Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber an der Wand, hing eine Stickerei mit der Inschrift: “Nur ein Viertelstündchen.” Er hatte, als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht.
Spontan fällt mir kein Autor ein, der mich in dieser Form seit meinen frühen Kindertagen bis heute so gleichbleibend begeistert hat und zwei Werke stechen aus seinem Oeuvre, wahrscheinlich nicht nur für mich, besonders heraus: Emil und die Detektive und Fabian. Schon anlässlich meines Dresden Besuchs im Sommer hatte ich Fabian – Die Geschichte eines Moralisten wiedergelesen und greife nun erneut zu ihm. Der Gang vor die Hunde heißt es in der Neuauflage nun, in der Version, der Urfassung, die Erich Kästner eigentlich veröffentlichen wollte. Ein Buch voller Leben, Sterben, Politik und Sex. Die Neuausgabe liefert die Urfassung “erstmals als durchgehend lesbaren Text, mit allen gestrichenen Passagen und der Rekonstruktion stilistischer Details.” Die Aufzählung und Kommentierung der Änderungen, Umarbeitungen, Streichungen, Neubearbeitungen und Wiederveröffentlichung gestrichener Kapitel ist müßig und nicht meine, sondern die, mit Bravour erledigte, Aufgabe des Nachwortes der neuen Ausgabe. Ich will dagegen lieber die Kraft und Schönheit dieses Werkes preisen.
(Jakob) Fabian ist Germanist im Berlin Anfang der 30er Jahre und rutscht aus einem Job in der Werbung für Rauchwaren in die Arbeitslosigkeit. Er zieht mit seinem Freund (Stephan) Labude durch die Berliner Clubs, Ateliers, trifft Frauen, Arbeitslose, Nazis und Kommunisten; er verliebt sich und wird verletzt. Das trostlose Berlin von damals, das versucht seinen Dreck mit dem Glitzer von Bordellen zu übertünchen, wird von Fabian als (fast) Außenstehendem porträtiert. Menschen, die verzweifelt versuchen Arbeit zu finden, resignieren und wieder Hoffnung schöpfen, solche die sich und ihre Ideale für Karriere und schnelles Geld verkaufen, reiche und geniale Erfinder, die zur Rettung der eigenen Gesinnung lieber zu Bettlern werden und bei Fremden auf dem Sofa schlafen, alle sind sie hier versammelt und durch alle Zeilen starrt den Leser immerzu die Fratze des Verfalls der Weimarer Republik an. Fabian der Moralist wird zum Realisten und gebrochenen Mann. Die Entwicklung zur Tragödie hat mich, nicht nur, beim ersten Lesen, damals aber besonders nachhaltig, tief berührt (und so etwas sage ich doch recht selten?!).
Beim Wiederlesen und Sehen der Verfilmung war ich überrascht wie viel Sex in diesem Buch steckt, aber auch wie viel hellsichtige Weissagung der Zukunft Deutschlands und Europas ohne in den Pessimismus abzugleiten – es bleibt die Geschichte eines Moralisten, während die Welt den Gang vor die Hunde antritt. Kästner war anwesend als die Nazis seinen Fabian in die Flammen warfen, Nazideutschland ist schwer denkbar, wenn Deutschland erkannt hätte, was Kästner schon 1931 wusste.
Diese Neuveröffentlichung ist richtig, sie ist wichtig! Eine neue Kraft schöpft dieses bahnbrechende Werk durch seine (Rück-)Bearbeitung, z.T. ungeschliffene Rohheit vermittelt eine neue, ursprünglichere Authentizität. Nicht missen möchte ich dieses Buch, die Erinnerungen an die erste Lektüre, den flauen Magen am Ende. Ich kann jeden nur ermutigen dieses Buch (wieder) zu lesen, warum nicht die Neuausgabe zum Anlass nehmen; derweil suche ich meine alte Ausgabe von Emil und die Detektive.
Nota bene auf dem Headerfoto von 54books sieht man den Rücken meiner Erstausgabe von Fabian, deren Inhalt mit dem hier besprochenen manchmal wenig gemein hat.
Lieber Tilman,
danke für diesen Hinweis auf die Neu- und Original-Ausgabe dieses Buches. Ich habe den Fabian vor 30 Jahren das erste mal gelesen und war damals schon fasziniert. Diese Neuausgabe kannte ich noch gar nicht. Nun bin ich wirklich gespannt, wie Kästner das Buch ursprünglich gemeint hat.
Schöne Grüsse, Kai
Wie Du gelesen hast, lege ich Dir die Re-Lektüre sehr ans Herz 😉
Ich habe gerade gesehen, daß am 12.10.2013 im Deutschlandfunk um 20:05 „Fabian“ als Hörspiel läuft. Produziert 1986 vom Rundfunk der DDR.
Sehr guter Tipp – vielen Dank! Den Film fand ich ja nur mittelmäßig überzeugend, das ist aber auch primär der Schwierigkeit einer adäquaten Verfilmung festgefahrener Bilder geschuldet.
Das schrieb ich im Sommer 2019:
Ich sass im Garten heute, am Seeufer, und las von Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde. Dieses Buch ist besser bekannt als „Fabian“, denn in seiner Urversion wollte es niemand drucken. Der Grund ist simpel – Kästners Protagonist Dr. Jakob Fabian tourt durch die diversen und teilweise recht perversen Etablissements im Berlin der Goldener Zwanziger Jahre. Er lässt nichts aus, beschreibt es ausführlich und damaligen Lektoren zu genau, und so musste er vieles streichen und anderes umschreiben, und erst dann erschien es. 1931 war das, und nur wenige Monate später wurde der „Fabian“, wegen angeblicher Pornographie, ein Opfer der öffentlichen Bücherverbrennungen der Nazis.
Heute gilt dieser Roman aus der Feder des 29jährigen Autors als Meisterwerk. Warum eigentlich? Würde man ihm diesen Titel auch verleihen, wenn man seine Geschichte nicht kennte? Ich habe das Buch arg- und ahnungslos angefangen, mich über den Stil gewundert und immer gehofft, dass nun endlich etwas passiert. Aber es passiert nichts, jedenfalls nicht in irgendeinem dramatischen Sinne. Der Fabian vögelt sich also durch Berlin, wird arbeitslos, trifft Freunde, verliert Freunde, kriegt keine Arbeit, verzweifelt an der Blindheit seiner Mitmenschen, die nicht sehen wollen oder können, dass sie auf den Abgrund zurennen – vor die Hunde gehen werden, über kurz oder lang. Ich dachte, Kästner lässt sich ja wirklich Zeit, bis er endlich mal in Schwung kommt. Tatsächlich ist das halbe Buch zu Ende, bevor die trickelnden Rinnsale in Fluss kommen. Und kaum ist das geschehen, springt Fabian auch schon unvermittelt in denselben und ertrinkt.
Immerhin, Herr Dr. Kästner weiss, was er tut. Er schreibt diverse Nachworte, und in einem davon, dem „Nachwort für die Kunstrichter“ sagt er gleich zu Anfang, dass dieses Buch keine Handlung hat. Und dann seziert und kritisiert er sein eigenes Werk mit dem Sachverstand des guten Schriftstellers, der er ja zweifellos ist. Und fasst seine Selbstkritik zusammen: „Dieses Buch hat keine Handlung und keinen architektonischen Aufbau und keine sinngemäss verteilten Akzente und keinen befriedigenden Schluss. Man vermutet richtig, ob man es nun für richtig hält oder nicht: Es war so die Absicht!“
Nun schreibt ja mancher Anfänger seinem missglückten Erstling das Absichts-Attribut zu. Schon, aber wir sollten den Anstand haben und einem Könner wie Kästner zutrauen, dass er die Wahrheit sagt und nicht versucht, sich herauszureden. Die Frage bleibt, warum er das tut. Am überraschenden und total unmotivierten Ende fühlte ich mich, auf meinem Stühlchen im Garten am See, doch ein bisschen, na ja, verarscht. Ich kaufe und lese ein Buch doch nicht, damit ich unbefriedigt zurückgelassen werde. Ich weiss schon, das ist sicher wieder mal meine bourgeoise Konsumhaltung, die in ihre Erwartungen eingesperrt ist und protestiert, wenn jemand die Gitterstäbe einsammelt. Mag sein; trotzdem bleibt die Frage, ob einer wie Kästner seine moralische Entrüstung, seine Verzweiflung über die Brutalität, Dummheit, Gier seiner Zeit nicht professioneller hätte behandeln können. Andere können das doch auch, und nur weil etwas von Herzen kommt, ist es noch lange nicht gut.