt eine inklusive Förderkultur. 

Bereits seit einiger Zeit wird zu diesen teils sehr eingeschränkten und in diesem Fall sogar adultistischen (diskriminierend aufgrund des Alters) Förderkriterien Kritik laut, wie im April 2022, als die Ausschreibung für den Wortmeldungen-Förderpreis der Crespo Foundation auf Instagram und Twitter für Aufsehen sorgte. Auch hier sollten ausschließlich Autor:innen unter 30 gefördert werden. Veränderung passiert jedoch trotz der Kritik nur langsam. Alleine deshalb, weil die Situation so prekär ist, dass es Schreibenden gar nicht möglich ist, sich bei bestimmten Förderern, deren Werte sich nicht mit den eigenen decken, nicht zu bewerben. Es ist die “Verzweiflung, die in dem sonderbaren System des bloßen Existenzminimums, das wir uns für unsere Kunstschaffenden ausgedacht haben, jene Berge von Bewerbungen um Stipendien der Stiftung […] erklärt”, schreibt auch Olsen. 

Als ich die Bewerbung für das besagte Schreibseminar abschickte, wusste ich bereits, dass ich meinen Text zu etwas zurechtgeschnitten hatte, das er nicht war. Denn das lineare Schreiben passt weder zu dem Thema meines Schreibprojekts, in dem es primär um die Unzuverlässigkeit von Familienerinnerungen geht, noch zu meinem Alltag. Wie lange müsste man am Stück am Schreibtisch sitzen, um etwas Zustande zu bringen, in dem am Ende mehr als zehn Seiten kohärent zusammen gehören sollen? Vielleicht gibt es auch Textformen, die sich mit der Care-Arbeit und dem eigenen ökonomischen Stand schlechter vereinbaren lassen, als andere. Vielleicht braucht man für manche Textformen mehr Zeit und “Fülle des Ichs”, das ganz bei sich und dem eigenen Schreiben sein? Wie die Autorin Julia Wolf in ihrem Vorwort zu Was fehlt, frage ich mich auch: “welche anderen literarischen Formen entsprechen meinen Lebensumständen vielleicht besser als der viel beschworene “große Wurf” des Romans?”.

Dass ich nach meiner Rückkehr aus Kroatien eine Absage für das genannte Schreibseminar im Briefkasten hatte, überraschte mich nicht weiter, schließlich war es nicht mehr mein Text, den ich da in meiner „Förder-Panik“ einreichte. Aber über die Schreib-Form(en), die einem unterbrochenen Alltag möglicherweise gerechter werden als der Roman, über die dachte ich noch lange nach. 

Noch vor dem Sommer war ein Text von mir und einer lieben Co-Autorin erschienen, der ein schriftlicher Dialog über unsere soziale Herkunft ist. Wochenlang haben wir uns in einem Google-Doc mal lange Briefe, mal fragmentarische Notizen hinterlassen, bis wir 90 Seiten über Klassendiskriminierung, Antislawismus und Bildungsaufstieg gefüllt hatten. Es hätte bei diesen emotionalen und großen Themen ein beschwerliches Schreiben sein können, und war doch eines der leichtesten – auch, weil es nicht nur aus mir selbst heraus produziert werden musste. Wenn ich nach Tagen ohne zu schreiben in das Doc zurückkehrte, war da immer etwas, das wartete: ein Impuls, eine Frage, ein Widerspruch, etwas, das mir half anzuknüpfen, schneller aus einem unterbrochenen Alltag zurück ins Schreiben zu finden, als die gähnende Stille im alleinigen Schreiben. Das gemeinsame Schreiben half uns “das Genie [in uns zu] töten”, ein Akt, den Julia Wolf als obligatorisch sieht, wenn Care-Arbeitende unter jetzigen Bedingungen des Literaturbetriebs schreiben wollen. Nach diesem dialogischen und impulsiven Schreiben wieder alleine an etwas zu arbeiten, wie eine simple Rezension, fühlte sich an wie durch ein schunkelndes Fahrwasser zu navigieren, der mein Alltag ist – in dem es nicht leistbar ist, als “Insel” zu schreiben. Ein Alltag, in den ein lineares Schreiben, langes Schreiben, tiefes Schreiben einfach nicht hineinpasst. 

Mittlerweile war es Herbst und ich hätte immer noch einige Wochen gehabt, um die Rezension pünktlich zum Erscheinungsdatum der deutschen Erstübersetzung von Olsens Silences zu schaffen. 

Doch zwischen den weiter folgenden Arztterminen, Gips-Wechseln, Nachsorge und dem panischen Nacharbeiten der immer weiter steigenden Minusstunden auf meinem Arbeitszeitkonto im Herbst ‘22 werden zwei wichtige literarische Preise vergeben und ich ärgere mich mehr über Geschriebenes als dass ich selbst schreibe. Zuerst geht der Literaturnobelpreis an die französische Autorin Annie Ernaux. Man freut sich in einem Teil der Inklusion fordernden Literatur-Blase: eine Frau, die über gesellschaftliche Tabus wie Schwangerschaftsabbrüche schrieb, ein Arbeiterinnenkind dazu, hat nicht nur eine Stimme, sondern internationale Anerkennung gewonnen. Man freut sich aber nur solange, bis man sieht, was Teile des konservativen Feuilletons zu ihr zu sagen haben. Es scheint mehr über ihre Statur und ihre Wirkung als Frau zu lesen zu sein, als über ihre Texte. Da war ich kurz der Illusion verfallen, Nicole Seiferts Frauenliteratur hätten nun auch alle Kritiker:innen gelesen und so etwas sexistisches und vor allem werkfernes traue sich niemand mehr. Hoffnungslos naiv zu glauben, alle hätten die wichtigen Thesen eines Buchs verinnerlicht, das 2020 Jahr erschienen ist – wo doch Tillie Olsen bereits in den 70ern schrieb: “Selbstzweifel; all jene Stunden, in denen die eigene Ernsthaftigkeitt hinterfragt, sich über das eigene Aussehen verrückt gemacht, die Konzentration in Fetzen gerissen wird, bis nichts bleibt […], da nur das für schätzungswert gilt (und ist), was auf Männer attraktiv wirkt.” Wenn man nun Denis Scheck liest, der Annie Ernaux als erotische und zugleich fragile Pippi Langstrumpf beschreibt, scheinen Texte wie Norman Mailers misogyne Reklame für mich selber kaum ein paar Tage alt zu sein. Immer noch geschieht also, was auch Olsen beobachtete: “die abschätzige Reaktion auf ein Buch nicht aufgrund seiner Qualität oder seines Inhalts, sondern aufgrund der bloßen Tatsache, dass es von einer Frau verfasst wurde”.

Alles, was Olsen über Frauen schreibt, müsste man heute für alle marginalisierten Gruppen schreiben. 

Denn kurz nach dem Gewinn für Annie Ernaux gewinnt Kim del Horizon mit Blutbuch den deutschen Buchpreis. Ein Text über eine nicht-binäre Erzählfigur, die ihr familiäres Trauma zum Thema macht, von einer nicht-binären schreibenden Person. Es ist ein historischer Gewinn mit einer eindrücklichen, medienwirksamen Performance bei der Verleihung, die Kim mit einer Rasur der eigenen Haare und einer politisch engagierten Dankesrede den protestierenden, inhaftierten und ermordeten Demonstrierenden im Iran widmet. Auf Social Media lassen die Vorwürfe nicht lange auf sich warten. Schnell wird infrage gestellt, ob das Buch denn auch “gut” sei, oder schlicht aufgrund seiner politischen Aktualität gewonnen hätte – oder schlimmer noch: weil sich das Gremium lediglich möglichst divers präsentieren will. Und auch Besprechungen verschiedener Feuilletons beleben daraufhin die alte Debatte von “Qualität vs. Identitätskultur” wieder. Ich erinnere mich an Miryam Schellbach, die bereits früher im Jahr zur Verleihung des Bachmann-Preises, gegen diese ewige Diskussion schlicht festhielt, dass im Grunde jede Literatur immer Identitäten verhandele und es sich deshalb hierbei um einen konstruierten Scheinwiderspruch handelt, der gerne von all denjenigen politisch instrumentalisiert wird, die in der Literatur gerne alles beim alten belassen wollen. 

Die Frage von “was fehlt”, heißt im Umkehrschluss vielleicht auch: was ist zu viel? 

Beiträge, die diesen Scheinwiderspruch künstlich am Leben halten, sind – im Vergleich zu sogenannten “identitätspolitischen Texten”, die vermeintlich den Buchmarkt dominieren, in jedem Fall zu viel. Vielleicht kommt das von Florian Kessler im Oktober 2022 herausgegebene Hanser Akzente Heft zur Frage “Was ist gute Literatur” genau zum richtigen Zeitpunkt – nicht weil sich nicht auch hier unter den vielzähligen Autor:innen, die in dem Band auf Kesslers Frage antworten, akademisierte und zum Teil sicher auch limitierende Antworten gegeben werden, sondern aufgrund der Diversität der Antworten, die in ihrer Fülle wieder einmal das literaturkritische Kriterium “Qualität” als ein durch und durch prekäres Instrument zur Kunstkritik entlarven. Olsen fand diesen Gegensatz “Identität” vs. „Qualität“ ebenfalls zu unterkomplex und zitiert in ihrem Essayband Virginia Woolfs Vorwort zu So haben wir gelebt: Englische Arbeiterinnen erzählen, die darin schreibt: “Ob das Literatur ist oder nicht, maße ich mir nicht an zu entscheiden, aber dass es viel erklärt und viel enthüllt, ist gewiss.”

Worauf Olsen schlicht hinzugefügt: “Literarische Größe […] steckt auch in dem, was viel erklärt und viel enthüllt (was zugleich der Nährboden für große Literatur ist).” Und auch einen weiteren relevanten Punkt setzt Olsen bereits vor 50 Jahren der Ecke des Feuilletons entgegen, in der regelmäßig behauptet wird, es sei nun auch einmal gut mit der “Migrationsliteratur” und den anderen Marginalisierten-Geschichten, da Inklusion doch ohnehin langsam erreicht sei, nämlich der Hinweis auf ein weiteres Schweigen in der Literaturgeschichte: “dem Schweigen nach dem ersten Buch”. 

Inwiefern wir uns also mit Ehrung, wie der von Kim, wirklich auf einem Weg zu mehr Inklusion befinden, bleibt in den kommenden Jahren abzuwarten. Bis dahin bleibt klar, dass, solange Rezensierende und Redakteur:innen, wie zuletzt Joachim Scholl vom Deutschlandfunk Kultur im Gespräch mit dem Verleger Jo Lendle, bei einem Autorin:Autor-Verhältnis in den Frühjahrsvorschauen 2023 des Hanser Verlags bei 8:14 den Eindruck haben, das seien ja “fast 50%” bleibt Olsens Text hochaktuell, denn: “selbst ein Verhältnis von eins zu sechs oder eins zu fünf würde nicht Grundlegendes ändern. Jedes Verhältnis außer eins zu eins fordert die Frage hinaus: Warum?”. Wenn wir nun Abstand davon nehmen, das Teilhabe-Problem lediglich als gender-binäres zu begreifen, muss die Feststellung heute jedoch leicht abgewandelt werden: 

Jedes Verhältnis außer jenes, das unsere diverse Gesellschaft prozentual abbildet, fordert die Frage hinaus: Warum?

Ich habe Was fehlt nach dem vierten Arztbesuch mit meiner Großmutter beinahe fertig gelesen, meine Minusstunden im Job traue ich schon gar nicht mehr ansehen, aber geschrieben habe ich meine Rezension immer noch nicht. Dafür füllt sich nebenher die Notizen-App in meinem Handy mit weiteren Themen und Artikel-Drafts, die ich umsetzen könnte, wenn ich den Olsen Text irgendwann fertig geschrieben habe. Zwischendurch überlege ich, ob ich einfach eine Kolumne mit dem Titel “5 Texte, die ich diesen Monat fast geschrieben hätte” starten soll, einfach um irgendetwas mit diesen hoffnungslos optimistischen Ideen zu tun, die ich auf-schreibe, wenn ich nicht schreibe. 


[Fertiggestellt wurde der Text nun letztlich nur aufgrund „gewonnener“ Zeit durch eine Erkrankung und eine damit verbundene “Arbeitsunfähigkeitsbescheinung”. Oh the irony]

Foto von Christin Hume auf Unsplash