Immer im Lockdown – Warum Shirley Jackson die Autorin der Stunde ist

 von Till Raether

 

Als vor einigen Wochen das Literarische Quartett zum ersten Mal unter der Leitung von Thea Dorn ausgestrahlt wurde, empfahl sie den Roman Die Pest von Albert Camus als, uff, „Antihysterikum“ und passende Lektüre für die Corona-Ära. Das war nicht nur sehr naheliegend, sondern auch etwas seltsam. Camus benutzt in seinem Buch den Ausbruch einer Seuche als Metapher für die Absurdität des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere unter dem Faschismus. Warum also den Menschen ein Buch empfehlen, in dem das, was derzeit das reale Erleben aller ist, nur metaphorisch auftaucht, um etwas ganz anderes zu erzählen? Eigentlich müsste man doch jetzt Bücher lesen, die nicht die Seuche als Metapher verwenden, sondern die unabhängig von der Krankheitsmetapher über Isolation, Rückzug und Möglichkeiten von Trost sprechen. Die US-amerikanische Kurzgeschichten-, Gruselroman- und Frauenzeitschriften-Autorin Shirley Jackson ist deshalb eher die Schriftstellerin der Stunde. Mit der Einschränkung, dass Trost in ihrem Werk Mangelware ist, versteckt an überraschenden Orten, aber darum umso kostbarer.

„Virginia Werewoolf“ hat ein früher Kritiker Jackson wegen ihrer anspruchsvollen Grusel-Romane genannt, in den Fünfzigern für viele ein Widerspruch in sich. Jacksons wichtigste Romane handeln davon, wie Menschen sich in einer feindlichen Umgebung hinter verschlossene Türen zurückziehen und dort versuchen, nach ihren eigenen Regeln zu leben. Wobei sie nicht merken oder es ihnen egal ist, dass sie in einer eigenen Gedankenwelt leben, die mit einer geteilten Realität nichts mehr zu tun hat, und die von außen vielleicht wie Wahnsinn aussieht.

In Der Spuk in Hill House zieht sich eine sozial isolierte Frau mit drei anderen Personen in ein düsteres Herrenhaus zurück, um unter Anleitung eines windigen Professors als parapsychologisches Versuchskaninchen zu wirken. Sie verspricht sich davon paradoxerweise eine Art Anschluss ans Leben und die Gemeinschaft anderer. Jackson stellt sie vor mit der bemerkenswert brutalen Satzreihung: „Eleanor Vance war 32 Jahre alt, als sie nach Hill House kam. Die einzige Person auf der Welt, die sie wahrlich hasste, war nun, seit dem Tod ihrer Mutter, ihre Schwester. Sie verabscheute auch ihren Schwager und ihre fünfjährige Nichte und hatte keine Freunde.“

Ähnlich desolat ist die Ausgangslage der Figuren in The Sundial, Jacksons Parodie einer Gesellschaftskomödie oder drawing room comedy, in der sich eine zusammengewürfelte Gruppe von Oberschicht-Angehörigen und solchen, die es gern wären, in ein Herrenhaus zurückziehen, um den Weltuntergang zu erwarten, komplett mit Nudel- und Toilettenpapiervorräten. Gleich auf der ersten Seite sinnieren ein Schulkind und seine Mutter darüber, dass die Großmutter, Herrin des Hauses, ja wohl den gerade zu Grabe getragenen Vater und Ehemann die Treppe hinuntergestoßen und getötet habe, was schon wenige Absätze später von der gleichen Großmutter kaum bestritten wird. Und in Wir haben schon immer im Schloss gelebt haben sich zwei Schwestern nach dem Tod ihrer gesamten Familie in ihr, ja, Herrenhaus zurückgezogen, um sich freiwillig von der Außenwelt abzuschotten, was diese Außenwelt aber nicht zulassen kann. Die Art, wie die jüngere Schwester Merricat einmal in der Woche ins Dorf huscht, um möglichst schnell und mit möglichst wenig Kontakt einzukaufen, gleicht gerade unheimlich dem aktuellen Einkaufsverhalten der ganzen Welt.

Kontaktsperre mit der Realität

„Kein lebender Organismus wird lange gedeihen“, beginnt Jackson Spuk in Hill House, „wenn er sich immer nur in der reinen Wirklichkeit aufhalten muss. Sogar Lerchen und Heuschrecken wird von manchen nachgesagt, dass sie träumen.“ Diese in parodistisch professoralem Ton vorgetragene Weisheit ist so etwas wie die Vertragsvorlage von Jackson an ihre Leser*innen: Kommt rein, aber erwartet hier keinen Realismus, sondern träumt wie die Lerchen und die Heuschrecken. Diese Erlaubnis und diese Einsicht in die Notwendigkeit, sich auf die Dauer nicht nur in der so genannten Wirklichkeit aufhalten zu können, macht Jackson zur womöglich idealen Begleiterin in Lockdown-Tagen, während derer man hin und wieder eine Kontaktsperre mit der Realität braucht. Ein solche situative Leseempfehlung bedeutet aber natürlich auch, Shirley Jackson auf die Brauchbarkeit für eine Gegenwart und auf ein paar wenige Aspekte ihres Werkes zu reduzieren. In Wahrheit ist sie immer die richtige Autorin, für jede Gegenwart, mit oder oder Corona. Das liegt daran, dass in Jacksons Texten immer Lockdown ist, für sie ist social distancing die einzige Verhaltensweise, um in einem feindlichen Universum zu überleben und zu navigieren. Das Bedürfnis nach Selbst-Isolation ist die Default-Einstellung ihrer Figuren.

Shirley Jackson (1916 bis 1965) stammte aus einer wohlhabenden kalifornischen Familie, wurde ihr Leben lang von ihrer lieblosen Mutter geplagt, führte eine unglückliche Ehe und starb jung, als sie gerade angefangen hatte, ihren ersten heiteren und optimistischen Roman zu schreiben. Ihre Biografie muss wegen dieser psychologischen Eckdaten immer wieder als Interpretationsrahmen ihrer Texte herhalten, sicher auch angeregt dadurch, dass Jackson den Großteil des Familieneinkommens damit verdiente, für Frauenzeitschriften sarkastische Texte über ihr Alltagsleben mit vier Kindern und einem eher unnützen Mann zu schreiben, dem damals ebenso bedeutenden wie heute vergessenen Literaturwissenschaftler Stanley Edgar Hyman. Sie ließ selbst keine Gelegenheit aus, ihre Biografie entlang der Motive ihrer Prosa zu mythologisieren, etwa, wenn sie über den Ursprung ihrer Familie schreibt und man unwillkürlich an die verfallenden Herrenhäuser ihrer Romane denkt: „Mein Großvater war ein Architekt, und sein Vater, und dessen Vater. Einer von ihnen baute Häuser ausschließlich für Millionäre in Kalifornien, und daher kam das Vermögen der Familie. Einer von ihnen war überzeugt, man könnte Häuser auf den Sanddünen von San Francisco errichten, und dorthin verschwand das Vermögen der Familie.“ Auch die Legende, sie habe wie manche ihrer Protagonistinnen Hexerei praktiziert, beruht auf der von ihr sorgsam verbreiteten Selbststilisierung.

Steinigung vorm Mittagessen

Zwischen dem Ende der 1940er und dem Anfang der 1960er Jahre schrieb Jackson eine Reihe recht erfolgreicher psychologischer Schauerromane und eine große Zahl Kurzgeschichten. Eine davon, The Lottery, veröffentlicht im Sommer 1948, ist vermutlich die Kurzgeschichte der US-Geschichte, die am meisten Aufsehen erregte, jedenfalls hat der New Yorker bis zu Cat Person von Kristen Roupenian nie mehr Reaktionen auf einen fiktionalen Text bekommen. The Lottery beschreibt ein bräsig-betulich abgewickeltes Steinigungs-Ritual in einem Dorf in Neu-England , von der umständlichen Auslosung bis zur Tötung der ausgelosten Dorfbewohnerin. Der Erzählton verstörte hunderte Lerserbriefschreiber*innen, weil er die finale Grausamkeit des Steinigungsrituals vorbereitet als Schilderung einer amerikanischen Kleinstadt-Idylls im Stile von Thornton Wilder oder Louisa May Alcott. Die Auslosung auf dem Dorfplatz, deren Sinn einem beim Lesen erst am Ende der Geschichte klar wird, soll „weniger als zwei Stunden dauern, damit sie um zehn Uhr morgens beginnen und so zeitig vorüber sein konnte, dass die Dorfbewohnern noch Gelegenheit hatten, rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause zu sein … Die Lotterie wurde – wie die Square-Dances, der Teenager-Club und die Halloween-Feier – von Mr. Summers betreut, der die Zeit und die Nerven hatte, sich bürgerlichem Engagement zu widmen. Er war ein rundgesichtiger, jovialer Mann, der örtliche Kohlenhändler, der den Menschen leid tat, weil er keine Kinder hatte und seine Frau eine Nörglerin war.“

Es ist dieser so vertraute unterhaltungsliterarische Realismus, der die Geschichte zu einem elementar erschütternden Text macht: Was wir bestenfalls für eine Idylle und schlimmstenfalls für öden Alltag halten, ist eine Illusion, die durch ritualisierte Gewalt ermöglicht wird, und der einzige Verfremdungseffekt, den Jackson hier und anderswo einsetzt, ist, dass sie diese Gewalt hinter den Kulissen hervorzieht und bei strahlendem Sonnenlicht auf dem Dorfplatz zur Schau stellt.

Seit ihrem 100. Geburtstag 2016 erlebt Jackson eine gewisse Renaissance: Netflix hat Der Spuk von Hill House als beliebte Mini-Serie verfilmen lassen, es gibt eine von Michael Douglas produzierte Hollywood-Adaption von Wir haben schon immer im Schloss gelebt, Jacksons Hauptwerk, und beide Romane liegen seit 2019 in neuen Übersetzungen im Leipziger Festa Verlag vor. Shirley, ein leider sehr schematischer und flacher Schauerroman über Jacksons häusliches Leben und ihre hexerischen Neigungen, von Susan Scarf Merrell, ist gerade mit Elisabeth Moss in der Rolle von Jackson verfilmt worden. Eine viel besprochene Biographie von Ruth Franklin, A Rather Haunted Life (2016), unternimmt den aufwendigen Versuch, Jacksons Leben und ihr Werk im Kontext der ersten Welle des US-Feminismus zu kanonisieren. Jacksons Romane, so Franklin mit dubioser Bestimmtheit, würden  „ganz genau“ davon handeln, was Betty Friedan in The Feminine Mystique die „schizophrene Spaltung“ der amerikanischen Frau zwischen der weiblichen Rolle der Hausfrau und der eher männlichen Karriere-Option nannte: also von Frauen, die buchstäblich verrückt werden, weil sie im Patriarchat nicht damit zurechtkommen, die ihnen zugewiesenen und einander widersprechenden Rollen zu erfüllen.

Das Ende des Storytellings

Tatsächlich lassen sich zwei Romane Jacksons als Geschichten pathologisch gespaltener Persönlichkeiten lesen, Hangsaman (Der Gehängte) und The Bird’s Nest. Und auch ihre Isolations-Romane Spuk in Hill House und Wir haben immer im Schloss gelebt lassen sich als Abstieg in eine Art Wahnsinn oder ein sich damit Arrangieren lesen. Wie immer aber macht es wenig Sinn und wenig Freude, Texte über Menschen und insbesondere Frauen, die sich außerhalb der Norm bewegen, und die außerhalb der Norm denken und empfinden, als Metaphern für mental health issues zu lesen. Oder, fast noch reduzierender: Krankheit als Metapher für gesellschaftliche Strukturen und ihre Auswirkungen zu vermuten in Texten, in denen die Menschen einander oder sich selbst für verrückt erklären. Krankheit als Metapher hat Jackson nie interessiert; wenn überhaupt, dann Metapher als Krankheit, die einen scheinbar genrekonformen Text befällt und am Ende sozusagen dahinrafft.

Der Zürcher Diogenes-Verlag hat eine Weile versucht, Jackson im deutschsprachigen Raum als gehobene Unterhaltungsautorin durchzusetzen, aber sie hat nie auch nur entfernt einen Status erlangt wie andere, mit ihr thematisch und stilistisch vergleichbare Diogenes-Hausautorinnen, Muriel Spark und Patricia Highsmith. Obwohl ihre Texte nach einem ähnlich eigenwilligen Prinzip funktionieren wie die von Spark und Highsmith: relativ statische Figuren, die sich durch eine quasi linksgedrehte Genre-Simulation hangeln, ohne Erlösung, Strafe oder auch nur Entwicklung zu erfahren. Offenbar funktionierte dies bei Spark und Highsmith, Jacksons Schwestern im Geiste und im Stil, bei deutschsprachigen Leser*innen besser, weil Spark und Highsmith an in Europa vertraute Traditionen anknüpfen (oder sie auf den Kopf stellen). Spark an die der britischen Schul-, Universitäts- oder Adels-Komödie, Highsmith an das klassische Whodunit, aus dem sie einfach aber genial ein Hedunitsowhat machte.

Jackson hingegen kommt aus einer singulär US-amerikanischen Tradition. Ihre Vorfahren sind die Autor*innen der amerikanischen Gothik. Einerseits der (hierzulande ebenfalls eine zeitlang von Diogenes gepushte) Charles Brockden Brown, der so genannte erste Romancier der USA, der im späten 18. Jahrhundert an den Grenzen der damals als solche empfundenen Zivilisation Protagonist*innen in unheimlichen Herrenhäusern an die Grenze der Realität führte und dazu brachte, an ihren Sinnen zu zweifeln – oft als metaphorische Auseinandersetzung mit der unbegreiflichen Frontier-Erfahrung. Und natürlich Edgar Allan Poe, dessen Werk immer von der unheimlichen Konfrontation mit dem Innenleben angstgeplagter Protagonisten in engen Räumen erzählt. Herrenhäuser, auch hier, bei Poe etwa das metonymische House of Usher, Gebäude und Familie zugleich.

Die andere Herkunftslinie Shirley Jacksons führt zu Emily Dickinson, die hölderlinähnlich 18 Jahre ihr Zimmer und ihr weißes Gewand nicht verließ und dabei hinter verschlossener Tür in 1800 Gedichten eine lyrische Freiheit und Unbegrenztheit in den starren Konventionen des 19. Jahrhunderts suchte. Zwar wird der Rückzug von Jacksons Figuren aus feindlichen Umständen in die Isolation (etwa von ihrer Biographin Ruth Franklin) mitunter als Beschreibung Jacksons eigener Unfähigkeit gesehen, ihrer unglücklichen Ehe nicht entfliehen zu können. Tatsächlich aber finden Jacksons Figuren wie Dickinson in der häuslichen Abgeschiedenheit eine Freiheit, die es für sie in der Außenwelt nicht gibt.

Zwar gibt es diese Traditionen in verwandter Form auch in deutscher Sprache (das räumlich Klaustrophobische verwoben mit dem poetisch Entgrenzten, bei Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann, Marieluise Kaschnitz, Christine Nöstlinger?) – aber Jackson hat eine Eigenart, die sie auf Anhieb etwas schwerer zugänglich macht. Jackson verweigert sich komplett dem Erfolgsmodell jeden aktuellen Storytellings: Sie interessiert sich nicht für die psychologische Entwicklung ihrer geradezu archaischen, typenhaften Figuren.

Dieses statische Form der Charakterisierung signalisiert Jackson gleich zu Beginn von Wir haben schon immer im Schloss gelebt, wenn sie schreibt: „Ich heiße Mary Katherine Blackwood. Ich bin 18 Jahre alt und lebe mit meiner Schwester Constance zusammen. Ich habe oft gedacht, dass ich mit ein wenig Glück als Werwolf hätte auf die Welt kommen können, denn meine Mittel- und Ringfinger sind an beiden Händen gleich lang, aber ich muss mich damit zufriedengeben, was ich nun einmal bin. Ich wasche mich nur ungern, ich mag weder Hunde noch Lärm. Ich mag meine Schwester Constance, Richard Plantagenet und Amita phalloides, den Grünen Knollenblätterpilz. Alle anderen in meiner Familie sind tot.“

Das Buch könnte, nach kurzen 224 Seiten, auch mit diesen Worten wieder aufhören. Nichts bei Jackson folgt der erfolgversprechenden Richtlinie, dass Figuren sich über die Laufzeit eines literarisch anspruchsvollen Unterhaltungsromans entwickeln müssen. Zwei oder drei einschlägige Fragen liegen heute der Figurenentwicklung und damit der Plotstruktur fast jeden US-amerikanischen Erfolgsromans zugrunde: Was wollen die Figuren und was brauchen sie (und das ist nie dasselbe), und was lernen sie? Nämlich, tja: dass sie am Ende etwas anderes brauchen, als sie anfangs wollten. Eine grausame Folie der figurengetriebenen narrativen Dynamik, die auf die Dauer in ihrer Gleichförmigkeit selbst klaustrophobisch wird, und durch deren Verweigerung Jackson ihren Figuren und ihren Leser*innen neue Freiräume verschafft.

Freiheit durch Stillstand

Zum Beispiel Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, in Wir haben schon immer im Schloss gelebt. Sie will mit ihrer Schwester nach dem Tod ihrer Familie unbehelligt in ihrem herrschaftlichen Elternhaus leben, und genau das braucht sie auch. Ähnlich geht es allen Protagonist*innen in den drei Isolations-Romanen von Shirley Jackson: Keine hat am Ende der jeweiligen Erzählung über sich und die Welt etwas gelernt, was sie nicht schon vorher wusste. Wir haben schon immer im Schloss gelebt  ist dabei eine mitreißende Geschichte darüber, wie das Alltagsleben der verwaisten Schwestern Merricat und Constance von außen bedroht wird: durch ein paar, die ihnen Gutes tun wollen, durch andere, die sich an ihnen bereichern wollen, und durch jene, die sie im Kontrast zu ihrer dörflichen Gemeinschaft als „das Andere“ definieren und ablehnen, weil der begründete Verdacht besteht, Constance oder Merricat hätten ihre gesamte Familie getötet. 

Zwar nutzt Jackson die Bedrohung von außen, um den Plot voranzutreiben, und die brutalen Angriffe auf das „Schloss“ der Schwestern beschreibt Jackson mit düsterem Gusto – ihr eigentliches Interesse aber gilt offenbar der Nähe und Zärtlichkeit zwischen den Schwestern. In Merricat, der ungewaschenen Ich-Erzählerin, und Constance, der gepflegten älteren Schwester, macht Jackson zwei Archetypen des Weiblichen zu ihren Heldinnen. Die eine, Merricat, ist die Hexe, die den Bannkreis ihres Anwesens mit zauberischen Ritualen und Totems beschützt; die andere, Constance, ist die Hausmutter, die kocht, bäckt, einweckt und putzt. 

Jacksons rebelliert gegen das Diktat der Figurenentwicklung, indem sie diese beiden Spielarten des fiktionalen Weiblichen nicht als defizitär beschreibt, sie aber auch nicht als heroisiert. Stattdessen erlaubt sie sich, beide Archetypen zu unveränderlichen Charaktermerkmalen ihrer Heldinnen zu machen, an denen alle patriarchalischen Angriffe von außen abprallen. Und zwar gerade dadurch, dass beide Frauen ihre Rollen nicht als Mangel empfinden. Constance wehrt sich lächelnd gegen alle Aufforderungen, doch wieder das Haus zu verlassen und unter Leute zu gehen, und kocht lieber weiter Marmelade; Merricat lässt alle Vorwürfe, sie sei ungezogen und dreckig, mit finsterer Miene über sich ergehen und vergräbt danach Rachetotems im Wald. 

Tatsächlich ist dies gerade vor dem Hintergrund eines gewissen Selbstverbesserungs-Sounds, der die Corona-Krise begleitet, eine erleichternde Lese-Erfahrung. Man muss die Krise nicht als Chance und die Isolation nicht nur als Aufforderung zum persönlichen Wachstum begreifen und sich damit am Ende womöglich selbst enttäuschen; man kann sich auch einfach damit abfinden, dass man an und in der Krise nicht wachsen, sondern mehr oder weniger so bleiben wird, wie man vorher schon war.

Während in Wir haben schon immer im Schloss gelebt ein gewisser Trost gerade durch die Sturheit und Stagnation der Figuren entsteht, findet man Trost in The Sundial und Der Spuk von Hill House nur noch in den Begleitumständen des menschlichen Zusammenlebens: in der Qualität geteilter Mahlzeiten, in zufällig im Gespräch entstehender, aber flüchtiger Nähe, durch die Fähigkeit, sich selbst von außen und mit einem gewissen Humor zu betrachten. Die Figuren in The Sundial etwa finden darin Trost, dass sie eine in ihrem Empfinden große Unwägbarkeit (die Fährnisse des alltäglichen, aber in seiner Banalität zerstörerischen Lebens) durch eine etwas kleinere ersetzen (die Apokalypse des heraufziehenden Weltuntergangs bzw. die Apokalypse seines Ausbleibens).

Jacksons Protagonistinnen finden also, und sei es noch so flüchtig, Freiheit und Trost in bedrohlichen, ausladenden Häusern, die von Patriarchen für ihre Familien gebaut wurden, oft gegen deren Willen: die Gebäude sind zu kompliziert, zu reich, zu groß, zu abgeschieden. Gerade in diesem Widerspruch aber werden Jacksons Romane lebendig. Ihr Unterhaltungswert entsteht durch den gleichförmigen, absurden, vergeblichen Kampf der Protagonist*innen, das Leben ohne großen Willen zur Verbesserung auf bestmögliche Weise durchzustehen. Die Autorin hat damit, in ihrer Schaffenszeit, eine gewisse Nähe vielleicht zu Albert Camus’ Sysiphos und Samuel Becketts im Kreis laufenden Helden, und sie nimmt eine Gegenposition ein etwa zum psychologischen Fotorealismus ihres Zeitgenossen John Updike und zum scheinbar organischen, ungezwungenen Schreiben und Erzählen der Beat-Poeten. Sie reduziert und stilisiert psychologische Impulse, statt sie zu beschreiben, zu erforschen oder zu überhöhen.

Natürlich fehlt dadurch auch immer etwas in ihren Büchern. Zum einen die gängige Palette von Deutungsmöglichkeiten, die der literarische Unterhaltungsroman und die Genre-Literatur ihren Leser*innen normalerweise anbieten: Du kannst dies hier wegen des Plots und der Figuren lesen, aber auch als Kommentar über die Gesellschaft (Krimi) oder die menschliche Verfasstheit an sich (Horror). Zum anderen die Identifikationsangebote, die viele Leser*innen in Romanen suchen, die durch Genre- oder Vermarktungskonventionen eine gewisse Zugänglichkeit signalisieren. 

Durch diesen Mangel aber entstehen in Jacksons klaustrophobischen Welten Freiräume. Niemand weiß in ihrem Roman The Sundial, warum die kostbare, aber unansehnliche Sonnenuhr, die mitten auf dem Rasen des Anwesens steht, ein vom Steinmetz willkürlich ausgesuchtes Chaucer-Fragment trägt: „WHAT IS THIS WORLD?“ Es ist eine Frage, die sich nicht beantworten lässt, erst recht nicht, wenn man, wie die Protagonist*innen, das Ende eben jener Welt erwartet. Alles fängt an und endet mit Ratlosigkeit. Bei Jackson aber ist diese Ratlosigkeit nicht bedrohlich, sondern entlastend, sie ist das positive Gegenbild dazu, was sonst den Protagonist*innen blüht: „Ich möchte doch nur wertgeschätzt werden“, denkt Eleanor Vance in Der Spuk von Hill House, „aber stattdessen sitze ich hier und rede Unfug mit einem egoistischen Mann.“

 

Die deutschen Zitate aus „Spuk in Hill House“ (The Haunting Of Hill House) und „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ (We Have Always Lived In the Castle) stammen aus den schönen Übersetzungen von Eva Brunner oder lehnen sich daran an; die anderen Zitate wurden für diesen Text übersetzt.

 

Photo by Carlos de Miguel on Unsplash

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