Ein geheimer Garten / Ein vergrößertes Zimmer

(Zwei Essays aus der Reihe Literatur von See zu See des LCB)

Ein geheimer Garten

von Fernanda Melchor (übersetzt von Angelica Ammar)

 

Ich zog in diese Wohnung wegen des Gartens gegenüber. Die Nähe zum Stadtzentrum von Puebla, die drei großen hellen Zimmer, die günstige Miete, all das vergaß ich, als ich zum ersten Mal aus dem Wohnzimmerfenster sah und vier Stockwerke weiter unten, auf der anderen Seite einer engen Gasse, einen von Mauern umgebenen, einsamen wilden Garten entdeckte, dessen Avocadobäume, Mispelbäume, Pfirsichbäume und rosa Engelstrompeten sich im kupferfarbenen Licht der Dämmerung wiegten. Ich nehme sie, sagte ich zum Vermieter, noch ehe er mir den Rest der Wohnung gezeigt hatte. Die Rohre waren in einem schlechten Zustand, die Schlafzimmerwände hätten dringend etwas Farbe gebrauchen können, doch all das war mir egal. Gebannt schaute ich auf den Garten gegenüber. Ich hatte das Gefühl, es sei das Zeichen, auf das ich gewartet hatte, das Zeichen, dass es richtig war, aus dem Haus auszuziehen, in dem ich fast ein Jahrzehnt lang Mutter, Gattin, Hausfrau, Chauffeur, Sklavin und manchmal, gelegentlich, frühmorgens am Esstisch, wenn alle noch schliefen, Schriftstellerin gewesen war.

Fernanda Melchor (©Literatura Random House)

Es war eine turbulente, beklemmende Zeit. Ich war so am Boden zerstört, dass ich die Tage ohnmächtig an mir vorbeiziehen ließ. Nach dem Umzug weigerte ich mich monatelang, einen Kühlschrank zu kaufen, so überzeugt war ich, dass ich ihn nicht brauchte. Nachmittags füllte ich an einem kleinen Tisch, den meine beste Freundin mir geliehen hatte, die Seiten meines Tagebuchs, schaute auf die nackten Wände meiner neuen Bleibe und die einstaubenden Bücherkartons. Jetzt hatte ich alle Zeit der Welt, um zu schreiben, doch ich war wie gelähmt und dachte nur an das, was ich zurückgelassen hatte: die Familie, die ich mir so sehnlich gewünscht hatte, die Tochter, die ich zu meiner gemacht hatte, weil sie eine Mutter und ich dringend einen Sinn im Leben brauchte. Und abends, wenn Krähenschwärme über den Stadthimmel zogen und die Lichter der Kirchen auf dem Hügel von San Juan angingen, stand ich von meinem Tisch auf, öffnete die Läden und dachte, dass meine kleine Tochter dort drüben, auf der anderen Seite der Stadt, allein duschte und zu Abend aß, und niemand hörte, wie sie sich im Bett laut vorlas, eine einsame Schneeleopardin im Pyjama, und ich blickte zu dem Grundstück gegenüber und stellte mir vor, dieser ummauerte, für die vorbeihastenden Passanten völlig uneinsichtige Garten gehöre mir, nur mir; es sei der Wirklichkeit gewordene geheime Garten, den ich all die Jahre lang versteckt hatte hegen müssen, um weiter schreiben zu können, ungeachtet der Verpflichtungen des Erwachsenenlebens, des fordernden Elterndaseins, der Bitterkeit einer zerrütteten Beziehung, der erdrückenden Schuld, die es mir immer noch bereitete, dieses unverständliche Bedürfnis zu haben, für mich allein zu sein und in diesem Hortus conclusus mit meinen Alter Egos zu spielen, unerreichbar für die Welt, unangreifbar für grausame Worte oder nicht gehaltene Versprechen.

Und so sah ich aus dem Fenster, bis es dunkel war, und nach und nach gelang es mir, mich zu überzeugen, dass der Schmerz ein Ende haben, dass er nachlassen würde, wie ein wild klopfendes Herz sich langsam beruhigt, wenn der Albtraum vorbei ist. Eine eigene Wohnung und ein geheimer Garten und Zeit; das war alles, was ich brauchte, sagte ich mir.

 

Ein vergrößertes Zimmer

von Guadalupe Nettel (übersetzt von Carola Fischer)

 

Virginia Woolf war eine der ersten Feministinnen, die ich gelesen habe, und zweifellos ist sie es, die ich immer wieder lese. Ihr Essay Ein Zimmer für sich allein beschreibt mit  schmerzlicher Deutlichkeit die größten Hindernisse, die einer Frau im Wege stehen, nicht nur, wenn sie eine literarische Karriere und gesellschaftliche Anerkennung anstrebt, sondern auch, was so elementare Dinge wie die Kreativität (die gewöhnlich den entspannten Geist aufsucht) oder die Konzentration anbelangt. Ich glaube, dass die Beobachtungen von Virginia Woolf – obwohl sich die Gesellschaft in punkto Gleichberechtigung der Geschlechter weiterentwickelt hat – auch heute noch gültig sind: Eine Frau, die sich auf künstlerischem oder intellektuellem Gebiet entfalten möchte, muss finanziell unabhängig sein, über einen eigenen Raum verfügen, wo sie sich einschließen kann, um zu lesen und zu schreiben, aber auch über eine – wenn auch begrenzte – Zeit, in der niemand etwas anderes von ihr verlangt. Virginia Woolf sprach vom schrecklichen „Haushaltsengel“, damit meinte sie die gesellschaftliche Forderung, dass Frauen sich um die gesamte Kindererziehung kümmern, Alte und Kranke pflegen und selbstverständlich auch alle Hausarbeiten erledigen, eine Forderung, die uns introjiziert wurde, so sehr, dass wir sie häufig als unsere eigene betrachten, anstatt als das, was sie ist: ein ständiger gesellschaftlicher Zwang. Es ist unbestreitbar, dass wir, was Arbeitsrechte und Chancen angeht, große Fortschritte gemacht haben, aber es ist auch wahr, dass die von uns erlangte finanzielle Unabhängigkeit einen doppelten Arbeitstag bedeutet: Wir arbeiten, um Geld zu verdienen – die Glücklichen unter uns verdienen es mit dem Schreiben oder einer anderen selbst gewählten Tätigkeit –, aber es wird immer noch von uns verlangt, schlimmer noch, wir verlangen von uns selbst, dass wir an der Spitze von Familie und Haushalt stehen. Wenn darüber hinaus unsere Kinder zu klein sind, um zu lernen, wenn sie krank sind oder aus irgendeinem Grund nicht in die Schule gehen können, wird der Tag zur Dreifach-Belastung. Dieser Haushaltsengel ähnelt sehr dem, was die Feministinnen der sechziger Jahre „die mentale Last – mental load“ nannten, nämlich die ständige Sorge um das Wohlergehen der Familie: von der Einkaufsliste über die Impfungen der Kinder bis hin zu den Geburtstagsfesten.

Guadelupe Nettel (©Archivo CNL-INBA)

Jede Frau, die es mal versucht hat, weiß, dass man unmöglich einen Text schreiben kann, ohne sich zu konzentrieren. Manchmal wird man das nur vollbringen, wenn man aus dem Haus flieht. Mal ins Grüne, mal in einen geborgten Raum, wo über mehrere Tage hinweg der Computer oder eine Freundin, die wie wir vor den engelhaften Wesen flüchtet, unsere einzige Gesellschaft sind. Einige Kolleginnen haben mir gestanden, dass sie, um ein Buch zu Ende zu schreiben, ihre Schlafenszeit auf ein Minimum (drei oder vier Stunden pro Nacht) reduziert und dadurch ihre körperliche und seelische Gesundheit gefährdet haben. Somit ist jedes Buch, das eine Frau zu Ende schreibt – unabhängig von seiner literarischen Qualität – eine Heldentat, ein Akt der Auflehnung, ein Sieg über die Ausbeutung durch die anderen und die selbst auferlegte. Und das erklärt auch, warum diese Bücher häufig so überraschend, bedeutend sind, so voller Leben, Kenner des Schmerzes, der der conditio humana innewohnt.

Was, außer einem Zimmer für sich allein, braucht eine Frau noch, um schreiben zu können? Häuser für Schriftstellerinnen, wo wir uns nicht nur einmal in zehn Jahren, sondern täglich aufhalten können, wo man uns mit Kindern aufnimmt und diese mehrere Stunden am Tag betreut, Partner, die sich der geschlechtsspezifischen Ungleichheit bewusst sind, die uns nicht nur „bei unseren Pflichten helfen“, sondern die wie wir die Verantwortung für ihren Teil der Erziehung, der Betreuung, des Haushalts übernehmen, also für jene unbezahlte Arbeit, die gemeinhin übersehen wird. Wir brauchen ein Netz an Freunden und größere Familiengruppen, „Familienkollektive“, wie sie von einigen genannt werden, aber auch Arbeitskollektive, wo eine Solidarität unter Frauen gelebt wird, anstatt dass wir das Konkurrenzmodell unserer männlichen Kollegen wiederholen. Wir brauchen Verleger, die die Artikel von Frauen mit gerechten Honoraren und die Bücher von Autorinnen mit angemessener statt „symbolischer“ Bezahlung vergüten, und zwar im Moment der Veröffentlichung und nicht erst Monate später. Wir brauchen Buchmessen und Literaturfestivals mit Gender-Perspektive, wo unsere Bücher genauso sichtbar sind wie die von Männern verfassten.

Wir brauchen Regierungen, die sich des Werts der Kunst und der Kultur bewusst sind, die Stipendien und andere Fördermittel egalitär vergeben. Ich bin überzeugt, dass diese Notwendigkeiten früher oder später anerkannte Rechte sein werden, aber damit es soweit kommt, ist es unerlässlich, dass wir sie weiterhin mit derselben Hartnäckigkeit einfordern, mit der unsere Vorgängerinnen das Wahlrecht oder den Zugang zu den Universitäten durchsetzten, und ebenso mit derselben wilden Entschlossenheit, mit der Virginia Woolf ihre Arbeit vor allen anderen, auch vor sich selbst, verteidigte.

 

In Zusammenarbeit mit dem Kultur- und Literaturzentrum Casa del Lago und dem Goethe-Institut in Mexiko-Stadt und ausgehend von Virginia Woolfs Essay »A room of one’s own« hat das LCB vier deutsche – Juliana Kálnay, Isabelle Lehn, Inger-Maria Mahlke und Mithu Sanyal – sowie vier mexikanische Autorinnen – Verónica Gerber Bicecci, Fernanda Melchor, Guadalupe Nettel und Isabel Zapata – eingeladen, sich in kurzen Essays mit den Bedingungen des Schreibens und dem Zweck von Literatur aus weiblicher Perspektive auseinanderzusetzen. Die Begegnungen, Lesungen und Gespräche fanden in einer virtuellen Hybridvilla mit Avataren statt und wurden am 19. November 2020 in einem öffentlichen Livestream präsentiert. 54books veröffentlicht diese Essays in den kommenden Wochen.

 

Photo by Shunya Koide on Unsplash

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