Häufig schon habe ich sie gebeten, viel ist sie ausgewichen und endlich liefert sie. Meine beste Freundin aus Oberstufenzeiten ist nicht nur eine Perlentaucherin in Bezug auf Musik, sondern versteht auch mehr von moderner Kunst als jemals in meine Rübe gehen wird, dass sie nebenbei gute Bücher liest, ist selbstverständlich. Blogs findet sie eigentlich doof, hilft mir aber trotzdem beim Ausarbeiten von Interviews und nun endlich schreibt sie ihre erste Rezension für mich. Meine Damen und Herren, ich darf vorstellen, für Sie heute die großartige Saskia T:
Vor Kurzem saß ein Mann in meiner Küche, der Paul Auster kennt. So gut, dass er ihn beim Vornamen nennt und die Familie „ab und zu“ zu Hause in Brooklyn besucht. „Der stirbt bald“, sagte mein Besuch, mehr eine nüchterne Feststellung als eine dunkle Befürchtung. „So viel wie der raucht und trinkt.“ Ob Paul Auster diese Annahme teilt, ist nicht überliefert. Doch zumindest bringt der 66-Jährige nun mit „Winter Journal“ ein Buch heraus, das man als Rückschau lesen kann. Ein Leben, erzählt an den Bestandteilen des eigenen Körpers.
Die exzessive Auseinandersetzung mit psychischen und physischen Zuständen scheint in der Schriftstellerfamilie zu liegen. 2010 veröffentlichte Austers Frau Siri Hustvedt „The Shaking Woman“, eine Analyse ihres Nervenzusammenbruchs nach dem Tod ihres Vaters, die sie tief in die Geschichte der Neurowissenschaften führt.
Während Hustvedt jedoch nach dem allgemein Menschlichen in ihren Symptomen sucht, bleibt Paul Auster im wörtlichen Sinne ganz bei sich. Es ist nicht unser Körper, den er beschreibt, sondern sein Körper – ein Lebensraum, zu dem niemand sonst Zutritt hat. „Winter Journal“ könnte banal sein. Paul Auster schlingt Schokolade, wiegt ein Baby in den Armen, hat guten und erbärmlichen Sex und erstickt fast an einer Fischgräte. Aber anders als die meisten Menschen, die in einem Körper stecken, ist Paul Auster ein großartiger Erzähler.
Der Autor widmet sich den Erlebnissen seiner Finger, Füße und Lippen mit der gleichen Ernsthaftigkeit, die er den Protagonisten seiner Romane schenkt. Das Buch ist mehr Bewusstseinsstrom als komponierte Geschichte, jeder Erzählstrang hat unzählige Seitenarme, und manchmal scheint der Autor selbst mit Staunen auf sein Leben zu blicken. Dieser Eindruck wird auch durch die Perspektive des Buches verstärkt. Auster spricht sich selbst mit „Du“ an, ein literarischer Kunstgriff, den er schon in seinen fiktionalen Werken etabliert hat. Damit bringt er eine Distanz zwischen Schreiber und Beschriebenen, die dem Buch gut tut. Paul Auster scheint aus seinem Körper herauszutreten und ab und an mit sich selbst zu fremdeln. Dabei schwankt seine Rolle zwischen nüchternem Sachbearbeiter (er nennt die Adressen aller Wohnungen, in denen er je gelebt hat) und altersklugem Philosophen (so ganz kann sich ein Paul Auster die großen Fragen des Lebens dann doch nicht verkneifen).
Man kann „Winter Journal“ lesen, weil es ein starkes, berührendes Buch ist. Aber natürlich bleibt dieser Funken Voyeurismus, die Neugier auf den Körper eines großen Geistes. Auch Paul Auster hat Rückenschmerzen, Verstopfung und zu wenig Disziplin zum Nichtrauchen oder Diäthalten.
Fans der literarischen Familie kennen diesen Körper längst. Schließlich hat sich Siri Hustvedt ihren Mann schon oft für die Beschreibung von Sexszenen geborgt. Paul Auster hat diese Passagen nie kommentiert. Aber jetzt hat er sich die Erzählhoheit über seinen Körper zurückgeholt.
Saskia ist Studentin, freie Journalistin und Kunstvermittlerin in unterschiedlichen Prozentsätzen. Im Bloggen ist sie genauso erfahren wie Paul Auster.