Fehlerleben

von Julia Knaß

1

Meine Mutter sagt, “es hat soviel geschneit”, ich stelle mir vor: die Müdigkeit vom Schnee bedeckt, sie im Wald, ich am Küchentisch, einen Pfirsich essend, meine Großmutter, die sagt, “jede Generation hat ihren eigenen Text”, und dass sie meinen nicht versteht, aber sie hatte auch diese Müdigkeit nicht, die alles eintunkt und aufweicht.

Ich sage, “es hat soviel geschneit”, und hole mir Wasser bei der Quelle vor dem Haus, und durch meine Schuhe dringt der Schnee und ich lasse den Pfirsichkern fallen und ich beuge den Kopf, und das kalte Wasser rinnt in meinen Ausschnitt und friert.

2

Sie saß unter einem Baum und hat die Schafe gehütet und ihr erstes Gedicht geschrieben, in ihrem Kopf. Sie weiß es noch immer auswendig. Ich kann mich an mein erstes nicht erinnern, aber an die Angst vor dem Ersticken, sie war laut und fiebrig, in meinem Kopf.

Ich will das einfrieren, mit einem Stift.

Es hat soviel geschneit.

3

Wenn ich rückwärts laufe, rutscht alles wieder von mir ab, ich brauche Illusionen von einem anderen Winter, der alles unter sich begräbt, um meine nicht fassbare Angst vor den Abrechnungen zuzudecken. “Du siehst immer mehr aus wie ich”, sagt meine Großmutter, weil meine Haare dunkeln und ich immer schmäler werde, und es klingt nach einem Kompliment, “ich sehe immer mehr aus”, wiederhole ich mir, obwohl es nicht wirklich stimmt

Ich könnte noch viel mehr weniger sein, und

ich laufe zu wenig, und

ich rauche zu viel (aber das wissen sie nicht), und

ich schreibe zu wenig, und

ich schlafe zu viel.

4

Die Ultraschallbilder der anderen und ich darf nicht mehr, so an eine Zukunft denken, nicht an das Wiegen und Tragen der Welt und das Surren in den Tagen, und in meinen Träumen fallen mir alle Zähne aus, und dann die Haare, und wenn ich aufwache, hat es der Winter bis in mein Zimmer geschafft, und ich sehe, wie er Schneekristalle an die Wände malt, während ich im Schnee versinke, oder träume ich noch, oder träume ich nur, dass alles mit Schnee bedeckt ist, der Wald, meine Familie, der Text, ich, er umarmt mich zärtlich in meinem Winter, und alles beginnt von vorne, schon wieder, wir wollten doch nicht mehr, ich wache davon auf, in einem Nest aus Pfirsichkernen und Tannennadeln, unter meiner Haut bin ich immer, zu müde, um wirklich, wach zu werden, und ich denke, ich will meine Träume im Bach ertränken wie die Nachbarin die kleinen Kätzchen.

5

Ich stehe zu lange vor dem Spiegel und suche nach ersten grauen Haaren, aber da sind nur meine abgebrochenen Spitzen und ein Schatten. Ich hole den Stift und ich schreibe den Schatten als Decke, in der ich mich verstecken kann. Meine Haare werden immer dünner, meine Kleidung rutscht immer weiter.

6

Was sie mir gerne erzählt, sind sieben bis acht Geschichten, in Wiederholung, sie spielen alle im Wald oder am Hof, oder an beiden Orten, im Sommer, im Winter, unter dem Pfirsichbaum, zwischen den Nadelbäumen, eine handelt von einem zugefrorenen Bach, an dem sie entlang ging, und später auch meine Mutter, und danach auch ich, und dass das Eis sie an diesem Tag nicht getragen hat, dass sie eingebrochen ist, ins Wasser. Aber es wäre ihr nichts passiert, ich denke an sieben bis acht Geschichten, und an die Pfirsichkerne im Sommer.

Bei mir war es nicht das Eis, das gebrochen ist, sondern mein Körper, aber es war auch Winter und es war eine Schlittenfahrt und ein Baum, und dann wollte nichts mehr richtig zusammenwachsen, wie der knochen, es war ein langwieriges sich Wundliegen, und dann später im Krankenhaus als der Gips entfernt wurde, sollte ich auftreten, weil das Bein mich tragen würde, aber ich konnte nicht glauben, dass mein Körper nicht wegrutscht, ich habe nicht mehr daran geglaubt.

Ich habe nie wieder angefangen, damit, die Geschichten geben mir recht, die Träume auch.

7

Nicht länger als drei Tage zurückdenken, nicht weiter als drei Tage voraus, da würde ich mich nur verlaufen in der Zukunft, meinen Schatten, der Angst, uns und nicht mehr an unsere Monotonie denken, die mir noch immer fehlt, und wenn, dann nur zärtlich für ein paar Sekunden, meine Tage alle nur einzeln betrachten, sie dürfen mir keine Geschichten mehr erzählen, sie sollen lieber am Küchentisch verschimmeln wie die Pfirsiche, ich sammle Müdigkeiten wie Schmetterlinge, und lasse sie verstauben, in mir, und manchmal, wenn ich doch wieder in die Stadt komme, dann melde ich mich doch wieder, und schreibe, “Ich bin doch wieder in der Stadt, gehen wir was trinken”, und manchmal schreibt meine Müdigkeit für mich, “ich weiß, ich bin so ein Zombie, aber”, aber das ist nicht unterscheidbar, es sind zwei Formen, ein Schatten.

Manchmal bekomme ich eine Antwort und will doch wieder bleiben, für einen Flügelschlag. Aber sie hat immer die besseren Karten als ich, man muss mich viel zu hart fesseln, damit ich nicht gleich wieder wegbreche. Du hast es versucht, ich weiß, es tut mir leid, es war nicht genug. Wenn ich jetzt von dir träume, dann wäre es mir lieber, du würdest von mir erzählen, nicht ich von dir, und es wäre mir lieber, du hebst mich auf und legst mich dann offen, als Karte oder als Gedanke oder als Text, zwei, drei, vier, unzählige Male zusammen. Ich träume nur mehr vom Einschlafen, nicht vom Aufwachen.

8

“Bleib hier, bleib doch im Moment, bleib für mich”, aber ich weiß noch immer nicht, wie, ich will das lieber festhalten. In allen Bildern finde ich Nadeln. Ich will, dass sie in der Kälte zerbrechen.

Abends, wenn ich müde bin und mich ins Bett lege, und alle losen Gedanken rieseln auf mich und decken mich zu und ich denke, morgen, wenn ich aufwache, werde ich sie festhalten, aber dann sind wieder Orkane in meinem Kopf und alles fängt von vorne an.

9

Die Angst macht seltsame Sachen in mir, und da ist schon wieder ein Schatten, da, wo mein Kopf sein sollte, und ich kann durch ihn greifen. Meine Großmutter schreibt über Blumen, darüber, wie es ihr geht, nach dem Stall ausmisten, Heu arbeiten und über die abfälligen Bemerkungen der anderen, “wie schaust du denn schon wieder aus?” und ich würde auch gerne so etwas malen mit Worten, ich denke an Obst, aber es fällt nur wieder Schnee und ich sehe den Wald nicht mehr richtig, weil ich keine Bäume erkenne, nur mein fehlender Blick, der scheint mir klar.

Als ich später aufwache, von einem Kratzgeräusch, vom Schnee, der zur Seite geschoben wird vor dem Haus, meine Mutter ist früh aufgestanden, damit die Straße frei bleibt, als ich später aufwache, und denke, ich sollte heute in den Wald gehen, um die Dinge aus der Nähe zu betrachten, sagt meine Großmutter zu mir: “Pass auf, wenn du nach draußen gehst, es ist rutschig heute.”

Am Tisch steht eine Schüssel mit Pfirsichen und ich greife nach einem, aber er ist gefroren, mit einer Schicht Eis überzogen und rutscht mir aus den Händen und zersplittert auf dem Küchenboden. Während ich die Reste aufsammle, steht meine Mutter in der Tür und sagt: “Vielleicht solltest du doch zumindest eine Nacht drüber schlafen.”

Aber ich will nicht warten, morgen könnte ich schon wieder zu müde sein.

10

Ich frage mich, ob sie alles gelesen haben, alles wissen; in der linken Hand halte ich ein Messer (um mich durch die Müdigkeit zu schneiden, sie auszuweiden, sie liegen zu lassen; tiefer im Wald). Später kratze ich mir mit derselben Spitze den Anfang unter meinen Fingernägeln heraus; ich erwarte Rinde und Tannennadeln, aber da ist nur mehr Sand.

Beitragsbild von Tudor Baciu

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