Soziale Distanz – Ein Tagebuch (3)

Dies ist der dritte Teil unseres kollektiven Tagebuches, in dem wir mit zahlreichen Beiträger*innen fortlaufend sammeln, wie der grassierende Virus unser Leben, Vorstellungen von Gesellschaft, politische Debatten und die Sprache selbst verändert. (hier Teil 1, Teil 2)

Es schreiben mit:

Andrea Geier: @geierandrea2017, Anna Aridzanjan: @textautomat, Berit Glanz: @beritmiriam, Birte Förster: @birtefoerster, Charlotte Jahnz: @CJahnz, Elisa Aseva, Jan: @derkutter, Johannes Franzen: @johannes42, Magda Birkmann: @Magdarine, Marie Isabel Matthews-Schlinzig: @whatisaletter, Matthias Warkus: @derwahremawa, Nabard Faiz: @nbardEff, Philip: @FreihandDenker, Rike Hoppe: @HopRilke, Sandra Gugić: @SandraGugic, Shida Bazyar, Simon Sahner: @samsonshirne, Slata Roschal, Sonja Lewandowski: @SonjaLewandows1, Svenja Reiner: @SvenjaReiner, Tilman Winterling: @fiftyfourbooks, Viktor Funk: @Viktor_Funk

19.03.2020 

 

Jan, Hannover

Vor ein paar Tagen habe ich meinen Lieblingsnachbarn Ph. auf dem potemkinschen Parkplatz hinter dem Haus getroffen. Wir haben uns die Ellbogen gegeben. Ph. erzählte, dass die Patienten ihm die Klopapierrollen aus der Praxis klauen. Einen habe er letzten Freitag dabei erwischt, wie er auf dem WC die Handwaschlotion aus dem Wandspender in eine mitgebrachte Flasche umfüllte. Das fortwährende pfft-pfft-pfft war auch durch die geschlossene Tür zu hören gewesen und hatte ihn verraten. Das Mitführen einer leeren Flasche verriet Planung und Vorsatz. Ph. ist Franzose, er sagt, Quarantäne mache ihm nichts aus, er habe genug Wein im Keller, «viel Spaß mit Eurem Klopapier!» Wenn er «Ihr» zu mir sagt, meint er immer die Deutschen. Seine beiden Töchter heizen mit ihrem Longboard über den Hof.

 

Andrea, Tübingen

Bin immer noch erstaunt, wie unterschiedlich die Rede von Merkel gestern aufgenommen wurde. Den einen hat sie viel zu wenige wichtige Themen angesprochen (zB fehlte europäischer Austausch/Solidarität etc.), anderen hat sie viel zu lange gesprochen. Vielen war sie nicht nachdrücklich genug, andere loben, dass sie die Balance in der Krisenkommunikation zwischen Panik und wir schaffen das gewahrt hat. Vielleicht sind die unterschiedlichen Reaktionen aber gerade auch ein Zeichen dafür, dass es eine Quadratur des Kreises-Aufgabe war und sie es dafür doch wirklich gut gemacht hat? Ich fand die Wiederholungen in den Appellen sehr gut, & gleichzeitig die Abstufung der Hierarchie, indem sie zB erst über die Pflegekräfte und dann über ökonomische Sorgen gesprochen hat. 

 

Slata, München

Wenn das Erste, früh morgens, mit einem halb geöffneten Auge unter der Bettdecke, als erste Nachricht bei facebook, das Wort Ausgangssperre ‒ nichts fürchte ich so sehr wie Fremdanweisungen, wie staatliche, elterliche, sonst welche Kontrolle, uniformierte Männer, die darüber zu bestimmen haben, wo und wie ich lebe, die Möglichkeit schon allein, allein dass es ausgesprochen und ausgeschrieben wird, mir wird schwindelig und übel, und das eine Auge beginnt zu zucken. Sollen sie doch alle, sage ich laut, unter der Bettdecke, sollen sie doch, sind wir nicht überaltert als Gesellschaft, tun uns solche Viren nicht gut, aus irgendeinem Grund entstehen die, natürliche Selektion vielleicht, ja, vielleicht Selektion und so. Sind meine zwei Wochen Lebenszeit, in denen ich wahnsinnig werde, jeden Abend mich mit zuckenden pulsierenden Augen ins Bett lege, sind sie nicht etwa mehr wert als ein verbliebenes Lebensjahr, nehmen wir an, sowieso verbliebenes, einer alten, faltigen, vor sich hin lebenden Alten, wer nimmt sich das Recht heraus, darüber zu entscheiden, zu messen und abzuwägen. Schätzen sie das überhaupt, sage ich laut, was wir hier alles machen, um sie zu schützen, die abstrakten Gestalten, aus humanistischen Motiven heraus, werden sie sich bei uns bedanken dafür. Sollten die Nachbarn von unten, von gegenüber und die ganze Straße weiter nicht enteignet werden, alle, die einen Garten haben, ihre Kinder toben lassen an der frischen Luft, Frühlingsanfang, erste Sonne und so, während wir hier, als ob unsers das nicht nötig hätte, Verdachtsfälle, Kontaktpersonen, scheiß Wörter haben sie erfunden, und dann höre ich auf, halte still, denn ich habe noch nie das Wort scheiße ausgesprochen, habe sie immer gemieden, die deutschen Analflüche, und jetzt, so weit ist es mit mir gekommen.

 

Birte, Darmstadt

Im Netz kursiert ein Video mit jungen Leuten auf einer Partymeile, die trotz Pandemie weiterfeiern wollen. Weiter erleben. Was für Idioten, habe ich gedacht. Aber vielleicht, weil mein Erleben nur einfach Corona-kompatibler ist, ich es auch genießen kann, nicht pendeln zu müssen und schon an interessanten Orten war, weil ich doppelt so alt bin und vermutlich über bessere finanzielle Ressourcen verfüge. Es sind ja keine Luxusreisende, die man da sieht. Ich muss mich korrigieren.
Ein apokalyptischer Kollege erklärt die Situation zum Drehbuch für die Machtübernahme durch Rechtspopulisten. Ich sehe vor allem die teilweise Beschränkung von Konsum. Das Profilieren in dieser Situation überlasse ich dann doch lieber Herrn Drosten. Kritisch beobachten kann man die Maßnahmen zur Eindämmung neuer Ansteckungen ja auch ohne derlei unsaubere Drohszenarien.
So viele Hinweise im Internet, wie man sich verhalten soll, wie man durch die Krise kommt, wie man Mut, Humor oder was auch immer nicht verliert, dabei fühlt sich alles so fern von mir an. Wie Bettina Hitzer in “Krebs fühlen” schreibt, Gefühle sind zugleich universal und individuell. Meine passen gerade nicht zur Ratgeberliteratur. Ich rufe jetzt Freundinnen an.

 

Viktor, Frankfurt

Es ist so viel einfacher für andere da zu sein als für sich selbst. Heute morgen ruft mich eine Freundin aus Stockholm an, weil sie Stress mit ihrem Chef befürchtet. Der Stress ist nur in ihrem Kopf, ihrer Fantasie, und diese fantasierte Sorge treibt sie an, lässt sie Pläne schmieden, die wahrscheinlich mehr schaden als nutzen würden. Und wir reden, sie kommt runter – Slow. It. Down. – und etwas später schreibt sie mir per WhatsApp, dass alles gut sei, der Chef cool war und sie sogar nun eine Referenz für ihre Arbeit selbst verfassen soll. (Es ging um die Bewertung ihrer Arbeit.) Und etwas später bin ich in einer Stresssituation und mache was? Genau – ich schaffe es nicht, zu bremsen und motze rum. Stresszeiten sind wahrlich spannende Zeiten, wie ein Spiegel, in den wir reinzublicken gezwungen sind. 

Marie Isabel, Dunfermline

Heute morgen auf Twitter ein Foto von Militärfahrzeugen, die 60 Tote aus Bergamo in Krematorien anderer Städte transportieren. Der heimatliche Friedhof hat keinen Platz mehr für sie. In Friedenszeiten ist man nicht darauf vorbereitet, zu viele Menschen auf einmal zu beerdigen. Die toten Körper selbst finden nicht ins Bild, dafür die Särge, die sie umhüllen und die metallenen Autos, in denen sie reisen. Es wirkt pietätlos, fremde Menschen im Tod öffentlich zur Schau zu stellen. Dürfen das nur Kriegsberichterstatter heutzutage? Um Zeugnis abzulegen, Gewalttaten anzuklagen? Die Verheerungen, die das Virus anrichtet, sind unserer Fantasie überlassen. Sterbende bleiben isoliert, nicht einmal Angehörige dürfen zu ihnen. Der Weg, den letztlich jeder allein geht, ist nun ein einsamer. Ihre Gesichter sehen wir dann manchmal doch: Wenn sie uns aus italienischen Todesanzeigen entgegenblicken, noch aus dem Leben, aus ihrer Vergangenheit in unsere Gegenwart. 

Queste sono 60 bare, 60 persone 🇮🇹. #CoronaVirus, l’esercito porta via 60 bare dal cimitero di #Bergamo: „Non c’è più posto“. Verranno cremate fuori dalla Lombardia. Bergamo e i bergamaschi non potranno neppure piangere i loro cari. Soffriamo con Voi 😥. #RadioSavana pic.twitter.com/pjCZH8C99z

— RadioSavana (@RadioSavana) March 18, 2020

 

Svenja, Köln
Wie oft kann man den Boden saugen? Wie oft kann man die Fensterscheiben putzen? Wie oft kann die Tischplatte durch das schräg einfallende Licht betrachten und die Oberfläche schmierig finden? Und die Fließen in der Küche? Und die Türrahmen. Und die Türgriffe. Und die Fußleisten. Und die Küchenschränke. Und überhaupt alles, was sich in dieser Wohnung befindet. Ich habe eine Neigung zur Reinlichkeit, vor allem, wenn ich sie bei all der Sonne ständig überprüfen kann, deswegen arbeite ich tagsüber oft in Bibliotheken. Jetzt bin ich alleine mit dem Staub. Und der Essigreiniger ist fast alle.

 

Berit, Greifswald

Es ist schwierig nachzudenken, geschweige denn zu arbeiten, wenn fünf Leute in einer Stadtwohnung versuchen eine Art von Alltag zu erzeugen, Schule weiterzuführen, die Arbeit nicht fallenzulassen, den Boden von Lego zu befreien, Wäsche zu waschen, Mahlzeiten zu produzieren. Bis jetzt hält sich der Streit in Grenzen, aber ich merke, wie ich an den Rändern immer mehr zerfasere. Ich sehe Bilder von zu Notfallambulanzen umgebauten Messen auf Twitter und gleiche sie in meinem Kopf mit den Schwarz-Weiß Fotos von Notfalllagern der Spanischen Grippe ab, an die ich mich erinnern kann. Ich weiß nicht genau, ob mir diese historische Perspektivierung Angst macht oder mich beruhigt.  

So sieht die #coronavirus-Betreuungseinrichtung in der Messe Wien von innen aus. 880 Betten stehen ab heute bereit, Kapazitäten können im Bedarfsfall weiter ausgebaut werden. Im Endausbau Betreuung durch 1.000 MitarbeiterInnen. Alle Infos: https://t.co/fMFjYYl4XW #wien (c) Jobst pic.twitter.com/13OSqpGxkD

— Mario Dujaković (@mariodujakovic) March 17, 2020

Hoffnung macht mir ein Zeitungsartikel über den erfolgreichen Versuch Bestandteile von Beatmungsmaschinen mit dem 3-D-Drucker nachzudrucken. Das wird Leben retten. Natürlich folgen auf die gute Nachricht Berichte, dass der Hersteller der aktuell nicht-lieferbaren Beatmungsmaschinen einen Patentbruch festgestellt hat. Solidarität und Innovation im akuten Notfall werden gegen marktwirtschaftliche Mechanismen ausgespielt. Diese Konflikte wird es wahrscheinlich jetzt häufiger geben – oder sind sie nur sichtbarer?

I’d love to see a future where every hospital had an industrial-capacity 3D printer for these kind of situations. There are people recovering because of these Italian guys. https://t.co/LHfunl6tHw

— Journal of the Plague Year, by Mike Stuchbery 💀🍷 (@MikeStuchbery_) March 17, 2020

 

Philip, Göttingen

Meine hochfliegenden Pläne, auf entspannte Weise produktiv zu sein, sind Makulatur. Ich hatte mir vorgenommen endlich ohne Druck die Texte zu lesen und zu schreiben, die seit einiger Zeit in der Warteschlange hängen. Jetzt stelle ich fest, dass ich starke Schwierigkeiten habe, mich zu konzentrieren. Jeder Absatz braucht gefühlt eine Viertelstunde. Selbst zu diesem Tagebuch habe ich in den letzten zwei Tagen nichts beigetragen. Ich verbringe (verschwende?) viel Zeit damit, durch meinen Twitter-Feed zu scrollen, in der Hoffnung, etwas Interessantes zu sehen. Dort bekommt ein Tweet, der die Pandemie als “Earth’s Vaccine” feiert und verkündet: “We’re the virus”, fast eine Viertelmillionen (Stand 14:30) “Gefällt mir”-Angaben. Viele widersprechen, aber das so viele Menschen diese Art der scheinbar tiefgründigen Betrachtung gut finden, macht mir Sorgen. Als Philosoph, denke ich mir, wäre ich hier berufen, etwas dazu zu sagen. Aber ich glaube nicht, irgendwen zu einer anderen Ansicht bringen zu können.

Falls ihr denkt „Mutter Natur“ müsse von der „Krankheit Mensch“ befreit werden – zwei Sachen:
1. Die Natur ist eine blinde, zerstörerische nicht-Entität und ihr nur einer ihrer vielen Unfälle.
2. Euer Problem sind ein kleiner Teil der Menschen und die vorherrschenden Strukturen.

— Corvus Corax Podcast (@CorvusCoraxPC) March 19, 2020

 

Shida
Gestern war ich spazieren, weil ich nach Tagen der Krankheit (kein Fieber + kein Husten = kein Corona?) wieder fit genug dafür war.

Die Straßen waren erstaunlich belebt. Wenn mir jemand entgegenkam, lächelten wir uns an. Ehrlich wahr, alle lächelten. Die meisten Leute waren alt. Risikogruppe. Sie lächelten und machten gleichzeitig einen Bogen um mich, während ich lächelte und gleichzeitig auch einen Bogen zu machen versuchte. Das Wort „Risikogruppe“ gebührt eigentlich eher mir als euch, dachte ich. Ich bin doch hier das Risiko. Ihr geht einfach nur spazieren und lächelt.

Heute Spaziergang Nummer 2. Merkels Ansprache scheint zu wirken: Es ist deutlich menschenleerer. Es wird aber auch nicht gelächelt. Auch nicht, als mir auf dem Bürgersteig drei Menschen entgegenkommen. Wir wissen nicht, wie wir aneinander vorbeikommen sollen. Die drei und ich. Wir bleiben alle vier voreinander stehen und es passiert nichts. Nichts! Ich weiß nicht, wie wir uns am Ende weiterbewegt haben. Wir sind auf jeden Fall alle vier noch neu im Land der Social-Distancing-Spaziergänge.

Nach beiden Spaziergängen habe ich komatös geschlafen. Das macht mir Angst. Dass ich in ein paar Tagen denke: Wie konnte ich nur so selbstverliebt sein zu denken, mich würde der Virus verschonen. Und dann denke: Wen habe ich vor meiner Isolation (heute ist es Tag 6) alles in Gefahr gebracht? Erst mal versuche ich zu denken: Das ist eine ganz normale kleine Grippe wie ich sie ständig habe. 

 

Sandra, Berlin

Hardcore Homeoffice mit Kind. Tagsüber Grüner Tee, abends Gin Tonic. Wir erfinden neue Rituale im Großen und Kleinen um den neuen Alltag zu bewältigen. Mein Partner und ich ringen um Zeit und Nerven, versuchen unsere Arbeit weiterzubringen. Die Sonne scheint, das Kind will und muss auch mal raus, rennen, laufen, atmen. Also heisst es für einen von uns, möglichst täglich einen möglichst menschenleeren Flecken Grün zu finden, wo ein bisschen Freiheit und Bewegung möglich ist. Und ja, wir sind privilegiert, weil wir homeoffice machen können, und nein, ich bin es eigentlich überhaupt nicht, weil ich immer homeoffice mache, überhaupt das letzte Jahr, all die Abende, Nächte, Wochenenden arbeiten und tagsüber das Kind betreuen, mangels Kitaplatz. Und jetzt, endlich, haben wir einen und (verständlicherweise) hat die Kita zugemacht, noch bevor wir mit der Eingewöhnung beginnen konnten. Ich hätte heulen können. Die Babysitterin, die uns ab und zu geholfen hat, ist seit ein paar Tagen in Quarantäne und würde im Moment ohnehin nicht kommen (was wir alle für das Beste halten), sie schreibt, dass sie das Kind schon vermisst. Ich hoffe, dass sie gesund bleibt. Wir schreiben via whatsapp und reden einander gut zu, versichern einander gegenseitige Hilfe, wenn etwas dringend wird und überhaupt. Wir führen diese Gespräche nicht nur mit ihr, auch mit Freund_innen, Familie. Wenn ich einkaufen gehen muss, sind die einen viel nahbarer als sonst, kurze Gespräche ergeben sich, Freundlichkeiten werden ausgetauscht – dafür sind andere sehr viel unangenehmer, distanzlos, rücksichtslos. Berlin kann manchmal so ein Riesenarschloch sein. Vor mir an der Kasse im Bioladen werfen zwei Twentysomethings Berge von Haferflocken, Bohnen, Klopapier aufs Kassenband und ernten böse Blicke. Aber keine_r sagt was. Sollten wir etwas sagen? Und wenn ja, was?

Meine Wiener Freund_innen abends auf meinem Bildschirm im Splitscreen, wir sitzen in unseren Wohnzimmern, erzählen, freuen uns, dass es allen gut geht, hoffen, dass es so bleibt. Manche von ihnen leben allein, andere haben Kinder. Ich bin froh, dass ich eine kleine Familie habe, auch wenn es mich in diesen Tagen oft an meine Grenzen bringt, ich müsste in Stille und Konzentration an meinem Manuskript sitzen. Eigentlich. Täglich telefoniere ich mit meinen Eltern, sie wohnen bei Wien, ich bin weit weg, kann ihnen nicht zur Hand gehen – und das Digitale ist nicht ihre Welt – vielleicht üben wir heute Abend Videotelefonieren. Die Zeit rast, ich wundere mich, dass manche anscheinend nicht wissen, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollen. Mein Problem ist viel eher, Ruhe zu finden, auch in diesen Tagen. Ganz oft ist es jetzt so: Die Stimme auf der einen und der anderen Seite der Leitung, ein gemeinsamer Moment, ein Durchatmen.

 

Matthias, Jena
Wie schnell sich Ordnung aus dem Chaos herausbildet: In Jena hat die Initiative des Innenstadtgewerbes eine Seite aufgesetzt, auf der Ladengeschäfte und gastronomische Betriebe, die jetzt nur noch liefern bzw. Abholservice anbieten dürfen, ihre Angebote sammeln. Im Kaufland Aushänge, die zu zwei Metern Abstand auffordern (daran hält sich kaum jemand) und regelmäßige Durchsagen, die bitten, bargeldlos zu zahlen. Ein Haufen E-Mails von Onlineshops, die mir versichern, dass der Betrieb weitergeht, nahezu inhaltsgleich: Die Büroangestellten habe man heimgeschickt, die Logistik arbeite im Mehrschichtenbetrieb mit strikter Trennung (genau so ist es in der Firma meiner Frau übrigens auch, die u.a. Apothekenlogistik betreibt). Schreiben die alle voneinander ab, gibt es da eine Richtlinie? Es erinnert mich so ein bisschen an den erst tröpfelnden, dann reißenden Strom der DSGVO-Infomails im Mai 2018.

Ich habe mich dabei ertappt, zu überprüfen, wie viel Toilettenpapier wir noch haben – sieben frische Rollen plus die angebrochene. Meine Arbeitsmotivation ist gering, aber das Thema ist bei mir ohnehin schwierig. Ich hatte einen Chat mit einer Verwandten, die meinte, vielen käme die Epidemie gerade recht, so müde und erschöpft wie alle seien. Passend bzw. kontrastierend dazu der National-Geographic-Artikel von neulich, der feststellt, dass die Menschen in den westlichen Gesellschaften anscheinend seit mindestens dem Mittelalter zu jedem Zeitpunkt denken, die aktuelle Epoche sei die müdeste und erschöpfteste.

In den sozialen Medien hat sich der normale Umgangston von Gereiztheit und Zurechtweisungsdrang nicht etwa abgeschwächt, sondern noch verschärft, zugleich liegen bei mir die Nerven natürlich blanker. Auch die klassischen Medien scheinen ihre Unsitten (z.B. überhastete Produktion quatschiger Einordnungsthinkpieces) eher noch zu verstärken. Ich ertappe mich beim Gedanken, dass ich mir geschwätzfreie Medien wünsche, aber das ist natürlich so, wie sich eine Graffitikultur ohne Tags oder Gewitter ohne Regen zu wünschen. Ich bin mir selbst etwas peinlich. Ich muss die Tage vor die Tür, um ein paar Kurzvideos für einen Beitrag über DDR-Architektur zu drehen, und frage mich jetzt schon, wie die Leute darauf reagieren werden, dass ich mit meinem Handy in einem großen Gimbal durchs Viertel laufe. Ob man glauben wird, dass ich für den Corona-Überwachungsstaat unterwegs bin? Mir ist es unter anderen Umständen schon unangenehm genug, in der Öffentlichkeit zu filmen.

 

Marie Isabel, Dunfermline

Unsere Allgemeinarztpraxis vergibt momentan keine regulären Termine mehr, nicht einmal Telefontermine. Notfälle werden einer Triage-Krankenschwester vorgestellt, die einen dann zurückruft. Bin ich ein Notfall? Nein. Wird sie zurückrufen? Ich hoffe doch. Der NHS im Pandemie-Modus. Ruft man die direkte Nummer der Breast Care Nurses im örtlichen Krankenhaus an, die sich um Brustkrebspatient:innen kümmern, begegnet man einer Informationsansage, deren Länge die elektronischen Aufnahmekapazitäten sprengt. Überall die Frage nach möglichem Kontakt mit Corona-Erkrankten. Da hilft nur eins: Sprachnachrichten hinterlassen, ruhig bleiben und das Stressniveau niedrig halten, damit der eigene Körper nicht auf unangenehme Ideen kommt, während das Gesundheitswesen implodiert. 

PS: Sie haben alle zurückgerufen. Das System steckt zwar etwas im Chaos aber funktioniert: Notfälle haben absolute Priorität. Einen Termin habe ich zwar noch nicht, aber mehr Informationen, Handlungsanweisungen bei Verschlechterung und die Aussicht, dass es nächste Woche mit dem Arztbesuch klappen könnte.

PPS: Ich merke, wie gut mir das Schreiben an diesem kollektiven Tagebuch tut. Manchmal, wenn ich eine Notiz hinterlassen will, sehe ich, dass andere gerade auch schreiben, und ich stelle mir vor, wie sie irgendwo auf dem europäischen Festland vor ihren Bildschirmen sitzen und tippen und korrigieren, während ich hier an meinem Schreibtisch auf der Insel genau das Gleiche mache. Eine Gemeinschaft von Schreibenden in Zeiten der sozialen Distanz.

 

Svenja, Köln
Ich verschicke Hundevideos. Ich verschicke Katzenbilder. Ich verschicke tic toc-Aufnahmen. Ich schreibe SMS, Emails, Instamessages, Facebooknachrichten. Gestern Abend hatte ich ein vierstündiges Skypegespräch mit ebenfalls isolierten Freundinnen. Wir trinken – Wein, alkoholfreies Bier und Cola mit Jägermeister – und hören Angela Merkel zu. Wir besprechen die Lage der Nation und wie wir uns verhalten wollen. Wir reden über Ängste, Fragen, Ärger. Und dann sprechen wir über uns. Eine Freundin ist seit längerer Zeit krankgeschrieben und leidet darunter, nicht wieder in den Job zurückkehren zu können. Eine Freundin plant ihre weitere Zukunft. Ich habe die meisten Termine aus meinem Kalender gelöscht. Manchmal steht „Skype mit…“ zwischen den vielen weißen Spalten.

 

Shida

Während meiner care-Arbeit, die gerade meine Hauptarbeit geworden ist, läuft das Radio. Im Halbstundentakt erzählt mir der Deutschlandfunk, dass „die Bundeswehr“ sich „vorbereite“. Die Kombination dieser beiden Worte macht mir mehr Angst als die Meldungen, die darauf folgen. Geht das allen Menschen so? Schöpfen manche Vertrauen? 

A propos Angst und alle Menschen: Heute vor einem Monat hat ein rechtsradikaler Terrorist neun rassistische Morde in Hanau begangen. Seitdem ist kein Tag vergangen, an dem ich mich nicht gefragt habe, wie es den Angehörigen der Opfer geht. Jetzt, in diesen Tagen, frage ich mich das umso öfter. Es übersteigt meine Vorstellungskraft. 

Heute habe ich vier Taxifahrer gesehen. Sie standen vor ihren leeren Taxis, mit Kaffee und Gebäck und plauderten in einer Sprache, die ich nicht verstand. Sie standen in einer symmetrischen Formation, die so aussah, als hätten sie vorher mit dem Zollstock abgemessen, ob sie auch wirklich zwei Meter Abstand zueinander halten. Sie plauderten und lachten. Sie sahen so aus, wie ich mir wünschen würde, dass alle aussehen: Sich dem Ernst der Lage bewusst, sich an die Vorgaben haltend, sich nicht in Panik versetzend. 

 

Nabard, Bonn

Mit der Angst kommt die Wut. Nicht auf die Politik. Oder auf die Gesellschaft. Wut auf eine Institution die das Leben eines jeden Mediziners lenkt und waltet wie es ihm beliebt. Das IMPP, Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen, seit 2016 geleitet von Frau Prof. Dr. Jünger.

Ein Institut was sich seitdem zu einem diktatorischen Bürokratiemonster entwickelt hat. 

Neuester clou von Prof. Jünger; aussetzen des Staatsexamens für Medizinstudierende damit diese als Hilfskräfte in den Krankenhäusern eingezogen werden sollen. 

Ohnmacht macht sich unter meinen Kommilitonen breit. Sie lernen, wie ich im Sommer seit mehr als 80 Tagen ohne Pause. Geschlossene Bibliotheken. Keine Möglichkeit analog an Lehrbücher zu kommen. Doch online Tools und Plattformen helfen. 

Wir haben eine Petition* gestartet, doch Solidarität von anderen außer Medizinern erhalten wir kaum. Die Resonanzen sind überschaubar. „Wir“ sollen helfen und retten aber sind einem System ausgesetzt welches Schach mit uns spielt. So wird der Nachwuchs an jungen Medizinern vergrault. Kein Wunder dass die meisten in die Schweiz, nach Skandinavien oder Kanada auswandern wollen. 

*support Us

 

20.3.2020

 

Sonja, Köln

Mir ist nicht mehr nach Pandemie-Pointen. Die Blumenläden haben ihre Blumen verschenkt. Auf dem Markt stehen die Leute rum wie meine Avatare bei Sims früher, weit auseinander mitten auf dem Platz ohne direkten Anhaltspunkt, dass sie da vorne ein Ei und ein Glas Honig kaufen wollen (natürlich wollen sie mehr kaufen, wir brauchen Essen, Stressessen, Angst essen Seele auf und Essen isst Angst auf). Verloren stehen die Menschen über den Platz verteilt an und warten sehr geduldig, aber es sieht nicht nach Warten aus. Warten sieht anders aus. Warten ist doch sonst ein enges Hintereinander, ein drängelndes Gehtsbaldweiter, ein eiliges Mussjetztwieder. 

is it only me or this picture of a line in front of a boulangerie in France looks like a still from a Kaurismäki film? pic.twitter.com/9OwIoFLO7N

— nicolas raffin (@nraffin) March 18, 2020

Der ganze Marktplatz ist ein Wartezimmer, aber die Handys darf man anlassen. Das Robert-Koch-Institut braucht das Handy nah bei uns, um uns tracken zu können, will wissen, ob wir zu Hause bleiben. Die Telekom stellt unsere Mobilfunkdaten zur Verfügung, damit das RKI Bewegungsprofile erstellen kann. 

Wo kann ich mein Bewegungsprofil hochladen?

— Moritz Hürtgen (@hrtgn) March 20, 2020

Einmal am Tag gehe ich im Kölner Volksgarten spazieren. Ein paar Gruppen grillen dort, noch mehr Menschen stehen um die Wiese herum und schauen dabei zu, wie ein Polizeiwagen von Gruppe zu Gruppe fährt, um die Ansammlungen aufzulösen. Ich fotografiere zwei Kamerateams, die die Szenerie filmen. Dann folge ich dem Team vom WDR ein bisschen durch den Park, wie sie den leeren Spielplatz filmen. Journalist*innen sind systemrelevant, ich nicht. Ein Mann zieht seinen noch qualmenden Grill über die leere Wiese. Ob er noch ein Würstchen essen konnte?

Auf Facebook wird man entweder über den Klee gelobt, weil man zu Hause bleibt, oder wüst beschimpft. Idealisierung und Entwertung bestimmen viele Wahrnehmungen. Abends lese ich in meiner Facebookstadtteilgruppe, dass wir auf Bewährung seien. Ich kann das Wort nicht ertragen und die Moderatorin in der Extrasendung nach der tagesschau (auch das Extra ist jetzt new normal) wiederholt diese Warnung – die Bevölkerung ist jetzt auf Bewährung! Folgt auf die Kriminalitäts- die Kriegssemantik, wie in Frankreich und Italien? Im Krieg ist alles möglich. So, wie in der jetzigen Ausnahmesituation schon das Asylrecht ausgesetzt wird, die Kinder nicht aus dem Flüchtlingslager in Moria geholt werden. #LeaveNoOneBehind? Wir lassen alle da, wo sie gerade sind. Der März ist ein riesiges überfülltes Wartezimmer und ich blättere mich ungeduldig durch die Hashtags, die sich auf dem stuhlkreisgeborgenem kniehohen Glastisch stapeln.

 

Jan, Hannover

«Das soll man aber nicht machen», sagt die Verkäuferin an der Supermarktkasse und zeigt auf das Zeitschriften-Cover, das sie gerade über den Warenscanner gezogen hat. Das Foto darauf zeigt das Faschistenmännchen Björn Höcke beim Händeschütteln mit einem Stundenministerpräsidenten, dessen Namen ich gnädigerweise schon wieder vergessen habe. (Im Supermarkt verkaufen sie keine «Compact» mehr, aber immer noch die gute alte «Konkret»; ein kleiner Sieg.) Nein, Nazis sollte man nie die Hand reichen, denke ich, aber natürlich geht es nicht um Politik, sondern um das Virus, dieses heimtückische Ding. Es geht jetzt immer alles um das Virus.

Der Einkauf war seltsam. Wir können schon deswegen nicht hamstern, weil wir nicht in der Lage sind, für mehr als zwei Tage vorauszuplanen. Im Supermarkt laufe ich immer noch herum, als müsste ich wie vor 25 Jahren mein kleines Vorratsregal in der WG-Küche auffüllen (zweites Brett von oben). Aber heute habe ich zum ersten Mal im Leben Sachen gekauft, weil sie wieder da sind, nachdem sie zu Beginn der Woche noch ausverkauft waren. Hey, Parmesan ist wieder da! Dafür sind jetzt die Kartoffelchips aus, zumindest die guten Sorten, ein untrügliches Zeichen dafür, dass Deutschland sein Schicksal auf dem heimischen Sofa endlich angenommen hat.  Nudeln sind auch immer noch ausverkauft, aber Gnocchi sind ungeachtet der Coronakrise erstaunlicherweise durchgehend problemlos zu bekommen. Niemand fotografiert in den Gängen die leergekauften Regale, entweder ist das Thema durch oder die Menschen in meinem Stadtteil sind nicht auf Twitter.

«Da haben Sie natürlich recht», sage ich zu der Verkäuferin und zücke meine Karte. Die Wahrheit ist, ich war noch nie der große Händeschüttler. Von mir aus müssen wir nach Corona nicht zu diesem Brauch zurückkehren.

 

Birte, Darmstadt
Gestern Abend habe ich im Dunkeln in der Wohnung getanzt. Wir haben die vierte Folge der zweiten Staffel von Derry Girls geschaut, die mühelos eine Hochzeit und eine Beerdigung in 25 Minuten unterbringt. Es gibt Rock the Boat, Haschscones von Michelle und Sister Micheal fragt sich, ob sie eigentlich auf ihrer eigenen Beerdigung ist, als der langweiligste Erzähler der irischen Insel Onkel Colm ihr ein Ohr abkaut. Der Sohn hat auf Spotify die Derry-Girls–Playlist (meiner Jugend) gefunden und so kam eins zum anderen.

Das und telefonieren war gut. Auf Twitter Stimmen lesen, die vorgeben, die Situation bewerten zu können, die sich gar damit hervortun wollen, eher nicht. Apokalyptiker und Integrierte, so kommt mir die aktuelle Aufteilung vor meiner Umgebung vor. Und dennoch ist auf Twitter mein Netz virtueller Kontakte, die ich nicht missen mag und kann, von denen ich lesen möchte. Oder noch lieber hören.

Ach ja: Onkel Colm hat Präsident Kennedy getroffen, als der in Nordirland war. Darauf Gerry, Vater der Hauptfigur Erin Quinn: “JFK spoke to Colm? Christ, that man didn’t have much luck, did he?” 

Das Gefühl, ständig Ähnliches zu schreiben.

 

Shida

Mit welchen Worten sagt man Verabredungen zum Kaffeetrinken ab, die man letzte Woche gemacht hat? „Aus gegebenem Anlass“? Muss man Verabredungen überhaupt explizit absagen? Versteht sich das nicht von selbst?

Ich verstehe gerade überhaupt nichts von selbst. Ich finde es jetzt seit einer Woche völlig klar, dass wir das Haus nicht verlassen, wenn es nicht sein muss (oder wir spazieren gehen um nicht krank zu werden). Menschen, die sonst eher so denken wie ich, denken in dieser Hinsicht plötzlich anders und ich verstehe so überhaupt nicht, nach welchem Muster das folgt. Haben sie einfach andere Gespräche geführt, andere Sachen gelesen? Andere Schutzmechanismen, die sie von der Realität fernhalten?

Gestern wäre ich mit einer Bekannten verabredet gewesen. Ich habe aus Überforderung, die Bekannte im Umgang mit social distancing nicht einordnen zu können, nicht die leiseste Idee gehabt, wie ich ihr absage. Am Ende habe ich einfach nichts getan, nichts erklärt, nichts abgesagt. Ich habe mich einfach nicht bei ihr gemeldet. Sie hat sich auch nicht bei mir gemeldet. Wir haben also ohne Worte die einzig logische Konsequenz getragen und unser Treffen bis auf weiteres vertagt. Das ist also noch mal gut gegangen.

Manchmal wünsche ich mir eine Ausgangssperre, einfach, damit solche Unsicherheiten vom Tisch sind. Je länger all das geht, desto simplere Lösungen wünsche ich mir. Heute finde ich sogar die Vorstellung von Bundeswehrsoldat*innen, die Lebensmittel in Autostaus verteilen, toll. Huch.

 

Sonja, Köln

Meine Schwester schreibt eine Nachricht in die Whatsappgruppe “Familie 2.0”: “Die Ausgangssperre wird wohl kommen. Wir haben jetzt Bescheinigungen bekommen.” Mir kommen die Tränen. Ich will nicht eingesperrt sein. Meine Angst ist mir unangenehm, wo doch andere vermeintlich viel größeren Belastungen ausgesetzt sind, mit ihren Kindern zu Hause, in beruflichen Ausnahmesituationen; mein Bruder, meine Schwester, meine Mutter, die in den Kliniken und Praxen arbeiten und gerade mit das Gesundheitssystem aufrecht erhalten. Aber mich beherrscht einfach nur die Angst, isoliert zu sein, nicht raus zu dürfen und das auf unbestimmte Zeit. Ich werde keine Bescheinigung bekommen, weil ich nicht “systemrelevant” bin. Akut nicht, flüstere ich hinterher. 

Nie hätte ich gedacht, dass mich die Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit psychisch so dermaßen zerfressen würde. Wie mit der erzwungenen sozialen Distanz umgehen? Und wie lange?

Hört auf nach #Ausgangssperre zu schreien. Das geht gar nicht! Das sind massive Einschränkungen der Grundrechte. Ich bin absolut für #StayAtHome und absolut gegen Ausgangssperre. Ihr gefährdet damit Frauen und Kinder (u.a. häusliche Gewalt), Menschen mit Depression etc.

— Annalena Schmidt (@Schmanle) March 20, 2020

Wann warst du das letzte Mal in einer Situation, in der du nicht wusstest, was in drei Wochen sein wird?

Die Straßen werden leerer, die Kreidebilder auf den Bürgersteigen größer und bunter.

Gute Ideen aus dem Hinterhof (🍦♥️🌞). Neukölln, jetzt. pic.twitter.com/OohErkEaaE

— Hanna Engelmeier (@HannaEngelmeier) March 19, 2020

 

Svenja, Köln

Ich bin perfektionistisch veranlagt und mit der Situation überfordert, sobald ich rausgehe. Heute muss ich einkaufen. In meinem Rucksack ist Platz für fünf Tage Essen. Ich weiche den Menschen auf den Bürgersteigen aus und bin bald so genervt, dass ich auf der Straße laufe. Autos fahren hier eh selten. Im Supermarkt, der nicht REWE heißt sondern einen türkischen Namen trägt, ist es leer und es gibt viel Gemüse. Noch trage ich Handschuhe (temperaturbedingt) und weiß nicht weiter: Fasse ich Gemüse an? Oder besser nicht? Bei den Konserven ist es einfacher, die staple ich behandschuht im Einkaufskorb. Dann: Kasse. Fließband: Bad, klar. Aber der Kassierer desinfiziert nach jedem Bezahlvorgang seine Hände, sodass ich ein schlechtes Gewissen bekomme: Wenn er meine Möhren anfasst und sie mir reicht, erscheint es unhöflich, sie nicht auf die gleiche Art anzunehmen. Ich bezahle trotzdem mit Karte, trage alles nach Hause und überlege, ob man Äpfel jetzt auf die gleiche Art wäscht wie Hände (20 Sekunden, Seife, 1 Refrain “I will survive”).

Ich betrachte alles, was von draußen kommt, misstrauisch und beschließe, es einfach neun Stunden lang nicht zu berühren, dann ist vielleicht alles gut. Ein Bekannter schreibt, er geht jeden Tag einkaufen und gleich auf den Wochenmarkt, denn er vermisse die Menschen. Ich halte mich davon ab, zu antworten, dass er doch bitte aus dem Fenster sehen möge, in seinem Viertel sind ständig Menschen auf der Straße, aber dann antworte ich einfach gar nicht. Ich möchte nicht übertreiben. Ich möchte nur alles richtig machen.

Ich weiß nicht, ob wir hier auch dialogisch vorgehen. Aber: Ausgangssperren sind keine Einschlussgebote. Nadja Schlüter schreibt über ihre Situation in Belgien: “Hier in Belgien ist seit heute Ausgangssperre. Und das ist ein Segen. Denn natürlich darf man raus und spazieren oder joggen – aber eben nur noch maximal zu zweit. Im Park waren viele Menschen, denn die Sonne scheint, aber alle einzeln/zu zweit und mit sehr viel Abstand. I like.”

Hier in Belgien ist seit heute Ausgangssperre. Und das ist ein Segen. Denn natürlich darf man raus und spazieren oder joggen – aber eben nur noch maximal zu zweit. Im Park waren viele Menschen, denn die Sonne scheint, aber alle einzeln/zu zweit und mit sehr viel Abstand. I like.

— Nadja Schlüter (@nadjaschlueter) March 18, 2020

 

Nabard, Bonn

Geh heute früher nach Hause. Ruh dich aus, du wirst die Kraft brauchen für die nächste Woche.“ Mit diesen Worten verabschiedeten mich die beiden Oberärzte. Ich weiß nicht ob ich mich geehrt fühlen soll so wertgeschätzt zu werden oder Angst bekommen muss weil die Docs mehr über die kommenden Tage wissen als ich. Ein anderer Oberarzt, liebevoll „Motivator“ genannt hat defacto resigniert. Ärzte die 15 Jahre + den Laden am laufen gehalten haben, senken ihre Köpfe. SARS CoVid19 ist nicht die einzige Krankheit gegen die wir kämpfen müssen. Sie kommt als Sahnehäubchen oben drauf. Und wir haben (noch) keine Waffe dagegen. Vielleicht begreife ich es eher wenn ich später selbst einen Patienten verliere. Aber es kommt mir noch so weit weg vor. Gestern stand ich am Präperiertisch, sezierte die Leiche einer 87 jährigen Spenderin. Womöglich muss ich in den kommenden Wochen erstickende Patienten intubieren. This shit scares me. It does. 

Gestern meinte ein befreundeter Zahnarzt, dass die Praxis in Urlaub geschickt wird. Wir sprachen lange, viel, über alles was uns einfiel. Unsere Studienzeit, Romanzen, Dozenten und Profs. Ich sei nicht ganz anwesend waren seine Worte zum Abschied.

Ich fahr jetzt heim, eigentlich will ich gar nicht. Die Spät- und Wochenendschicht beginnt. Sechs Docs und ne Handvoll Pflegekräfte die das ganze Haus auf dem laufenden halten müssen. Einzig erfreuliche, Patienten mit „banalen“ Symptomen meiden die Notaufnahme.  

Am Wochenende werde ich wohl das neue Album von The Weeknd rauf und runter hören. Etwas Melancholie was mich abholt. 

„Don’t regret the day we met, dont forget the time we spent, forget that we’re in different beds“#AfterHours pic.twitter.com/M5KbDki5mQ

— ˡᵘᵃⁿ (@Luanxgarcia) March 20, 2020

when Abel “and if I held you back at least I held you close”. after hours hittin pic.twitter.com/piKBUSmMNH

— 6’2 trey (@Sosasburner) March 20, 2020

abel putting hardest to love and scared to live back to back should be illegal 😭 #AfterHours pic.twitter.com/JNFCiDzzxs

— tiên 🐉 (@tnmais) March 20, 2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Da die wöchentliche Wassergymnastikstunde (mit bis zu 75 Teilnehmer:innen) bis auf Weiteres ausfällt, beschließen wir, stattdessen im Park zu spazieren. Drei Frauen sind keine Menschenmenge. Ein seltsames Unterfangen, den empfohlenen Sicherheitsabstand voneinander zu halten, während man sich unterhält. Wir füttern Vögel und Eichhörnchen, praktizieren auf einem kinderlosen Spielplatz etwas Tai Chi. Die Sonne scheint aus blauem Himmel, Bäume wiegen sich in lauem Wind, allüberall zwitschert und blüht es. Die Natur hat etwas besonders Berückendes in unsicheren Zeiten.

Eine von uns ist Malerin und erzählt davon, dass alle Galerien, die sie ausstellen, geschlossen haben; ein für den Spätsommer geplantes Kunstfestival ist schon abgesagt. Gut, dass sie gespart hat, meint sie, und stellt sich innerlich darauf ein, diesen Sommer im Garten statt vor ihrer Staffelei zu verbringen. Das Problem ist auch mir vertraut. Seit Wochen warte ich darauf, dass mir eine Klientin einen zugesagten Auftrag zuschickt. Drängen kann und mag ich sie nicht – sie hat Familie in Italien.

Inzwischen haben viele Bibliotheken geschlossen, teilweise bis Juni. Theater, Kinos, Museen, Konzerthallen – das kulturelle Leben bricht weg. Was aber ist mit den Künstler:innen – viele freischaffend, ohne festen Vertrag? Sollen sie sich jetzt alle arbeitslos melden, weil das Gesundheitswesen über Jahrzehnte kaputtgespart wurde und der Brexit den bereits bestehenden Personalmangel noch verstärkt hat? Die hiesige Diskussion zur wirtschaftlichen Situation von Freiberuflern bzw. Selbständigen – ca. 5 Millionen Menschen in Großbritannien – hat gerade erst begonnen. Auch mein Mann und ich gehören zu dieser Gruppe.

 

Slata, München

Eigentlich ändert sich ja kaum was, nur, dass Begegnungen nun offiziell verboten werden, davor nur gemieden, aus freiwilliger Motivation heraus, jetzt haben es alle verstanden, dass Begegnungen unangenehm, verdächtig, gefährlich sind, wie ein Freund neulich schrieb, Ich bin ja sowieso immer in Quarantäne. Der Tag zieht sich vor sich hin, unförmig und seltsam, die Zeit lässt sich vom Stundenplan ablesen, den wir am Anfang erstellt, feierlich auf den Kühlschrank geklebt haben, naiv sind wir gewesen, Frühstück, Arbeit, Spielen, Mittag, Arbeit, Spielen, Abendessen, Schlafen, wer macht eigentlich das Essen und wer räumt ab und wird das von der Arbeitszeit abgezogen. Die Sonne brennt durch die Jalousien im Schlafzimmer, auf dem Bett hocke ich zwischen Büchern und Zetteln, auf diesem Bett schlafe ich, sitze ich, schreibe ich, manchmal liegen wir zusammen drauf, ein Ort für alles, für alle Umstände des Lebens. Etwas Wichtiges vollzieht sich gerade, unsichtbar, kaum spürbar, eine ungemeine Veränderung liegt in der Luft, verteilt sich im Land, wir werden auf Probe gesetzt, ob wir uns sagen lassen, wann wir unser Haus verlassen dürfen, ob wir uns zurechtweisen lassen, ehrliche Auskunft geben über Ziel und Zweck unserer Bewegungen außerhalb der Wohnung.      

‒ Ich rufe Oma stets mit einer wohltätigen Mission an, um ihr zu zeigen, dass sich jemand an sie erinnert, ihr treu bleibt, um ihr die Möglichkeit zu geben, in Schwärmereien zu versinken, zugehört zu werden, und merke jedes Mal, dass sie von meinem taktvollen Schweigen müde wird und nach einem Anlass sucht, den Hörer aufzulegen. Oma klingt heiter, sie freut sich über die Deutschen, die Klopapier kaufen und in ihren Wohnungen stapeln, was wollen die denn nur damit. Sowas, sagt sie, Na sowas hab ich ja noch nie erlebt, Und ich hab schon vieles erlebt, und ich versuche mich zu erinnern, wie alt sie eigentlich ist. Oma sagt, Ich habe ja sowieso nichts zu verlieren, und da sie nicht aufstehen kann, kann sie auch keine Türklinken desinfizieren oder eineinhalb Meter Distanz zu ihren Krankenschwestern einhalten, sie atmet schwer genug, um sich Gesichtsmasken aufzusetzen, sie liegt Tag für Tag vor dem Fernseher und beobachtet das Wetter aus den Fenstern. Ich denke auch, dass sie nichts zu verlieren hat, und freue mich darüber, dass sie heiter klingt.

 

Viktor, Frankfurt

Vor einige Zeit das Buch “Never Split the Difference/ Negotiating As If Your Life Depended on It” (Chris Voss, Thal Raz) gelesen. Ein ehemaliger US-Spezialist für Verhandlungen bei Geiselnahmen schreibt darin über grundlegende zwischenmenschliche Kommunikationmechanismen. Mehrfach macht er deutlich, dass wir in Krisen so gut verhandeln/sie meistern können, wie gut wir vorbereitet sind. Aktuell merke ich auf verschiedenen Ebenen die Corona-Stresstests: die technische Infrastruktur der Gesellschaft, die Arbeitsabläufe im Job, die privaten Beziehungen. Alles beeinflusst sich gegen- und wechselseitig. Und ich merke, das wir mit dem Stress immer nur so gut umgehen können, wie gut wir auf die Notsituationen vorbereitet sind.

Strukturen helfen. Manchmal ist es einfacher, sich welche zu geben, manchmal schwieriger. Wer gesund ist, keine innerfamiliären Probleme hat, kann sie leichter einhalten. Wer sowieso in einem stressigen Alltag steckt, kann den jetzt vermutlich erst recht nur schwer strukturieren.

 

Academic peeps: I’ve lived through many disasters. Here is my advice on „productivity“. First, play the long game. Your peers who are trying to work as normal right now are going to burn out fast. They’re doomed. Make a plan with a longer vision. /1

— Dr Aisha Ahmad (@ProfAishaAhmad) March 18, 2020

Hier eine schnelle Übersetzung:
1. Man muss einsehen, dass Isolation keine Strafe des Himmels ist, sondern ein Moment der Wahrheit. Nehmen Sie die Isolation als ein Geschenk des Schicksals an. https://t.co/6T2CzhLNWA

— Viktor Funk (@Viktor_Funk) March 20, 2020

 

Sandra, Berlin

Die Manuskriptabgabe rückt näher, lässt mich Abstand suchen zu dem, was draußen in der Welt vor meinem Fenster geschieht. Ich igle mich ein, verschiebe Sätze, Wörter, Bedeutungen, sortiere Szenen neu. Gleich hinter der Tür meines Arbeitszimmers spielt das Kind, tippt mein Partner an seinem Arbeitsplatz auf seiner Tastatur, telefoniert, wartet auf den Beginn von Online-Meetings. Auch die Nachrichten von Freund_innen aus verschiedenen Teilen der Welt holen mich immer wieder zurück in die Realität. In der digitalen Welt tobt der Streit pro und contra Ausgangsbeschränkungen in Berlin, die in Wien, wo ich herkomme, schon seit Tagen analoge Realität sind. Die Spielplätze in unserem Kiez sind seit heute morgen gesperrt, und ich denke, dass das gut ist. Also gehen wir auf den Friedhof um die Ecke, wo es Singvögel, Spechte und Eichhörnchen gibt, in einen versteckt liegenden Teil, wo Bienenstöcke auf einer Lichtung stehen. Ich sehe zu, dass das Kind nicht über die Gräber läuft, wir suchen lange Stecken und stochern im Laub, in den trockenen Böden der Wasserbecken, vergessen die Zeit. Das Kind scheint nicht müde zu werden, sobald wir vom Spaziergang zurückkommen, will es schon wieder am Fenster stehen, mein Partner übernimmt, ich schließe die Tür zu meinem Arbeitszimmer wieder vor der Welt, sehe noch, wie sie gemeinsam beobachten, das Kind deutet und mein Partner benennt, was sie sehen: Ein Vogel. Ein Rad. Ein Lastwagen. Ein Auto. Ein Mann. Noch einer. Eine Frau. Ein Moped. Ein offenes Fenster. Ein Kind. 

  

Svenja, Köln

Wir haben einen Antrag geschrieben. Wir haben ein Abstract geschrieben. Ich habe einen Granatapfel entkernt und Kerzen angezündet. Es ist schon wieder dunkel. Alles dauert merkwürdig lange.

 

Emily, Rostock

Ich bin gern zuhause, lieber dort als irgendwo sonst, und trotzdem stehe ich jetzt am geöffneten Fenster und schaue in Richtung der Jugendlichen, die in der Deckung der Unterführung rauchen. Ich bin unsicher, ob ich ihnen etwas zurufen soll, fluchen, um sie auseinanderzutreiben. Stattdessen starre ich nur vor mich hin. Gestern die lokale Schlagzeile „Gruppe von Jugendlichen fährt aus Langeweile Bus“. 

Der Hausmeister trägt jetzt dünne Plastikhandschuhe, wenn er den Müll in den Tonnen auf dem Gehweg umschichtet. Wer unsere Haustür seit Montag abschließt, weiß ich nicht. 

Jeden Morgen stehe ich zwischen sechs und sieben auf. Ich habe mich seit Jahren nicht so gut ernährt. Ich habe meine Großmutter seit Jahren nicht so regelmäßig angerufen. Ich habe mich noch nie zuvor zum Morgensport aufraffen können. Ich bemühe mich um Optimismus, der nicht meine Art ist und träume wie man meinem Vater die Schlafmaske abnimmt, um einem Schäferhund das Atmen zu erleichtern. 

Beim Spaziergang am Hafen zähle ich die zufriedenen Gesichter der Angler. Sie hören leise Musik und fangen dennoch Fische. Ich lächele einem Mann zu, dessen Sohn neben ihm auf dem Asphalt schläft. Er deutet auf das Wasser und sagt, dass er sobald nicht einkaufen gehen muss. Und ich fühle mich beruhigt. 

 

Berit, Greifswald

Ich habe angefangen zu husten. Wir haben Brettspiele gespielt, ein wenig gearbeitet – es war ein guter Tag, aber ich bin dennoch dünnhäutiger als sonst. Vielleicht ist es der Husten. Wir sind jetzt eine Woche zu Hause, die Zeit fühlt sich länger an. Ich lese in diesem Tagebuch und es beruhigt mich, die Gedanken der anderen zu sehen, mich in eine Menge menschlicher Erfahrung eingefügt zu wissen. Wie ein Mosaiksteinchen in einer Krise, deren Gesamtbild noch gar nicht zu erahnen ist. Mein Kind hustet im Schlaf. Hoffentlich verschwindet dieser Infekt bald.

Der erste Monat Homeschooling war jetzt gar nicht so schlimm.

— Anatol Stefanowitsch (@astefanowitsch) March 20, 2020

 

21.3.2020

 

Jan, Hannover

Liebes Tagebuch, lass uns über Angst reden. Ich bin für gewöhnlich ein ziemlich ängste- oder zumindest sorgengetriebener Mensch. Ich kann nicht gut Dinge tun, ohne Konsequenzen zu bedenken und potentielle Gefahren zu wittern. Ich bin jemand, der notwendige Entscheidungen wie ein Risikomanager in endlosen Optionsbäumen zerdenkt. Obacht geben, länger leben. Szenarien, Sprachregelungen. Immerhin habe ich diese «Fähigkeit» beruflich nutzbar und daraus eine Karriere machen können (und diese beendet, weil ich das nicht mehr wollte). Selbst die schönsten Momente und Erfolge im Leben sind für mich ein fröhlich sprudelnder Quell neuer Zweifel und düster gründelnder Grübelei. In jedes Gelingen ist ein späteres Scheitern stets schon eingeschrieben, selbst wenn es nie kommt.

Ich habe immer die Menschen um mich herum beneidet, die überwiegend zur unbeschwerten «Ach, wird schon!»-Fraktion gehören und damit ja meist auch noch recht behalten. Ich habe versucht, mir davon etwas abzugucken, aber dann meist doch nur darüber gegrübelt, warum es nicht klappt.

Es klingt vielleicht ein bisschen arschig, aber jetzt, in times of Corona, da die Angst plötzlich überall um sich greift und immer mehr Menschen erfasst, fühle ich mich damit weniger allein, weniger als Außenseiter, der sich für seine düsteren doom-&-gloom-Momente, für seine mangelnde Fähigkeit zur Unbeschwertheit insgeheim schämt. Ein bisschen ist es so wie in dem berühmten Satz von Hunter S. Thompson: «When the going gets weird the weird turn pro.» Wenn überall Angst und Grübelei um sich greifen, fühlen sich die Ängstlichen und Grübler*innen vielleicht weniger sonderbar. 

Und es geht sogar noch weiter: Jetzt, da alle grübeln und Sorgen wälzen, habe ich das seltsame Gefühl, dass ich es endlich etwas lockerer angehen kann. Ich spüre, dass ich zwar nicht sorglos bin, aber deutlich gelassener als noch vor ein paar Wochen. Es ist fast so, als würde jemand sagen: Thanks for all the anxiety so far, but we’ll take it from here. Wir sind mit unserer Angst nicht mehr allein, wir reden darüber, das hat etwas befreiendes. Welcome to Angstville.

Aber ich mache mir keine Illusionen, irgendwann wird sich alles wieder einpendeln, das Leben wird weitergehen, zurück in die alte Normalität finden oder in eine neue Normalität münden. Das Unbeschwerte wird in die Leben zurückkehren. Und das mag hoffnungsvoll klingen und sein, aber es bedeutet eben auch, dass irgendwann auch die Grübelscham zurückkommen wird.

 

Birte, Darmstadt

Heute ist Welttag der Poesie. Die Vorstellung, aus etwas Traurigem, Anstrengendem, Verzweifeltem kann etwas Schönes, Verzauberndes entstehen, wenn andere Schmerz und Anstrengung so sublimieren können, gelingt mir das auch, irgendwann, irgendwie, sie hält mich schon lang.

Ich habe heute dieses Gedicht von Rumi (1207-1273) gefunden, übersetzt von Coleman Barks. Ich finde es passt.

The Guest House

This being human is a guest house.
Every morning a new arrival.

A joy, a depression, a meanness,
some momentary awareness comes
As an unexpected visitor.

Welcome and entertain them all!
Even if they’re a crowd of sorrows,
who violently sweep your house
empty of its furniture,
still treat each guest honorably.
He may be clearing you out
for some new delight.

The dark thought, the shame, the malice,
meet them at the door laughing,
and invite them in.

Be grateful for whoever comes,
because each has been sent
as a guide from beyond.

Auf Twitter folge ich Comfort-Accounts wie @yearinShetland, @PastPostcard und @HillFarmBnB. Außerdem habe ich angefangen, Meeresrauschenvideos zu sammeln. 

pic.twitter.com/fVy0N33Sf7

— Silke Horstkotte (@shorstkotte) March 21, 2020

Ausbalancieren, was geschieht und nicht geschieht, wie das Denken nur noch bis zum nächsten Tag geht. Wir alle müssen unsere Beobachtungen wohl irgendwie verwandeln, gerade habe ich gedacht, wie gut man an Covid-19 Ereignis und Struktur erklären könnte. Um gleich wieder zu wissen: wenn wir gemeinsam nachdenken, dann vielleicht gerade nicht darüber.

 

Simon, Vorort von Freiburg

Seit heute morgen habe ich das Gefühl, dass sich etwas einspielt im Ausnahmezustand. Seit zwei Tagen bin ich mit meiner Freundin in der Wohnung eines Freundes in einem Vorort von Freiburg. Hier haben wir mehr Platz als in meiner 24qm Wohnung, in der nur das Bad abgetrennt ist vom Küche/Wohn/Schlafzimmer. Ich bin etwas ruhiger geworden, aber immer alles im Verhältnis zur Situation – von innerer Ruhe kann per se keine Rede sein. Heute klappt zum ersten mal eine Art von Arbeiten ein bisschen. Ich schwanke zwischen Sorge, Beruhigung und schlechtem Gewissen, weil ich in einer sehr privilegierten Situation bin und trotzdem Angst habe, unsicher bin und besorgt um meine Familie, meine Freund*innen, von denen es manchen schlechter und anderen genauso gut geht. Gleichzeitig habe ich in Chemotherapie gelernt, dass Angst und Sorge immer relativ sind und nichts, wofür man sich entschuldigen muss. Das Wetter ist heute passender zur Situation. Gestern beim Spaziergang in der prallen Frühlingssonne kam mir das alles wieder so surreal vor. Mein Hals kratzt seit über einer Woche tagsüber manchmal ganz leicht, leichtes Husten bilde ich mir auch seit einer Woche ein und höre auf meinen Atem. Am meisten Angst machen mir Prognosen, die von Monaten und “einem Jahr” sprechen – ich kann mir das nicht vorstellen, es ist in meinem Kopf nicht als Realität umsetzbar. Ich lese mal weiter einen literaturwissenschaftlichen Text…als wäre nichts. 

 

Svenja, Köln

Ich kann keine Nachrichten mehr beantworten. Ich will nicht mehr ans Telefon gehen. Ich reagiere nicht mehr auf Emails. Ich kenne dieses Reaktionsmuster von mir: Wenn mich über längere Zeit ein Gefühl oder ein Problem beschäftigt, kann ich nur so oft darüber sprechen. Wenn es sich dann immer noch nicht gelöst hat, will ich es nicht weiter thematisieren. Problemgefühle kommen an die Oberfläche wenn es ein Gegenüber gibt und mein diffus durch die Wohnung waberndes Ich eine Form annehmen muss. Wenn ich alleine bin, kann es mit medialen Fiktionen (Podcast, Serien, Bücher) verschwimmen, notwendige oder neurotische Alltagshandlungen ausführen und dabei sich selbst vergessen.

Ich versuche zum dritten Mal an diesem Morgen, alle Edelstahloberflächen von Wasserrändern zu reinigen. Ich, dass das eine Kompensationshandlung ist und ich gerade etwas im Außen zu kontrollieren versuche, was ich im Inneren nicht in den Griff bekomme.

Es ist ein Wochenende und ich weiß nicht, wie man Wochenende macht.

 

Shida

Gestern war Eyde Nouruz. Das Neujahrsfest, das man unter Anderem in Iran und in den kurdischen Gebieten feiert, das Fest, das ich mit Familie, mächtig guter Laune, Essen, Küssen, neuen Kleidern, Geld und irgendwo am Rande mit Widerstand verbinde (und dabei kenne ich nur die Exil-Version davon). Gestern habe ich mir den ganzen Tag gewünscht, es wäre einfach kein Nouruz. Ich blocke alle Gedanken an die Situation in Iran, wo man Massengräber für die Corona-Toten aushebt, ab; ich blocke alle Gedanken an kurdische Menschen in den Krisenregionen einer rassistischen Weltpolitik ab, ich kann nicht, ich kann das nicht, ich bin gerade nicht stark genug für die Realität. Ich sitze also in dieser luxuriösen Isolation und wünsche mir, es sei einfach kein Nouruz.

Wir besuchen natürlich nicht meine Eltern, wir bleiben zu Hause und improvisieren einen Haft Sin, den „Gabentisch“, wir haben ganz gute Ideen, wie wir die Hälfte der Gaben mit etwas Vergleichbarem ersetzen. Das aber, was den Tisch erst zu einem Hoffnungsträger und Symbol des Frühlings macht, fehlt. B. macht mehrmals den Versuch, vorzuschlagen, Hyazinthen zu kaufen. Er verpackt es geschickt mit anderen halbwegs wichtigen Erledigungen, die man doch mal machen könnte. Er macht das, weil er denkt, dass ich mich über Hyazinthen so richtig freuen würde. Würde ich ja auch. Aber nicht unter diesen Umständen. Ich sage, Hyazinthen gehören nicht zu den lebensnotwendigen Dingen. Am Ende stellen wir einen klobigen Blumentopf von der Fensterbank auf unseren Gabentisch. Der Tisch sieht jetzt bewaldet aus, überwuchert, ich mag das irgendwie. Dieses Improvisieren macht Spaß, tröstet auf merkwürdige Art. Wenn der ganze Spuk vorbei ist, denke ich, wenn die Folgen nicht so schlimm waren, wie ich es jetzt befürchte, dann werden wir an diese Tage zurückdenken und sie gemütlich finden. Ein paar Minuten später revidiere ich das wiederum als mein persönliches, privates Privileg, so zu denken, denn nicht jede*r wohnt in den menschlichen Konstellationen, die gut tun. Ich lese von der Zahl der häuslichen Gewalt, die bei Isolation steigt und mir wird schlecht.

Bei jedem Anruf, der an diesem Neujahrstag folgt, wird mir klar, dass meine Phantasie nicht ausreicht, die einzelnen, unmittelbaren Folgen dieser Krise für andere auszurechnen. Klar kann ich ganz toll zu Hause bleiben und mich wundern, dass das nicht allen klar ist, dass man das macht. Andere aber müssen jeden Tag zur Arbeit, wo sie Tisch an Tisch mit fünf anderen Leuten Viren und sinnlose Tätigkeiten austauschen und verstehen natürlich nicht, warum sie nachmittags plötzlich isoliert sein sollen. Die Schließung von Schulen und Kitas, die vor 8 Tagen angekündigt wurde, hat allen Erwachsenen, die davon betroffen sind, einen großen Dienst erwiesen: Sie haben den Ernst der Lage sehr viel schneller einsehen MÜSSEN (zumindest theoretisch). Alle anderen, die ihn früh verstanden haben, imponieren mir.

Ich fühle seit gestern meine Lunge, sie fühlt sich an wie eine Raucherkneipe vor Corona. Ich frage mich, ob ich meine Lunge immer spüre und nur jetzt auf sie sensibilisiert bin. Oder ob meine Lunge gerade hart am Ackern ist, sich gegen Eindringlinge zu wehren versucht. Klar kriegen wir den Virus fast alle. Aber ich hätte ihn gerne erst viel, viel später. Irgendwann, wenn Kranksein wieder gemütlich ist.

Vor ein paar Tagen schrieb Svenja, dass sie Serien schaut und sich dabei um die Figuren sorgt – warum treffen die sich, warum halten die keinen Abstand und so. Das fand ich lustig, denn genau das Gleiche dachte ich beim Seriengucken auch. Gestern war der erste Tag, an dem das bei mir aufhörte. Gestern schaute ich Serien und hatte offenbar endlich verstanden: Die echte Welt ist gerade diese, die fiktive ist die andere. Ich habe die Situation wohl verinnerlicht und verstanden und kann sie von den Serien trennen. Man könnte auch sagen: Ich habe mich daran gewöhnt.

 

Andrea, Tübingen

Bevor wir gestern Abend zum Einkaufen gegangen sind, haben wir überlegt: Wohin? Dabei ging es zum ersten Mal nicht ums Angebot, sondern um die Räumlichkeiten: Welcher Supermarkt hat die breitesten Gänge? Wo hat man voraussichtlich bei der Flaschenrückgabe am wenigsten Kontakt – oder umgekehrt: Wo ist uns der Raum zu eng?. Dann: Handschuhe mitnehmen. Das wird Routine werden, aber noch steigert das alles meine innere Unruhe. 

Seit gestern bin ich zugleich ziemlich stetig beschäftigt, weil ich mit den Kolleg*innen Paula-Irene Villa Braslavsky und Ruth Mayer einen offenen Brief gestartet habe zu den Bedingungen, unter denen das Sommersemester stattfindet oder besser: stattfinden sollte. Wir waren selbstverständlich überzeugt, dass die Fragen, die uns umtreiben, auch andere beschäftigen, aber mit dieser Resonanz haben wir nicht gerechnet. Es ist überwältigend, und das tut gut. Viele unterschreiben nicht nur, sondern bedanken sich auch und schildern ihre konkrete Situation und strukturelle Probleme, die sie im Brief wiederfinden. Eine Nachricht kam von einer ehemaligen Studentin, die nun an der Uni Dozentin ist, und eine von einem Dozenten, bei dem ich studiert habe, das war beide Male ein netter Austausch! Kritik gibt es selbstverständlich auch, glücklicherweise meistens ernsthaft und nur selten ärgerlich-albern, etwa als jemand mir schrieb, dass er sich von unserem Brief distanziert. Als müsse man mir gegenüber Ablehnung bekunden statt einfach nicht zu unterschreiben. Aber das ist wie bei den Evaluationen der Lehre: Sie können insgesamt noch so gut sein, vereinzelte seltsame Kommentare gehen einem immer lange nach.

Im Hintergrund laufen weiter die Nachrichten über die Ausgangsbegrenzungen und/oder Ausgangssperren. Seit gestern scheint mir, dass die “die Demokratie ist in Gefahr”-Wortmeldungen stark zugenommen haben. Mir ist wirklich unklar, wie man die Priorisierung von Gesundheit so framen kann. Als ob der Ausnahmezustand, den wir jetzt haben und der klar begründet ist, ein Vorschein des Totalitarismus wäre, der auf uns wartet. Ja, man muss da kritisch hinschauen, und gerade was die Migrations- und Asylpolitik angeht, ist im Moment alles alles alles verheerend! Aber deshalb sollte man keine Demokratiekrise herbeireden. Mir ist da viel zu viel slippery slope zu Verschwörungstheorien drin.

Jetzt weiter Mails abarbeiten!

 

Slata, München

Ich stelle mir vor, dass alles weitergeht, weiterzieht, wie eine alte Lokomotive vorbeiraucht, und ich liege immer noch da im Bett um acht Uhr morgens und denke, dass ich dem Tag nicht gewachsen bin, begebe mich wankend ins Bad, dusche, rasiere, schminke mich, begebe mich in die Küche, trinke Tee, zwei, drei, vier Gläser. Gestern beschlossen wir, Schluss mit gesunder Ernährung zu machen, ich beschloss, meine Diäten zu brechen. Gestern haben wir drei Bleche voll Gebäck gemacht, Quarkteig mit einer Füllung aus Zucker, das Rezept soll von meiner Urgroßmutter sein und ich stelle es mir als eine Art Nachkriegserbe vor, so minimalistisch die Zutaten, wir nehmen aber Rohrohrzucker und schütten Vanillin zum Mehl dazu, ich esse alles Übriggebliebene davon zum Frühstück, stopfe es in den Mund hinein.

 

Matthias, Jena

Ich habe es jetzt auch gesehen, das Symbolbild unserer Tage, und zwar in gleich zwei verschiedenen Supermärkten: das leere Toilettenpapier-Regal. Anscheinend hält jetzt schon seit Wochen die Situation an, dass sehr viel auf Vorrat gekauft wird, und ich frage mich: Wie viel kaufen die Leute denn alle? Stapeln die sich alle ihre Keller voll? Wie lang kann das so weitergehen, irgendwann müssen doch alle so viel gekauft haben, wie es geht?

Die Atmosphäre im Supermarkt ist gedrückt. Es ist in Deutschland ohnehin so, dass es sehr einfach ist, in der Öffentlichkeit aufzufallen, anzuecken, verdächtigend beäugt zu werden, und die Möglichkeiten dafür haben sich jetzt natürlich noch vervielfacht. Laute, nörgelige und/oder angetrunkene Menschen, die sich an einem Samstagabend vor dem Netto aufhalten, wirken noch auffälliger als sonst. Ich fühle mich von den lachenden und schimpfenden Menschen belächelt, wahrscheinlich, weil ich sozialmedial aufgeschnappt habe, dass es dieser Tage hier und da Spott über Leute gegeben hat, die sich Mühe geben, sich an die Regeln zu halten.

Meine Frau berichtet, dass in lokalen Facebook-Gruppen Verschwörungstheorien umlaufen, mit erstaunlicher Konkretion. Da wird SARS-CoV2 zum Hebel, den nicht irgendwelche finsteren internationalen Mächte, sondern ganz konkret der Jenaer Oberbürgermeister ansetzt. Hier im Viertel wird gerade eine Schule wegen einer anstehenden Sanierung temporär in ein leerstehendes Schulgebäude umgezogen. Eigentlich sollte das im laufenden Betrieb sukzessive passieren, jetzt wurde es, da die Schulen ja geschlossen sind, binnen Tagen durchgeführt. Einer der typischen Lokalgruppen-Trolle, der den Umzug gesehen haben muss, fragt auf Facebook »besorgt«, was denn in der ehemaligen Schule »eingelagert« worden sei. Man möchte aktuell noch weniger in der Haut wahnhaft Denkender stecken als sonst.

 

Rike, Köln-Vorort Refrath

Seit Mittwoch ist jetzt immer Samstag. Die Kölner Verkehrsbetriebe haben eine neue Zeitrechnung für uns angefangen.

+++ KVB fährt ab Mittwoch nach Samstagsfahrplan +++ Der Krisenstab der Stadt Köln hat eben beschlossen, dass wir ab dem 18.03.2020 nach Samstagsfahrplan fahren! Details und weitere Maßnahmen findet Ihr unter – https://t.co/SAcDwOMv73 – Bleibt gesund und achtet auf Euch & Andere! pic.twitter.com/afrf0xVrP2

— KVB AG (@KVBAG) March 14, 2020

Bald gibt es wieder verschiedene Lokalzeiten in Deutschland. Köln wird die Samstagsstadt ohne Nachtbetrieb. Der ewige Samstag.

Seite heute: milde Formen von Ausgangssperre. 2+2 werden sich alle Grundschulkinder und Freibad- und Abiturjugendliche gut merken können, die bis gestern noch mit ihren Boomboxen fröhlich durch den Park getingelt sind: Nicht mehr als 2 (Menschen), nicht weniger als 2 (meter physische Distanz). 2+2. Die Grundschulkinder scheinen sich das besser merken zu können als die Jugendlichen. Die werden jetzt geshamed.
Sonja sagt, in der Stadt kann sie jetzt nur noch Slalom gehen.
Warum sprechen alle so dystopisch von sozialer Distanz, die wir jetzt neu überbrücken müssen? Geht es nicht um physische Distanz? Ist es so etwas Neues?

Versuch 1: Ich chatte das erste mal Video mit meiner Mutter, sie ist so froh mich an der Strippe zu haben, wie sie sagt, dass sie rangeht, obwohl sie gerade das letzte Fenster putzt. Ich tauche ein in ihre Frisur und zähle neue graue Strähnen. Corona ist Perspektiv-Erweiterung.
Heute scheint der Tag zu sein, an dem vermehrt der Fensterputztrend losgegangen ist, vielleicht liegt es am blauen Himmel über Mehrteiligdeutschland. Außer in Stuttgart, da schneit es angeblich. Immerhin gibt es doch noch Schnee. 

Mein Vater erzählt mir leidenschaftlich davon, wie er ein Eichhörnchen dabei beobachtet hat, wie es vom Efeu in den Ahorn gesprungen ist, waghalsig so weit, mein Vater sagt: ich habe den Mund nicht mehr zubekommen. Er erzählt mir noch von allen Vögeln, die er heute gesehen hat und über die Streits mit meiner Mutter darüber, wer welche Vogelart richtig identifiziert hat (Vater versus Mutter 1:0. besser als kein Fußball). Sie sind seit einem fast halben Jahrhundert zusammen und gemeinsam in Rente, sie wissen, wie es funktioniert, gemeinsam allein zu sein und nicht durchzudrehen. Ich muss mir bei ihnen keine Sorge um #häusliche Gewalt machen, nur über die Gesundheit.
Ich bin froh, dass mein Bruder es übernommen hat, meine Mutter fürs auf-den-Markt-gehen-weil-sie-nicht-auf-den-Fisch-verzichten-will zu rügen, ich hau aber auch noch mal drauf und sage, dass es kein Argument ist, Fisch auf dem Markt zu holen, weil der so gesund ist. 

Fische im Canal Grande war leider auch dann doch wieder nur Fake News. Bei meiner Recherche lande ich auf einer Seite, die nur positive Nachrichten schreibt und bleibe dran kleben. Ich backe einen Zitronenkuchen für meine 9er-WG und erhalte Beifall, dabei hat es nichts mit wirklicher Arbeit zu tun. Ich fantasiere darüber, auf chefkoch.de einen Rezeptvorschlag für eine Mehl-Klopapierschichttorte hochzuladen, lasse es dann aber sein, es gibt Wichtigeres. Auf change.org kann man jetzt für das bedingungslose Grundeinkommen unterschreiben, 5 minuten Zeit. Die habe ich jetzt, ich bin eins der privilegierten weißen Toastbrote mit Gartenauslauf. Die Geflüchteten an der Grenze sind immer noch da, wo sie sind. Ich sehe keine andere Möglichkeit gerade, als zu spenden und Politiker böse Emails zu schreiben zusammen mit anderen. Meine Mitbewohnerin malt im Garten auf ein Bettlaken den hashtag wirhabengenugplatz. Ich bedanke mich bei ihr für die Arbeit. Sich bedanken wird gerade ein neuer positiver Trend. Allerdings brauchen die Pflegekräfte nicht nur ein Danke sondern bessere Arbeitsbedingungen, merkt eine Pflegerin bei Twitter an.  Coronazeit ist vielleicht Zeit für Netzaktivismus, obwohl ich nicht richtig an Netzaktivismus geglaubt habe bist jetzt, aber es braucht neue Formen von Protest. Zoom-Demos mit 200 Aktivisten vor ihren Bildschirmen zuhause.

PS: Heute morgen: Eine Frau mit einer beflaumten Glatze wie eine junge Taube und Atemschutzmaske an der Kasse sagt zu dem Kassierer das find ich aber gut, dass Sie das mit den Markierungen auf den Boden geklebt haben. Der Mann sagt ja, gerne, 4,95. Ich muss schnell meine nassen Augen wegblinzeln um mir nicht ins Gesicht zu fassen. Ich bin zu nah am Wasser gebaut. Bloß nicht ins Gesicht fassen üben. 

Corona ist Bedachtsamkeitsübungen.
Eine Plexiglasscheibe trennt mich von der Kassiererin. Sie wünscht mir noch ein schönes Wochenende. Ich bedanke mich. Eigentlich fühle ich mich ihr näher als sonst. 

 

Marie Isabel, Dunfermline

Die irische An Post wird in den nächsten Tagen jedem Haushalt kostenlose, frankierte Postkarten zustellen, die an Adressaten im ganzen Land verschickt werden können: ‘The written word is a powerful thing, so embrace it and come together’, heißt es begleitend.

 

Over the coming days An Post will be dropping postcards to your homes that you can send anywhere in Ireland for free. The written word is a powerful thing, so embrace it and come together 💌 #WriteNowhttps://t.co/JtCk4h7lrC pic.twitter.com/n3DyJQN4s0

— An Post (@Postvox) March 20, 2020

Eine gute Werbeaktion, klar, aber mit ernsthaften Kern. Denn, anders als ihre virtuellen Abkömmlinge – Email, WhatsApp, Tweet, etc. – speichern und vermitteln materielle Kommunikationsträger wie Postkarten und Briefe mehr als nur eine Nachricht: Die Handschrift der Absender:in ist nur eine Körperspur neben anderen; man denke an Kaffeeflecken, Tränenspuren, Fingerabdrücke … Postkarten und Briefe werden gehandhabt, adressiert, vielleicht verziert, laufen mit der Post über weite Distanzen, tragen das Nahe in die Ferne und geben den Empfänger:innen etwas, woran sie sich festhalten können, ein Objekt, dessen haptische und optische Qualitäten über lange Zeit zu trösten vermögen.

Über Briefe in Zeiten von Covid-19 dachte ich schon ein paar Tage nach, als Angela Merkel in ihrer jüngsten Ansprache zum Thema bemerkte, dass mancher (neben anderen Kommunikationsformen) vielleicht mal wieder auf den Brief kommen werde. In Krisen- und das heißt auch in Krankheitszeiten gewinnen Formen schriftlicher Kommunikation an Bedeutung – und werden teilweise einer eigenen ‚Behandlung‘ unterworfen (zu beobachten etwa am Beispiel überlieferter Cholerabriefe aus dem frühen 19. Jahrhundert).

Nun plane ich also Briefe, Postkarten – und Pakete – für liebe Menschen. Außerdem habe ich (denn wozu sich auf ein Medium beschränken) heute morgen eine neue WhatsApp-Gruppe für alte Freunde gestartet, die mittlerweile mit Kind und Kegel über ganz Deutschland verstreut sind. Die familiäre WhatsApp-Gruppe wird ab jetzt häufiger nach dem Wohlbefinden befragt (mehrere Verwandte arbeiten im Gesundheitswesen). Eine mentale Telefonliste ist in Arbeit. Am Ende weiß ich jedoch: Alles, was per Schneckenpost rausgeht, wird den Empfänger:innen eine besondere, begreifbare Freude machen.

 

22.3.2020

 

Andrea, Tübingen

Seit kurz vor 8 arbeite ich wieder die Mails ab. Aber ich habe mir auch schon  den Roman “Pixeltänzer” von Berit Glanz rausgelegt, um später die Laudatio von Hanna Engelmaier zum Friedrich-Hebbel-Preis in angemessener Begleitung auf dem Sofa anhören zu können.

Ich poste morgen um 11h hier ein Video über meinen Twitteraccount, falls die Datei zu groß sein sollte, verlinke ich es. Ich bereite gerade die Aufzeichnung vor!

— Hanna Engelmeier (@HannaEngelmeier) March 21, 2020

 

Viktor, Frankfurt

Mein Nachbar ist selbstständiger Optiker mit zwei Mitarbeiterinnen, ich habe ihn noch nie so viel rauchen sehen wie in diesen Tagen. Unser Gespräch – zwei Meter Abstand – dreht sich um Ungewissheiten und Unsicherheiten, er weiß nicht, wie er ein halbes Jahr in diesem Zustand durchhalten kann, denn “Machen wir uns nichts vor, das dauert alle noch viel länger.” Ein Kunde schrieb, dass er seinen Job verloren und die neue Brille nicht abholen kann. Die Mitarbeiterinnen sollen zu Hause bleiben, für sie will der Nachbar Kurzarbeitergeld “mit Null Stunden” beantragen. Seine ganze Existenz und das ganze Familienleben (fünf Menschen) hängen im Moment an dem Laden. Und mehr als der momentane materielle Verlust quält ihn die Unsicherheit. 

Wen quält sie nicht. 

Passenderweise lese ich gerade “Suleika öffnet die Augen” (Gusel Jachina), der Roman handelt vom Leben einer jungen Tatarin im Süden der Sowjetunion der 20er/30er Jahre, einer Zeit heute unvorstellbarer Umbrüche, in der die Gesetze von heute morgen nichts mehr galten und die Machthabenden heute die Macht morgen schon wieder verlieren konnten.   

„Unwissen ist schmerzhaft, langes Warten – quälend.“ Aus: Suleika öffnet die Augen, Gusel Jachina.

— Viktor Funk (@Viktor_Funk) March 21, 2020

Mich interessierte das Thema ”Unsicherheit” schon lange vor der Corona-Krise. Das hat sehr viel mit meiner Kindheit und Jugend zu tun, mit der Unberechenbarkeit, die ich sehr lange in unterschiedlichsten Kontexten um mich herum erlebt hatte. Unsicherheit kann die Sinne schärfen, kann empfänglich und empfindsam machen, kann aber auch nachhaltig schaden. Ich hatte immer wieder das Glück, dass es Menschen und Phasen gab, die am Ende so etwas wie eine sichere Basis mir halfen aufzubauen, eine Art Sicherheitsinsel für den großen, unsicheren Ozean Leben. Manchmal erscheint mir die Insel groß, manchmal winzig, wie groß sie gerade jetzt ist, kann ich noch nicht einschätzen. Und es ist dann auch schwierig, etwas sinnvolles zu meinem Nachbarn zu sagen oder so für jemanden da sein zu können, dass die eigene Unsicherheit nicht übertragen wird. 

 

Birte, Darmstadt

Heute habe ich Hanna Engelmeier dabei zugesehen, wie sie eine Wohnzimmerlaudatio auf Berit Glanz hält, die mit dem Hebbel-Preis geehrte wird. Wofür muss ich ja wohl nicht noch extra sagen. Ich bin ab sofort für Wohnzimmerlaudationes, vor allem, weil ich die dann auch gucken kann. Nach Westerdingenskirchen, wo der Preis eigentlich verliehen wird, wäre ich ja niemals extra gereist. So konnte ich die schöne Rede und Perspektive auf den Roman hören, auf Berit anstoßen, mich für sie und mit ihr freuen.

Gestern habe ich ein Video aus unserem vorletzten Sommerurlaub gepostet, Strandläufer an der Küste von Montauk.

Montauk, July 2018. pic.twitter.com/lELH2wCC30

— Birte Förster (@BirteFoerster) March 21, 2020

Seither geht ein sanfter Regen von Meeraufnahmen auf meine Timeline nieder und ich versuche, all das in einem eigenen Account @jedestundemeer zu bündeln, der @spinfocl ist so freundlich, mir bei der technischen Umsetzung zu helfen.

Das Rauschen des Meeres, die gleichförmige Unterschiedlichkeit der Wellen, ihr Rhythmus, all das beruhigt mich. Brauche ich gerade.

 

Slata, München

Jemand schreibt im Messenger wieder über Risikogruppenfaktoren oder die neusten Sterberaten. Zu allem kommt ein neuer Geruch dazu, ein neues Parfüm, das alte leer geworden, es erinnert an das erste Trimester, an zwei Monate Toxikose, ein Erbrechen am Morgen schon, ich bat um ein neutrales Duschgel, ohne Gerüche, Joghurt vielleicht oder Aloe Vera, sowas, könntest du bitte das Deo draußen, vor der Wohnungstür benutzen. Da ist dieser Geruch wieder da, und ich bestelle heimlich ein neues Parfüm, ein anderes, das ich kenne aus der Zeit, als die Geschäfte auf hatten, hundert Milliliter, Eau de Toilette lieber, und dann noch eins für mich, wenn wir schon alle dahocken zuhause, dann Miss Dior, Blooming Bouquet, wenn wir schon alle sterben werden, und vielleicht sogar bald, dann mit einem Hauch Dior auf dem Hals.

 

Berit, Greifswald

Heute habe ich einen Preis gewonnen und mich (wie oft) online geborgen gefühlt. Das war ein Lichtblick, den Rest der Zeit habe ich mit Schmerzen und leichtem Fieber geschlafen. Ich habe mir verordnet an nichts zu denken, einfach gesund zu werden und dafür zu sorgen, dass diese Zeit für meine Kinder eine Zeit mit guten Erinnerungen wird. Das ist Aufgabe genug. 

Bei Twitter entdecken immer mehr Menschen ihr Klassenbewusstsein, zumindest kommt es mir so vor. Schon in den letzten Monaten habe ich immer mehr wütende Tweets gegen die großen Unterschiede in der Einkommensverteilung gesehen und ich habe den Eindruck, dass sich diese Tweets nochmal vermehrt und verschärft haben. Guillotine-Gifs haben Hochkunjunktur. Corona ist auch ein Indikator für soziale Ungerechtigkeiten, die Krankheit verschärft die sowieso vorhandenen Unterschiede, macht sie sichtbar und die Konsequenz ist Wut:

billionaires should be desperate to be taxed. something is going to happen to them, and ‚taxed‘ is the best verb they can hope for at this point

— Shaun (@shaun_vids) March 20, 2020

For the average American the best way to tell if you have covid-19 is to cough in a rich person’s face and wait for their test results

— Harry Moroz (@hrmoroz) March 20, 2020

 

Shida

Wir haben uns zum ersten Mal zu dritt zum Spaziergehen verabredet. Im weiten Abstand miteinander geplaudert und uns dabei irgendwie fortbewegt (und uns dabei sehr merkwürdig gefühlt). Eine halbe Stunde später kommt das „Kontaktverbot“, ab jetzt sind Verabredungen solcher Art dann also verboten.  

Später trinken wir per Zoom Konferenzschaltung Bier mit anderen Menschen. Es sind so viele Menschen, dass kein richtiges Gespräch zustande kommt, letztlich trinke ich Bier und schaue dabei andere Menschen an, wie sie in ihren Computer gucken, über irgendwas lachen, irgendwelche Dinge sagen. Trotzdem irgendwie schön.

Gleichzeitig kommt die Meldung, dass Merkel in Quarantäne muss, weil ihr Arzt positiv auf Corona getestet wurde. Ich sehe wie immer, wenn es um Merkel geht, ihre politischen Feinde vor mir und hoffe einfach, um ihnen keinen „Triumph“ zu gönnen, dass sie kein Corona hat. Wo man nicht alles seine Energie reinsteckt.

23.3.2020

 

Marie Isabel, Dunfermline

Es braucht also eine Pandemie, um die britische Bahn wieder zu verstaatlichen. Zumindest für ein paar Monate. Gleichzeitig scheinen im Hinterhof von Downing Street “magic money trees” gewachsen zu sein, die der junge Finanzminister (mancher hat in ihm schon den nächsten Premier zu sehen geglaubt), seit Tagen kräftig schüttelt. 

Nachdem mir Covid-19 wortwörtlich Alpträume bereitet, hege ich die Informationsflut ein – weniger Social Media, weniger Nachrichten, mehr Beschäftigung mit Nichtvirusbezogenem. Die Menge an Berichterstattung und digitalem Lärm steht in einem schwer aushaltbaren Missverhältnis zur (scheinbaren?) Ungewissheit der Situation. Aus diversen Ecken des politischen Spektrums verlauten Versuche, Kapital aus der Verängstigung der Menschen zu schlagen. Gleichzeitig wird der eigene Bewegungs- und Handlungsspielraum immer weiter beschnitten.  

Auf Instagram lese ich den Kommentar einer ehemaligen Kollegin, Akademikerin, promoviert, talentiert, vom Befristungsmangelsystem Universität nach Jahren der Anstrengung ausgespuckt (wie so viele junge Menschen meiner und der folgenden Generationen). Sie arbeitet jetzt als Lehrerin, ist zweifache Mutter. Ab heute haben die Schulen in Großbritannien geschlossen, betreuen nur noch die Kinder der ‘key worker’ (es herrscht noch eine gewisse Unsicherheit darüber, wer dazugehört). Die Schüler seien durch die Situation verunsichert, schreibt meine Bekannte – das höre ich auch, fast gleichzeitig, im Radio. Die Lehrer:innen fühlen ähnlich, halten ob der Reaktion der Kinder ihrer Tränen nur mit Mühe zurück. Ihnen kommt das gerade zweifelhafte Privileg zu, erwachsen zu sein. 

 

Jan, Hannover

Am Samstag sollten wir also am offenen Fenster stehen und für die Menschen in den Pflegeberufen applaudieren, die gerade den härtesten aller Jobs machen. Aber wieso eigentlich «gerade»? Auch unter «Normalbedingungen» kann ich mir keinen Beruf vorstellen, in denen die Härte der Arbeit und die gesellschaftliche Notwendigkeit einerseits und die Bezahlung und die Arbeitsbedingungen andererseits in einem derart krassen Missverhältnis stehen. Ich habe in den letzten Jahren (als Angehöriger, als Freund) viel Zeit in Krankenhäusern und Pflegeheimen verbracht und dabei gelernt, dass die Verzweiflung der Kranken- und Altenpfleger*innen jener der Angehörigen meist in nichts nachsteht. Mit einem gewaltigen Unterschied: Für mich als Angehörigen ist es sozial akzeptiert, ja erwartet, dass ich sie zeige.

Dennoch sträubte sich in mir einiges dagegen, mich in diese absolut folgenlose, rein symbolische Aktion einzureihen. Ich empfinde immer einen starken Widerwillen, wenn Aktionismus und Symbolpolitik aufeinandertreffen, um von mir ein «Zeichen» (oder zumindest eine Unterschrift oder eine verwertbare Mailadresse) zu verlangen. Ich bin keiner, der überall «Gutmenschentum» wittert und verspottet, das ist ein Cover-up für Arschlöcher, und ich versuche, keins zu sein. Aber ich habe so eine gewisse Herdenaversion, ein Unbehagen bei Ansammlungen aller Art. Und ich mag keinen Politkitsch. Das klingt fein nonkonformistisch, man darf sich mit dieser Haltung als kritischen Geist sehen, der stets über den Dingen steht (wir wissen ja, Ibsen, der Stärkste ist der, der alleine steht, dies das), aber natürlich hat diese Haltung auch eine Schattenseite: Sie ist reichlich selbstverliebt und eröffnet einem allerlei bequeme Ausflüchte in Situationen, in denen es eigentlich angebracht wäre, praktische Solidarität zu üben.

Was tat ich denn eigentlich sonst so? Unsymbolisch, konkret, mit praktischen Folgen, jenseits der üblichen kapitalismuskritischen Diskussionen am reichgedeckten Esstisch, wenn Freund*innen zu Besuch waren (damals, in der guten alten Zeit, als man sich noch gegenseitig besuchte)? Was tat ich denn tatsächlich, außer reden und twittern? (Regieanweisung: An dieser Stelle bitte Tumbleweeds und Grillenzirpen und ein paar Spendenquittungen einspielen.)

Zur Auflösung: Natürlich standen wir am Samstag am Fenster und klatschten. Wie Klatschvieh im Musikantenstadl, dachte ich. Aber es tat ja schließlich keinem weh. Und im Stadion war ich mir früher auch nicht zu schade gewesen, einem knappen Dutzend kurzbehoster Bälletreter zuzujubeln. Also. Vielleicht applaudierten wir auch ein bisschen uns selbst, aber entscheidend war dann doch etwas anderes: Man war ja nicht Teil einer uniform marschierenden Masse. Da standen die Nachbarn von der anderen Straßenseite auf ihren Balkonen, mit denen ich sonst nie redete. Jetzt auch nicht, aber wir sahen einander über die Straße hinweg und wussten: We’re all in this together. Bislang hatte uns lediglich ein straff gespanntes Stahlseil verbunden, an dem eine alte Straßenlaterne in der Schlucht zwischen unseren Häuserblocks sacht im Wind baumelt.

Vielleicht war es auch einfach die Hilflosigkeit, die man derzeit andauernd spürt, die mich ans Fenster zog. Vor allem aber das Gefühl, dass es einfach lächerlich ist, in einer Zeit wie dieser selbstverliebt darauf zu beharren, man stünde über den Dingen, während man in Wahrheit genauso hilflos mittendrin steckt wie alle anderen auch, während man sich auf die Arbeit anderer verlässt, verlassen muss. Symbolpolitik ist, zumindest wo sie kein Ausdruck inszenierter Macht ist, oft ein Zeichen von Hilflosigkeit, und in times of Corona sollte sich niemand seiner Hilflosigkeit schämen oder sich zu fein für sie sein.

Am Sonntag um 18 Uhr standen wir dann wieder am offenen Fenster, diesmal, um im weiten Kreise der distanzierten Nachbarschaft die «Ode an die Freude» zu spielen. Um ehrlich zu sein, ich empfand ich keine Freude beim Spielen. Aber einen gewissen Trost. Ich sah wieder die Nachbarn von gegenüber, die gleichen wie gestern, klar, wen sonst, wo sollten denn auch plötzlich andere herkommen, und ich wusste bisher gar nicht, dass die junge Frau von ganz oben Geige spielt. «No man is an island entire of itself; every man is a piece of the continent, a part of the main», hatte meine frühere Kollegin C. gern John Donne zitiert, wenn ich ihr mal wieder mit dem Ibsen kam. (Ach, überhaupt Kolleg*innen: Auch so etwas, das ich vermisse.)

«… alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.» Und Applaus. Man winkte einander noch einmal über die Straße hinweg zu, dann schlossen wir wieder die Fenster. Ein kurzer Moment der Gemeinsamkeit, dann war man wieder für sich. Wir teilten mit Freund*innen und Bekannten kreuz und quer durchs Land die Handyvideos, die unsere Straßen in den verschiedenen Städten und Dörfern beim Musizieren zeigten. Ein bisschen stolz, ja, tatsächlich. Ich Herdentier. Als dann aber schließlich die WhatsApp-Gruppen mit neuen Appellen bimmelten, man möge bitte alle miteinander um 21 Uhr eine Kerze ins Fenster stellen («bitte leitet diese Nachricht an alle weiter!!!»), da reichte es mir dann doch.

(sorry, viel zu lang, künftig wieder kürzer, versprochen)

 

Slata, München

Neue Dinge entstehen, eine heiße Badewanne voller Schaum zum Beispiel, entspannend, beruhigend, davor ein Fondant au chocolat (lava cake ist aussprechbarer), dazu Puderzucker wie Schnee auf Erdbeerscheiben, schmale Dessertgabeln, lass uns noch ein paar Tafeln Schokolade holen, bevor alle Geschäfte dicht machen, selbst als ein Glas zu Boden fällt, sich in tausend Scherben verbreitet, freuen wir uns fast darüber, sammeln, fegen sie geduldig auf.

 

Nabard, Bonn

Bin gerade am Münsterplatz entlang gelaufen und vor Ludwig stehen geblieben. Zwei Tauben sitzen auf ihn. Happy Birthday Ludwig, ich wette deinen 250. hast du dir anders vorgestellt oder? Niemand der vom Café nebenan zu dir hochzieht. Niemand der vor dir stehen bleibt und ein paar Fotos schießt. Guess that’s life. 

Laufe weiter Richtung Bertha und muss an die Fortbildung der Anästhesisten gerade denken. Was machen wenn ein Patient akut zu ersticken droht…bis mir eine Gestalt über den Weg läuft den ich wohl noch von früher kenne. Er hat einen grauen Bart und graue Haare bekommen. Sieben Jahre können doch lang sein.

Musik-Tip:

The Weeknd – Snowchild

 

Berit, Greifswald

Wenn die Spielplätze und Fußballplätze zu sind, kann man mit seinen Kindern draußen herumlaufen und Pokemon Go spielen. Man steht an Ecken und beugt sich konspirativ gemeinsam über das Handy, fängt dieses und jenes Pokemon, fachsimpelt über Bälle und läuft noch den einen Extrakilometer, den es braucht, um das Ei auszubrüten. Alles fühlt sich sehr normal an, bloß die anderen Passanten machen große Kreise um uns und sie schauen nicht mehr skeptisch auf die Kinder mit dem Smartphone, sondern lächeln mich mitleidig an. Im Hinterhof jagen Eltern ihre Kinder zwischen den Wäschestangen hinterher, damit sie später in der Wohnung ausgetobt sind, andere haben ein Trampolin gekauft. Ein kleines Mädchen rollt sehr lange bäuchlings auf einem Rollbrett hin und her, es klackert leise durch das geöffnete Fenster.

 

Marie, Isabel Dunfermline

Heute auf dem Weg zu Post und Supermarkt (ausgerüstet mit offiziell ausreichend notwendigen Gründen, das Haus zu verlassen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen): Vom Bus aus eine kleine Kinderzeichnung hinter Fensterglas. Ein Regenbogen. Auf dem Rückweg ein Stück zu Fuß, der frischen Luft wegen. Ein Taubenpaar sitzt winterdick und eng aneinander geschmiegt auf einem Zaun. Eine pickt der andere liebevoll den Schnabel. Halte an für Finken, Rotkehlchen, Spatzen, Möwen, Krähen, Meisen, Amseln, noch mehr Tauben. Hundehalter ziehen im Sicherheitsabstand vorbei. Vierbeiner begreifen nicht, warum sie Fremden nicht mehr begrüßen dürfen. In einem großen Haus (dessen Garten immer voller Spielzeug wimmelt) ein Wohnzimmerfenster, hinter dem Luftballons tanzen. Auf dem Glas in leuchtenden Farben ein großer Regenbogen, schönstes Halbrund, die Enden stecken in fluffigen Wolken. Darunter in Großbuchstaben, im genau richtigen Dunkelblauton: NHS. Als ich nach Hause komme und mir ausführlich die Hände wasche, sehe ich im Spiegel, dass ich auf dem Gang in die Stadt mein Regenbogentuch um den Hals getragen habe.

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