Und seitab liegt die Stadt: I. Herkunft

von Daniela Dröscher und Senthuran Varatharajah

 

Im Eröffnungsvortrag des Festivals »Und seitab liegt die Stadt: I. Herkunft«, der hier exklusiv vorab erscheint, fragen Daniela Dröscher und Senthuran Varatharajah nach der Bedeutung von Herkunft im gegenwärtigen Literaturbetrieb und laden die eingeladenen Autor*innen dazu ein, »die Rede zu wenden«, und das, was in ihr verdrängt, vergessen, verschwiegen, verleugnet, verneint wurde, zur Sprache zu bringen. Das Festival findet am 23. und 24. April 2020 auf der Seite www.lcb.de/seitab sowie über die Facebook- und Twitter-Accounts des Literarischen Colloquiums Berlin statt.

 

»Wo kommen Sie her?« Wir alle kommen irgendwo her – ob wir wollen oder nicht. Roger Willlemsen gab der Literaturkritikerin Insa Wilke einmal einen intimen Einblick in sein poetologisches Selbstverständnis und literarisches Selbstbewusstsein, als er auf diese Frage – mit lakonischer Eleganz, und vielleicht auch mit Trauer – antwortete: »aus der Sprachlosigkeit.«

Schriftsteller·innen wissen: dieser Satz ist wahr.

Wir wissen auch: dieser Satz ist nicht alleine wahr.

Der Begriff ›Herkunft‹ bestimmt – explizit und implizit – immer noch unseren politischen Diskurs. Es gibt genug Beispiele. Sie liegen auf der Hand. Auch im deutschsprachigen Diskurs über Literatur wird Herkunft als doppeltes Thema verhandelt: Entweder bezieht er sich auf eine geographische oder auf eine soziale Tatsache. Und dennoch: Obwohl literarische Texte, die von Migration, Flucht und vertikaler Mobilität erzählen, bei Independent- und großen Publikumsverlagen veröffentlicht werden, scheint ein Sprechen über den Begriff ›Herkunft‹ in dem, was man den ›deutschsprachigen Literaturbetrieb‹ nennt, kaum stattzufinden. Über ›Diversität‹, verstanden als ein demokratischer Anspruch und nicht als kapitalistische Demonstration, wird in Hinblick auf Literatur erst seit Kurzem gesprochen.

Der deutschsprachige Literaturbetrieb ähnelt darin einer gesamtdeutschen Situation: in ihm spiegelt sich eine größere Ordnung wider. Die ostdeutsch sozialisierte Autorin Sabine Rennefanz erlebte Westdeutschland nach der Wende als »ein Land, das so tat, als seien die Millionen Ausländer gar nicht da.« Deutschland erkannte erst erschreckend spät an, ein sogenanntes ›Einwanderungsland‹ zu sein: Noch im Jahr 1996 verwahrte sich der CDU-Innenminister Manfred Kanther dagegen, Deutschland so zu bezeichnen.

Das einzige Zugeständnis der Literatur an die ›Fremden‹ schien lange Zeit der Adelbert-von-Chamisso-Preis zu sein, eine Auszeichnung, die von 1986 bis 2017 an auf Deutsch schreibende Autor·innen ›nichtdeutscher Sprachherkunft‹ verliehen wurde. Mit den Jahren aber wurde diese Auszeichnung zurecht immer kontroverser diskutiert. Elisabeth Endes sprach einmal kritisch davon, dass man Schrifsteller·innen mit dem berühmtem ›Migrationshintergrund‹ zu »liebenswerten Exoten« stilisiere und sie überdies darauf reduziere, authentisch Auskunft zu geben aus der und über die ›Fremde‹. Schrifsteller·innen wie Emine Sevgi Özdamar, Libuše Moníková, Rafik Schami und Terézia Mora unterlagen dem Gebot der Authentizität, wonach Werk und Autor zur Deckung kommen müssten. Als etwa Saša Stanišić es im Jahr 2014 wagte, einen Roman über ein Dorf in der Uckermark zu schreiben, warf Maxim Biller ihm eine offenbar dazu noch als ›unmännlich‹ empfundene Anpassung an den Mainstream vor.

Seit der sogenannten Flüchtlingskrise im Sommer 2015 jedoch hatte sich das Sprechen über geographische Herkunft im Literaturbetrieb und im literarischen Diskurs verändert: Es werden seitdem zunehmend mehr Romane von Autor·innen veröffentlicht, die mit ihrer Familie nach Deutschland geflohen oder eingewandert sind, die in Deutschland nach der Flucht oder der Migration ihrer Eltern geboren wurden, und die über diese Erfahrungen – mittel oder unmittelbar – schreiben, ohne aber zu Repräsentant·innen ihrer jeweiligen Kultur reduziert zu werden. Vielmehr geraten die Texte unabhängig von ihrem Thema als Literatur in den Blick, sprich: in ihrer Form und ästhetischen Eigensinnigkeit

Zwei Ereignisse in der Geschichte der deutschsprachigen Literatur und Literaturkritik veränderten wiederum das Sprechen über die soziale Bedeutung des Begriffs ›Herkunft‹: die von Florian Kessler 2014 angeregte sogenannte ›Arztsohn-Debatte‹ und die deutschsprachige Veröffentlichung von Didier Eribons Rückkehr nach Reims im Jahr 2016. Interessanterweise war es gerade ein französischer Autor, der hierzulande eine breite Debatte über soziale Herkunft und Klassenbewusstsein initiiert hat: Das Sprechen über Klasse brauchte also wiederum den Umweg über Frankreich, und alles Französische markiert hierzulande selbst einen ›feinen Unterschied‹, ist es doch konnotiert mit Noblessse, Chic und haute volée, selbst noch bei diesen Themen. Richard Kämmerlings attestierte Eribon auch sogleich einen »Adel von unten«.

Seit Eribon gibt es zumindest in Ansätzen ein Bewusstsein für die Relevanz der Kategorie ›class‹ sowie ihre Verflechtungen mit den Kategorien ›race‹ und ›gender‹. Selim Özdogan etwa konstatiert in seinem viel diskutierten Text Die Geschichte mit der Herkunft: »Literatur entsteht hauptsächlich in einer bildungsbürgerlichen Mitte und das wird weiterhin so bleiben.« In Anspielung an Michel Foucaults Vorschlag zu einem »Jahr ohne Namen« – also der Idee, ein Jahr lang ausschließlich Texte ohne Nennung des Autor·innennamens zu veröffentlichen – zitiert er Matthias Warkus, der vorschlägt: »Bin dafür, dass wir alle Leute mit reichen Eltern ein Jahr lang keine Romane veröffentlichen lassen und dann nochmal schauen, wie der Buchmarkt aussieht.«

Auch diese Aneignung, so augenzwinkernd sie gemeint ist, birgt bereits die Gefahr der neuerlichen Exotisierung und einer Verengung hin auf das authentisch schreibende ›Arbeiter·innensubjekt‹. Und wie, wenn überhaupt, würden diese Stimmen gehört werden? Hito Steyerl fragte in ihrem Vorwort zu Can the subaltern speak?: »Ist die Arbeiterklasse heute subaltern?« Und beantwortete die Frage mit: Ja, sie ist subaltern. Nein, sie kann nicht sprechen. Jeder Versuch, so ihre Argumentation, als sozial Deklassierte eine Stimme zu entwickeln, käme einer »Lippensynchronisation der ›Experten‹« gleich – insofern der Resonanzraum der Hochkultur ein in jeder Hinsicht weißer Raum ist.

Eine weitere entscheidende Kategorie, welche die Funktion ›Autor·in‹ massiv reguliert, ist die der geschlechtlichen Identität.  Während man anderswo Ikonen des Feminismus erkannte und anerkannte, reduzierte man in Deutschland Autorinnen zu ›Fräuleinwundern‹. Lange Zeit war der deutsche Literaturbetrieb nicht nur unhinterfragt weiß und bildungsbürgerlich, sondern auch unhinterfragt patriarchal und damit heterosexuell – als hätte Judith Butler ihren Gender Trouble nicht geschrieben. Antje Rávik Struwel, Yōko Tawada oder Gunther Geltinger sind in ihrer Thematisierung von LGBTQ-Lebenswelten Pionier·innen. Und wie ist es heute? Während an deutschsprachigen Hochschulen das Bewusstsein für Diversität und gendersensible Sprache unlängst Einzug erhalten hat und Margarete Stokowski im deutschen Feuilleton das Ende des Patriarchats ausrufen kann, scheint die Literaturkritik mit diesen Fragen bisweilen nicht nur zu fremdeln, sondern explizite Abwehrstrategien dagegen zu entwickeln.

Das erstaunt nicht weiter. Denn es ist genau diese Trias aus Sexismus, Rassismus und Klassismus, die sich zu einem unentwirrbaren »Herrschaftsknoten» zusammenzieht, so der Begriff von Frigga Haug. Ein wesentliches Anliegen unserer Konferenz ist deshalb zum einen eine intersektionale Perspektive. Wir verstehen ›Herkunft‹ als einen vielschichtigen und in sich verzweigten Begriff. Verkürzt gesagt: eine Herkunft haben wir alle – selbst bildungsbürgerlich sozialisierte, westdeutsche Schriftsteller·innen ohne ›Migrationshintergrund‹. Nur konnte man sich mit dieser einen spezifischen Herkunft eben lange Zeit als unsichtbare Norm inszenieren und wahlweise, wie Naika Foroutan zeigt, ostdeutsche oder migrantische Identitäten abwerten. Eine »Critical Westdeutschness« (Matthias Warkus & Peter Neumann) ist damit in jeder Hinsicht überfällig. Gerade mit Verweis auf die vielen Schriftsteller·innen – ostdeutsch wie westdeutsch –, deren Familien durch die Geschichte von Flucht und Vertreibung geprägt sind, plädiert auch Deniz Utlu für einen weiten Gebrauch des Begriffs ›Migration‹: »Einen migrantischen Hintergrund hat so ziemlich jeder Mensch in diesem Land (…), (nur) findet (sie) sich nicht krampfhaft thematisiert, widerspricht nicht dem ›Deutschsein‹. (…).«

Doch immer wieder ist es die Herkunft, die ganzen Bevölkerungsgruppen zum Vorwurf gereicht. Der rassistisch motivierte Terroranschlag von Hanau wurde sprachlich vorbereitet. Forderungen nach »neue[n] Grenzen des Sagbaren« gehören, wie Hasnain Kazim bemerkt, spätestens seit dem bundesweiten Wahlerfolg der AfD zum publizistischen Tagesgeschehen. Es war und ist schon immer eine Fähigkeit von Schriftsteller·innen gewesen, die Sprache, in der sie schreiben, in einer Art kritischen Intimität zu überprüfen – jenseits von Debatten um Political Correctness, Sprechverbot und Zensur.

Auch deshalb haben wir Schriftsteller·innen dazu eingeladen, sich dem Thema ›Herkunft‹ anhand von Redewendungen zu nähern. Also »die Rede zu wenden«, und das, was darin verdrängt, vergessen, verschwiegen, verleugnet, verneint wurde, zur Sprache zu bringen. Es sind durchaus gewaltvolle Idiome darunter – so gewaltvoll wie die sprachlichen Zurichtungen durch spezifisch deutsche Formen von Rassismus, Sexismus und Klassismus.

Die Texte unserer Gäste arbeiten mit ethischen Reflexionen, ohne je ihren ästhetischen Anspruch eines poetischen Schwebens aufzugeben. Die Frage, die sie an uns und sich selbst stellen, ist nicht: »Was und worüber darf ich schreiben?«, sondern: Wie und worüber möchte ich schreiben – um aus der Sprachlosigkeit, aus der wir alle kommen, zur Sprache kommen zu können?

Beitragsbild von Ivan Bandura

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