Die zwei Seiten von Law & Order – Über die kulturelle Diskrepanz von Bildern

von Sandra Beck

 

Es klafft ein Abgrund zwischen zwei Arten von Bildern – zwischen den mit Handykameras aufgezeichneten und live gesendeten Aufnahmen brutaler Übergriffe US-amerikanischer Polizist*innen und den in Serie geschalteten Fiktionen der police procedurals, den zahllosen Kriminalserien und -filmen, mit ihren empathischen, allzu menschlichen Ermittler*innen. Kathryn VanArendonk referiert dieses Nebeneinander von faktualen und fiktionalen Bildern in ihrem Artikel „Cops Are Always the Main Characters“:

At 8 p.m. on Saturday, at the same time CNN, MSNBC, and FOX News were airing live coverage of the nationwide protests against police violence, cable audiences also had other options for what to watch. On PopTV, there was a marathon of NCIS: New Orleans. On WE, Criminal Minds. On WGN, Blue Bloods. On Ion, Law & Order: SVU. And on USA, a marathon of Chicago PD that began 11 hours earlier and continued until Sunday morning, followed by an episode of CSI.

Die Wahlmöglichkeit zwischen faktualer Dokumentation und fiktionaler Repräsentation ist in dieser Zuspitzung auch eine Wahl zwischen politischer Information und Teilhabe am Zeitgeschehen einerseits, und einem eskapistischen binge watching andererseits. Die Zuschauer*innen der procedurals werden buchstäblich auf das heimische Sofa gebannt – in einer Haltung konsumierend-identifikatorischer Stillstellung, die jedwede gesellschaftspolitische Aktivität unterbindet. Es ist der Gegensatz zwischen der Konfrontation mit einer gesellschaftlichen Realität am „Siedepunkt der Enttäuschung“ und dem Versprechen immer neuer (Er-)Lösung in knapp 45 Minuten. Ein Wechsel des TV-Programms von der Fiktion zur Realität setzt das Publikum einer kategorial anderen als-ob-Erfahrung aus: imaginär nicht mehr Teil des Polizeikorps, seiner Geschichten und seines Wertekosmos zu sein, sondern plötzlich als ‚die Anderen‘ den geschlossenen Reihen der „dedicated detectives“[1] gegenüberzustehen. Adrian Daub hat diese Zusammenhänge im Blick, wenn er die eskalierenden Proteste mit der zur Kenntlichkeit entstellten Glorifizierungsfloskel der Serie Law & Order: Special Victims Unit kommentiert:

In the criminal justice system crimes consisting of simply being in a public place are considered especially heinous. The dedicated detectives who prosecute these crimes ought to be ashamed of themselves. https://t.co/8NpZVeur4z

— Adrian Daub (@adriandaub) June 3, 2020

Der Abgrund zwischen den Bildern ist auch deswegen schier unüberbrückbar, weil kriminalliterarisches Erzählen in den ungemein beliebten police procedurals kaum von Korruption, systemischem Rassismus und Polizeigewalt erzählt. Obwohl diese Leerstellen von TV-Produktionen wie When They See Us (2019, Netflix) oder dezidiert multiperspektivischen Erzählformaten wie American Crime (2015–2017, ABC) nach und nach gefüllt werden, folgt die Masse der in Serie gegangenen Kriminalerzählungen einer anderen Logik. Ihre Erzählstruktur ist darauf zugeschnitten Zuschauer*innen zu überzeugen, sie würden als Teil der Polizei ähnlich denken, fühlen und handeln. Damit steht die Frage nach den gesellschaftspolitischen Auswirkungen der police procedurals als einer Schule der Empathie im Raum. Zentrales Ziel dieses Curriculums scheint es zu sein, kritische Systemfragen umso nachhaltiger auszublenden, je ausführlicher über die emotionalen Belastungen der Ermittler*innen gesprochen wird.

Vor diesem Hintergrund aktualisiert sich mit neuer Schärfe eine bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Debatte über den ästhetischen und ethischen (Un-)Wert eines Genres, das traditionell den Anspruch erhebt, nicht nur realistisch zu erzählen, sondern auch realistisch zu sein. Die Vorstellung, es handele sich um ein besonders wirkungsvolles Erzählformat mit direkten, handlungsanleitenden Effekten auf die außerliterarische Wirklichkeit, lässt den Genrekonsum immer wieder verdächtig werden. So stellte etwa Béla Balázs 1922 in der Roten Fahne den Detektivroman aus marxistischer Warte als „Schlacke kapitalistisch-kleinbürgerlichen Denkens und Empfindens“ vor. Die Detektivfigur erscheint folgerichtig als „heilige[r] Georg der besitzenden Klasse“.[2] G.K. Chesterton dagegen pries das Genre in seiner Defence des detektivisches Erzählen von 1901 als „agent of the public weal“. Denn es konzentriere unsere Aufmerksamkeit auf jene „unsleeping sentinels, who guard the outposts of society“, die Chesterton gar als „knight-errantry“ verstanden wissen will.

Man muss diese romantisierende Überhöhung der Ermittlerfigur in der modernen Großstadt als Rezeptionsvorgabe ernst nehmen. Nur so lässt sich die Signatur kriminalliterarischen Erzählens in der Gegenwart verstehen – eine monoperspektivische Verengung auf die Wahrheit der Ermittlungsbehörden und die sie narrativ absichernde Affektpolitik. Vom einstigen Streben der (spät-)aufklärerischen Kriminalerzählung, die ‚innere Geschichte‘ der Verbrecher*innen im empathisch gespannten Blick auf die Umstände der Tat zu entschlüsseln, ist wenig geblieben.[3] Statt die Wahrheit der Täter*innen in prototypischen Beicht- und Geständnisszenarien aufzuzeichnen und die Umstände der Tat zu bedenken, wendet sich das Genre einseitig der Aufklärungsgeschichte und den Techniken der Wahrheitsfindung zu. Die Schuldigen sind allenfalls noch anwesend in den von ihnen verursachten materiellen Einprägungen in die Objektwelt, die es als Spuren der Tat zu deuten gilt. Nur die Ermittler*innen dürfen in diesen Erzählungen ‚echte‘ Menschen sein, die Gejagten und zu überführenden Schuldigen sind reine narrative Mittel.

Zu beobachten ist ein programmatischer Blickwechsel von der anthropologisch grundierten Analyse des verbrecherischen Herzens zu den Tiefen der Ermittlerseele. Während die Sherlock Holmes-Erzählungen Arthur Conan Doyles in ihrer anti-psychologischen Zuspitzung ein Gleichgewicht gefunden hatten zwischen der Detektivfigur als „Personifikation der ratio“ und den allenfalls mit „Seelenfetzen“[4] ausgestatteten Täter*innen, zieht im weiteren Verlauf der Genreentwicklung die ehemals als „Sachwalter des fragenden Lesers“[5] funktionalisierte Figur immer mehr narrative Energien auf sich. An die Stelle der thinking machine, die schon Friedrich Glauser als „Schlaumeier mit der Blümchenlösung im Knopfloch“[6] verspottete, treten Ermittler*innen mit einem Privatleben und einer Geschichte.

Wir wissen mehr über die kompliziert Beziehung Kurt Wallanders zu seiner Tochter als uns lieb sein kann (Henning Mankell), wir sitzen mit der Familie Brunetti regelmäßig am Abendbrottisch (Donna Leon), wir wissen um die traumatischen Versehrungen alkoholsüchtiger Ermittlerinnen (Oliver Bottini) – anders formuliert: Die Detektivfiguren treten uns mittlerweile nicht mehr als flache Typen, als strikte narrative Verkörperung von Rationalität entgegen, sondern präsentieren sich als ausgearbeitete, vielschichtige Charaktere, die von privaten Sorgen und beruflichen Belastungen emotional und psychisch betroffen sind. Es ist nicht mehr allein die Rätselspannung des whodunit und whydunit, die Lektüregenuss verspricht. Vielmehr laden ebenso die in ihrer individuellen Betroffenheit und Verletzlichkeit gezeigten Detektivfiguren zu identifikatorischen Lektüren ein.

Diese Konzentration auf die Ermittlerseelen hat ihren Preis, wie VanArendonk betont: „As TV viewers we are locked inside a police perspective, harnessed to their needs, desires, and daily rhythms.“ Während uns die Untersuchungsrichter-Erzählungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts Ermittlungsfiguren zeigten, die in einem beständigen Widerstreit zwischen subjektiver Anteilnahme und als Amtspflicht verordneter Objektivität mit einem von Tränen getrübten Blick ein Verbrechen zu lösen versuchten, kennen die police procedurals der Gegenwart diese Ambivalenz vornehmlich als folgenreiche Emotionalisierungsstrategie.  

Sie spielen in einer fiktiven Welt, in der Polizeibeamt*innen durch juristische Regelungen oder die Intervention von Journalist*innen und Vertreter*innen von Interessengruppen oder inkompetente Vorgesetzte in einem schwerfälligen bürokratischen Apparat an der effizienten Ausübung ihres Jobs gehindert werden. In diesem Erzählkosmos ist eine peinliche Einhaltung der Dienstvorschriften der Wahrheitsfindung ebenso abträglich wie öffentlicher Druck. Moralisch aufgefangen wird diese Repräsentation, indem die mit einem biographischen Hintergrund ausgestatteten Ermittler*innen auf einen individuellen Wertekosmos verpflichtet werden. Allein ihrem Privatethos ist es zu verdanken, wenn auch diejenigen Fälle verfolgt werden, die andernfalls vom System mit einem gleichgültigen Achselzucken fallen gelassen würden.

In Folge dieser Modellierung der Polizeibeamt*innen als selbstlose, um gerechte Bestrafung ringende Retter, die in ihrer Arbeit bis an die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit gehen, während sie mit ihren individuellen Dämonen ringen, erscheinen Transgressionen und Rechtsbrüche als bedauernswert, aber eben auch notwendig. 

Die serielle Taktung von Formaten wie Law & Order: Special Victims Unit– seit 1999 mit aktuell 472 Folgen in 21 Staffeln, 2020 um drei weitere Staffeln verlängert – bedingt zusätzlich, dass die Täter*innen kaum psychologisches Profil gewinnen, während wir die Vertreter*innen der Polizei und der Staatsanwaltschaft nach und nach als alleinerziehende Adoptivmütter, in Scheidung lebende Ex-Marines, trockene Alkoholiker oder an Spielsucht leidende Menschen kennen lernen. Kurz: Police procedurals sind der in Serie gegangene Beleg, dass man jene von Vince Gilligan für Breaking Bad formulierte Frage: „We want to make people question who they’re pulling for, and why“ unausgesprochen stellen und gleichzeitig unterdrücken kann.

Denn police procedurals haben uns kontinuierlich gezeigt, dass ein erfolgreicher Abschluss von Ermittlungen und ein juristischer Schuldspruch durch den Bruch verfassungsmäßig garantierter Rechte erreicht werden kann. Sie haben uns wieder und wieder vor Augen geführt, dass allein die biographisch bedingte Anteilnahme der einzelnen Ermittler*innen und ihr zufälliges Engagement entscheidet, ob eine Anzeige weiter verfolgt wird. Sie erinnern uns in Serie, dass nur das individuelle Ethos der Serienermittler*innen die selbstgerechte Anmaßung ausbalanciert, für den Dienst an der Wahrheit sich von den eigenen Vorurteilen leiten wie auch den eigenen Emotionen von Frustration, Verzweiflung und Wut ihren Lauf zu lassen.

Sie haben ein Erzählmodell popularisiert, in dem nur die Distanzierung von den eigenen Anwält*innen und vollumfängliche Kooperation mit den Behörden ein angemessenes Urteil ermöglicht. Angesichts der emotional aufgeschlossenen, affektiv ansprechbaren und empathischen Ermittler*innen der SVU in ihrer Doppelrolle als Mitmenschen und Amtsinhaber*innen und eingefangen von diesen erzählstrukturellen Emotionalisierungsstrategien ließ sich die Frage verdrängen, was passiert, wenn sie Menschen nicht mögen, wenn sie sich nicht mit ihnen identifizieren, wenn sie an ihnen schuldig geworden sind.

Versteht man die entworfenen Bilder der cop shows als gesellschaftspolitische Wunschbilder, so bleibt ein widersprüchlicher Befund. Die Tatsache, dass die wiederkehrenden Fälle von rassistischer Polizeigewalt mit privaten Handykameras aufgezeichnet und so für die Öffentlichkeit sichtbar werden, in den am Standard-Format des Law & Order-Franchise orientierten police procedurals aber kaum eine Rolle spielen, lässt nicht nur die Schlussfolgerung zu, dass die Schule der Empathie für Systemfragen keinen Erzählraum schaffen will und soll. Denn folgt man der internen Logik dieser Erzählformate, so legen die aus politischen Gründen gezielt ausgeblendeten Themen in der erzählten Welt eine beunruhigende Wahrheit offen. Wenn die Aufklärung von Verbrechen derart umfassend individuellem Engagement anheimgestellt wird, wenn die Aufnahme von Ermittlungen so sehr auf der kontingenten Bereitschaft fußt, zwischen sich und den Opfern ein Gemeinsames zu entdecken, dann lässt sich die mangelnde Auseinandersetzung mit Korruption, Korpsgeist und Rassismus auch verstehen als ehrliches Eingeständnis einer erschreckenden Wahrheit: They just don’t care.

 

 

 

[1] „In the criminal justice system, sexually based offenses are considered especially heinous. In New York City, the dedicated detectives who investigate these vicious felonies are members of an elite squad known as the Special Victims Unit. These are their stories.“

[2] Béla Balázs: Der Detektiv-Roman [1922]. In: Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton (1918–1933). Hrsg. von Manfred Brauneck. München 1973, S. 146–149, hier S. 148 und S. 147.

[3] Wie immer gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Die Romane Tana Frenchs etwa zeichnen sich gerade durch ihren psychologisch genauen Blick für die Vorgeschichte der Tat aus.

[4] Siegfried Kracauer: Der Detektiv-Roman. Eine Deutung [1922]. In: Ders.: Werke, Bd. 1. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Frankfurt/Main 2006, S. 107–212, hier S. 141 und S. 127.

[5] Richard Alewyn: Anatomie des Detektivromans [1968/1971]. In: Der Kriminalroman. Poetik – Theorie – Geschichte. Hrsg. von Jochen Vogt. München 1998, S. 52–72, hier S. 60.

[6] Friedrich Glauser: Offener Brief über die „Zehn Gebote für den Kriminalroman“ [1937; unpubliziert]. In: Ders.: Gesprungenes Glas. Das erzählerische Werk. Bd. IV: 1937–1938. Hrsg. von Bernhard Echte. Zürich 1993, S. 213–221, hier S. 218.

 

Photo by ev on Unsplash

 

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