Chronik: Januar 2021

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i would like to cancel this culture https://t.co/HPbFvKjerM

— Sham Jaff (@sham_jaff) January 31, 2021

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Wir Leben in einer Zeit unliebsamer Überraschungen, um es vorsichtig auszudrücken. Wenn etwa die Autorin Marlene Streeruwitz den Monat damit beginnt, einen von ihr diagnostizierten “Hygienestaat”, der uns mit seinen “Massentests” die Grundrechte entzieht mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen, dann ist das 1. überraschend und 2. unliebsam; vielleicht sogar erschreckend. Streeruwitz schreibt: “Aber das war genau das, was die Nürnberger Rassengesetze erzielten: der Entzug der Bürgerrechte.” Wir leben auch in einer Zeit, in der die historische Analogie keinen guten run hat, aber das muss nun wirklich nicht sein.

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„Tja! Wieso geht ihre Mutter nicht in das Theater?!“ Das wurde die Autorin Şeyda Kurt in Bezug auf eine Kolumne einmal gefragt und sie entwickelt daraus in diesem sehr empfehlenswerten Text eine Kritik der patriarchalen Provokationskunst, die nach wie vor auf deutschen Bühnen gepflegt wird, wo man selten eine Gelegenheit auslässt, “irgendwen, am liebsten weibliche Figuren, nackt und vermeintlich hilflos vorzuführen.“ So lange kritische Fragen wie die folgenden, keine Antwort finden, werden Menschen ihren (zurecht) geliebten Flatscreen nicht verlassen.

Warum nehmen Theatermachende immer noch in Kauf, ihr Publikum mit darstellerischen Plattitüden von sexualisierter Gewalt zu belästigen, einen Teil von ihnen zu retraumatisieren und das Theater zu einem noch unzugänglicheren Raum zu machen? Vielleicht, weil es einfacher ist, die Vergewaltigung als ein absolutes, punktuelles Verbrechen mit Schock-Charakter darzustellen, anstatt ein dramaturgisches Gespür für die Zwischenräume und Dynamiken zu entwickeln, in denen sich (sexualisierte) Gewalt und Herrschaft schleichend und fast unbemerkt manifestieren (Bourdieu lässt grüßen). Dabei sind es gerade diese Zwischenräume, die zählen. Auch, weil sich in ihnen der Widerstand der Betroffenen einnisten und wachsen kann.

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Auf Twitter schreibt die Modeforscherin Cassidy Percoco immer wieder ausführliche und gut belegte Threads, in denen sie sich mit Modegeschichte auseinandersetzt oder kritisch analysiert, wie historische Kleidung beispielsweise in Fernsehserien umgesetzt wird (hier am Beispiel der Fernsehserie “Bridgerton”). Anfang Januar denkt sie über das Sticken als Motiv in Gegenwartsfiktionen nach und Ende Januar analysiert sie die historische Verwendung von blauer und pinker Kinderkleidung und weist auf einige populäre Missverständnisse hin:

This evening’s thread is going to be about the idea that „boys used to dress in pink and girls in blue, but then that switched for important symbolic/historic reasons,“ which is completely untrue yet very popular on the internet. pic.twitter.com/B2VCbcX1ZA

— Cassidy Percoco (@mimicofmodes) January 24, 2021

 

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Das Feuilleton lebt von frischen Ideen, möchte überraschen mit originellen und kühnen Einfällen. Warum also nicht mal einen Artikel aus der Perspektive von Sars-CoV-2, der mit den Worten beginnt: “Planet Erde – Ich bin nicht böse. Ich bin kein moralisches Wesen. Das solltet ihr verstehen, falls ihr mich verstehen wollt: Werte, wie ihr sie kennt, sind mir fremd.” Das scheint in dem Fall offenbar auch für den Planet Feuilleton zu gelten, sonst würde er auf solche frivolen Gedankenspiele in Zeiten realen Elends vielleicht verzichten. Aber im Rausch einer guten Idee ist Verzicht vielleicht auch einfach unmöglich. Und so entlässt uns der Artikel in den gnadenreichen Fadeout der Paywall mit dem menschengemachten Selbstlob des Virus: “Ich bin das, was ihr einen guten Beobachter nennt. Eigentlich der beste, ein intimer Menschenkenner.” Dazu dann herzlichen Glückwunsch!

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Feuilletonboy Platin, wenn du diese ganze Sache beschreiben willst und dabei vom römischen Reich über Psychoanalyse bis Bruce Springsteen irgendwelches Zeugs droppst aber vergisst zu erwähnen dass es sich um gewalttätige Faschos gehandelt hat weil für dich alles nur Theater ist https://t.co/j4kYaTVoBF

— Margarete Stokowski (@marga_owski) January 8, 2021


Am 6. Januar stürmte eine gewalttätige rechtsradikale Gruppe das Kapitol, um zu verhindern, dass die Wahl von Joe Biden zum Präsident der USA bestätigt wird. Mit dabei war auch ein Mann in einem absurden Fellostüm, der schnell zur Ikone dieses Ereignisses wurde. Das reizte in der FAZ zu einem Sturm an gelehrten Assoziationen: von den unvermeidlichen Griechen Homers bis hin zu Bruce Springsteen. Margarete Stokowski hat dafür die gute Formulierung “Feuilletonboy Platin” gefunden. Und vielleicht wäre es Zeit, das kulturjournalistische Format zu überdenken, das ein zeitgenössisches Ereignis mit zufälligen historischen Bezügen abschießt. 

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Deutschester Moment in der Literatur wo Gregor Samsa als Käfer aufwacht und seine größte Sorge ist, wie er so zur Arbeit kommt.

— MittiLevel2 (@MittiLevel2) January 9, 2021

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Es scheint als wolle der WDR seit dem zweifelhaften Umgang mit dem “Umweltsau”-Lied jedes Jahr mit einem neuen Griff ganz tief in die Kiste mit den Ressentiments und Skandalen beginnen, wie anders sollte man sonst die Talkrunde von Die letzte Instanz erklären, die sich vergangene Woche zum rassistischen Stelldichein traf. Da saßen – immerhin pandemieadäquat durch Scheiben getrennt – Thomas Gottschalk, Janine Kunze, Micky Beisenherz und Jürgen Milski unter der Leitung von Steffen Hallaschka und tauschten sich über etwas aus, von dem sie offenkundig keine Ahnung und an dem sie kein Interesse haben: rassistische Diskriminierung. Die Ausschnitte, die mit angemessener Empörung geteilt wurden, lassen darauf schließen, dass selbst an dem berühmt-berüchtigten “Stammtisch” das Niveau inzwischen höher sein dürfte. 

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Wie kann die überhitzte, fragmentierte Debattenkultur in Deutschland gerettet werden? Das ZDF hat sich dafür ein sehr schlechtes Format ausgedacht, das den intellektuellen Austausch auf das ungefähre Niveau einer Partie Brennball reduziert. In “13 Fragen” müssen die Kombatant*innen sich auf einem Spielbrett positionieren, je nachdem wie sie die 13 Suggestivfragen des Moderators beantworten. Das wäre alles unerheblich, wenn man sich nicht den des ausgedachten Themas “Cancel Culture – Meinungsfreiheit in Gefahr?” angenommen hätte. Gleich zu Beginn bringt der Moderator das Problem in der Schwundstufe der vom Deutschunterricht etablierten Erörterung auf den Punkt: “Müssen wir alle aufpassen, was wir sagen in der Öffentlichkeit, zumindest, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, von dem digitalen Mob gelyncht zu werden?” Hier wäre bereits einzuhaken und die Gegenfrage zu stellen: Ist es schon Cancel Culture, darauf hinzuweisen, dass eine dermaßen historisch unangemessene Verwendung des Wortes “lynchen” ein Problem ist? Vor lauter Freude an der Debatte, am freien Austausch der Meinungen, am spielerischen Markt der diskursiven Möglichkeiten, am bunten Basar etc. hatte man offenbar leider übersehen, dass es sich bei dem Gast Gunnar Kaiser um eine extrem problematische Figur handelt (einfach mal googeln). Wahrscheinlich ist Lisa Eckhart inzwischen zu teuer. Da steht dann auch – Thema Cancel Culture – die Frage im Raum, ob die anderen Teilnehmer*innen nicht einfach mal hätten sagen können, nein, ich stelle mich nicht mit allen auf ein Spielbrett.

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Der Druck, jeden Tag ein Ressort bis oben hin mit Text aufzufüllen, hat in Zeiten des Debattenfeuilletons dazu geführt, dass bestimmte Themen immer wieder aus der einen Tupperdose geholt werden, die schon verdächtig lange hinten im diskursiven Kühlschrank lagert:

Es muss ja ganz schön anstrengend sein, sich im Feuilleton jede Woche einen neuen Take gegen geschlechtergerechte Sprache auszudenken. pic.twitter.com/qiemnRcYpu

— teresa bücker (@teresabuecker) January 20, 2021

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Einen beeindruckenden Essay haben wir auf dem Blog der Kulturpolitischen Gesellschaft (KuPoGe) gefunden. Darin schreibt die Schriftstellerin Karosh Taha über ihre Erfahrungen mit dem deutschen Literaturbetrieb, darüber, was es bedeutet, dass hinter den Kulissen meistens immer noch “Chirurgensöhne” das Sagen haben und wie sie selbst das eigene Schreiben an die Erwartungen einer Mehrheitsleseschaft angepasst hat. Ihre Erkenntnis “Der Literaturbetrieb vernichtet die Literatur” ist nur einer von einigen pointierten, treffenden Sätzen in einem Essay, der Fragen stellt und teilweise beantwortet, die jeden interessieren sollten, der eine Literatur will, die heterogener ist als die jetzige.

Würde man den Kanon abschaffen, würde man Goethe und Schiller und Büchner für eine Dekade aus dem Gedächtnis löschen, würde auch der Betrieb aufhören, nach der Stimme einer Generation zu suchen, endlich aufhören junge Männer, die nichts zu sagen haben, diese jungen Bohémien, diese Chirurgensöhne, zu feiern. Ich kenne die Gefühls- und Gedankenwelt dieser jungen Männer, in wie vielen Variationen soll ich das noch lesen? Keiner wird den nächsten Werther schreiben, er wurde schon geschrieben.

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Die Wunschliste der Dinge, von denen man im Jahr 2021 weniger sehen will, ist lang. Aber recht weit oben finden sich Überdruss und Müdigkeit für alle Diskurse, die mit Lisa Eckhart zu tun haben, und die im letzten Jahr gefühlte 800 ängstliche Leitartikel darüber hervorgebracht haben, ob man denn noch etwas sagen darf. Zumal die so hart gecancelte Kabarettistin unverdrossen in alle Medien eingeladen wird, und so müssen wir beim Scrollen durch die Twitter-Timeline feststellen, dass der Wunsch nach weniger Nachrichten aus der bunten deutschen Comedy Welt uns nicht erfüllt wird. Denn schon im Februar wird der Spiegel unter der Führung eines Redakteurs und eines Philosophen (beide garantiert neutral zum Thema) erneut viel Platz dafür freiräumen, um darüber zu klagen, dass niemand mehr etwas sagen darf. Besonders beeindruckend fanden wir in diesem Kontext auch den Kommentar eines Users, der im August 2020 mal damit angefangen hat, alle Interviews der mundtot gemachten Lisa Eckhart zu sammeln und im September wegen Arbeitsüberlastung wieder aufgehört hat.

Ich hab mal angefangen, die Interviews mit Lisa Eckhart mitzuschrieben.

Ist mir aber zu viel Arbeit geworden. pic.twitter.com/MGjsvraAeR

— Christoph Schattleitner (@Schattleitner) January 22, 2021

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Als Thomas Hettches Roman Herzfaden im letzten Jahr erschien, wurde er allerorten sehr huldvoll besprochen und stand auch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. In einem ausführlichen Rezensionsessay wundert sich Katharina Teutsch über diese Rezeption, denn bei dem Roman handele es sich ihrer Meinung nach um “Entnazifizierungskitsch”. Anhand einer ausführlichen und subtilen Analyse, die auch einige ziemlich irritierende Zitate und Szenen aus dem Roman zusammenstellt, kann die Autorin zeigen, wie unangemessen sich Herzfaden dem Thema der nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzt. “Hängen”, sagt Teutsch, “die verstrickten Deutschen bei Hettche schon im Museum für moralische Atrozitäten, wo man sie herzeigt, wie seltsam verzauberte Kreaturen, Opfer ihrer Umstände?” 

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In der SZ fragt sich ein Autor, warum nicht alle am eigenen Schreibtisch arbeiten und die Türen zumachen, dann müssten Home-Office und Home-School doch gehen.

Das ist dann so das Niveau.

— Max.Buddenbohm (@Buddenbohm) January 25, 2021

Die kolumnistische Vernunft ist immer auf der Suche nach einem Thema, oft verzweifelt: Worüber als nächstes schreiben, wenn einem nichts einfällt? Zum Beispiel darüber, dass es doch verwunderlich ist, dass in Pandemiezeiten gestresste Eltern sich mit ihren Kindern um den Küchentisch scharren, anstatt sich gefälligst einen Schreibtisch zu kaufen (gibt’s schon ab 40 Euro) und einfach mal die Türen hinter sich zuzumachen. Der gegenwärtige Kolumnismus sieht vor, dass es für so einen Text dann gewaltigen Ärger gibt, der dann zu einer Klarstellung führt und sicherlich zu den nächsten Kolumnen, und so geht es einfach immer weiter…

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Sandra Gugić hat das Buch Frausein von Mely Kiyak gelesen und ist dabei auf diese Sätze gestoßen: „Ich wollte keine Frau sein, die Kinder hat und schreibt. Keine, die eine Ehe führt und schreibt. Keine, die eine andere Tätigkeit ausübt und auch schreibt. Ich wollte nicht von allem etwas, sondern von dieser einen Sache alles. Wenn mich jemand fragt, was machst du, wollte ich antworten: Ich schreibe.” Aus der Irritation über diese Sätze entwickelt Gugić die Kritik einer bestimmten klischeehaften, aber nach wie vor sehr wirkmächtigen Vorstellung davon, wie Schreiben überhaupt gelingen kann:

Es geht um die schiefen verbrauchten Bilder, die Mär eines unabhängigen Menschen, dem entweder der Rücken (von Alltäglichem) freigehalten wird oder der in privilegierter Weise mit dem Rücken zur wirklichen Welt steht und sich weitgehend ungestört seinem Schaffen widmen kann. Diese in den Köpfen hartnäckig festsitzende Klischeevorstellung bedeutet für alle anderen, bei denen das nicht der Fall ist, die vorhandenen Zumutungen der künstlerischen Produktionsbedingungen letztlich akzeptieren zu müssen. Oder eben keine Kunst, keine Literatur produzieren zu können.

 

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