Kategorie: Literarisches und Personal Essays

Dorothy Parker

Eine Erzählung von Sarah Raich

 

“Meine Kinder wollten ja unbedingt, dass ich mir einen Hund anschaffe.” Nora zog ihr Lächeln in die Breite. „Eine Katze“, sagte sie. „Ich habe eine Katze.“ „Jaja“, antwortete Frau Ritter. „Das ist natürlich auch nett. Eine Katze. Da hat man nicht so viel Verantwortung. Ich habe meinen Kindern auch gleich gesagt, ein Hund kommt mir nicht ins Haus. Die bellen ja auch immer so.“ Sie legte den Kopf schief und schaute in den Himmel hinauf, als könnte sie den Hund, den sie nicht hatte, irgendwo hinter sich kläffen hören. „Seit wann ist ihre Katze denn abgängig?“ „Seit einer Woche“ sagte Nora. Sie mochte nicht zugeben, dass sie es eigentlich nicht so genau wusste. Die Katze kam und ging, wie es ihr passte. Aber als sie vorgestern den Futterspender auffüllen wollte, hatte sie bemerkt, dass gar nichts fehlte. „Hmmm“ sagte Frau Ritter. „Ich lese ja lieber Bücher. Mein Mann hat auch so viel gelesen. Meine Tochter sagt immer, der Papa, der hat so viel Wissen mit ins Grab genommen, das ist eine Tragödie.“ Ihre schmale Brust hob sich unter einem schweren Seufzer. „Meine Tochter hat gesagt, mit dem Papa ist eine ganze Welt gestorben.“ Weiterlesen

Der unterschiedliche Verwitterungsgrad der Bauelemente

Eine literarische Erzählung von Jochen Veit

 

Das Haus stand allein gegen eine Architektur im Übergang zum Industriegebiet. Wenn man auf dem Balkon stand und über die Nachbarschaft blickte, konnte man nicht wissen, in welchen Gebäuden ein Mensch lebte und in welchen Chemie. Sie wohnten im einzigen Altbau der Gegend, die erste gemeinsame Wohnung, irgendwie waren sie oder war das Haus der Zeit entkommen. Richtig hatte er sich nicht gewöhnt an die hohen Decken, den Erker, die klimatischen Bedingungen, die ein rigoroses Lüftungs- und Heizregime nötig machten, um den Ausbruch des Schimmels an die Oberfläche zu verhindern. Weiterlesen

Aber nur dieses eine Mal

Tobias Premper war bereits vor fünf Jahren bei der ersten Lesung von 54stories in Berlin dabei. Im März diesen Jahres erschien der Nachfolgeband seiner Notizen „Das ist eigentlich alles“. Aus „Aber nur dieses eine Mal“ präsentieren wir mit freundlicher Genehmigung des Steidl Verlages einen Auszug.

18. Notizbuch

 

Er würde nicht in der Lotterie gewinnen und auch keine wohlhabenden Leute kennen lernen, die seine Kunst sammeln und ihn damit über die Zeit retten. Er würde kein Glück mit den Frauen haben und keine Karriere machen. Aber das sollte ihm erst später aufgehen, viel später, eigentlich erst dann, als es schon zu spät war.

 

Gestern, am 10.6.2010, ist Sigmar Polke gestorben. Ich male alle oberen rechten Ecken schwarz.

 

Traum: Mein Zahnarzt hat einen Playmobil-Tick und füllt mir mit allen möglichen Plastikteilen die Zähne. Er sagt: »Das hält besser, das hält besser.« Jetzt zieht er mir den angeschlagenen Schneidezahn und setzt dafür ein Playmobil-Pferdebein ein, das er sauber abschleift und weiß lackiert.

19. Notizbuch

 

Er sagte seinem Verleger, er würde seine Texte nicht vor Publikum in irgendeinem Literatur- oder Theaterhaus vortragen; in einer Höhle, ja, oder im Wald vielleicht.

 

20. Notizbuch

 

Ich beginne ein weiteres missglücktes Notizbuch.

 

Meine Freiheit nimmt zu mit den Worten, die ich schreibe, aber auch das Fremde und die Furcht.

 

Jetzt ist es dunkel geworden und still. Die Welt beginnt zu mir zu sprechen, und ich lege das Notizbuch beiseite und lausche ihr.

 

21. Notizbuch

 

Ein Mann seilte sich von seinem Privatzeppelin ab und trat auf ein Krokodil, das ihn aus traurigen Augen ansah. Dann verschwand der Mann im Dschungel.

 

22. Notizbuch

 

Vor mir ging ein Mann mit zwei Tüten in den Händen. Dann öffnete er eine Luke im Boden, ließ erst beide Tüten und dann sich selbst in das Loch fallen. Ich schloss die Luke wieder und blieb noch etwas darauf stehen, um sicherzugehen, dass er nicht mehr hinauskam.

23. Notizbuch

 

In der ganzen Gegend nur ein einziges Schild: Haltestelle Bahnhof. Als der Bus kommt (kein Abfahrtsplan und der Bus auch ohne Fahrtziel an der Stirnseite), frage ich den Fahrer, ob er auch zur Fähre nach Hiddensee fahre. »Ich fahre überall hin. Endstation, Ankunft in einer Stunde.«

Im Bus ruft ein Junge, der ganz hinten sitzt, zu einem Mädchen, das ganz vorne sitzt: »Hannaaaaaaah, Hannaaaaaaaaaaaah!« Und als sich Hannah umdreht und lächelt, ruft der Junge: »Komm bloß nicht her, bleib, wo du bist!«

 

24. Notizbuch

 

Habe mich gefragt, wo eigentlich meine Freunde hin sind, und als ich dann in einem Hauseingang stand, habe ich auf dem Klingelschild den Namen »Daumenlang« gelesen. Ja, dachte ich, das könnte ein neuer Freund werden.

 

25. Notizbuch

 

Der Traum des Bahnrestaurant-Mitarbeiters, den er kurz vor der Ankunft in Berlin einem Kollegen offenbart: det Beste is, eener säuft für zweehundert und zahlt dreihundert.

 

Ein Buch (auch dieses Notizbuch) in dem Moment, in dem man das Interesse daran verliert, einfach fallen lassen.

 

„Aber nur dieses eine Mal“ von Tobias Premper ist im März 2020 bei Steidl, Göttingen erschienen und kostet EUR 18,-

Beitragbild von noslifactory

Auf der Suche nach Uchronia – Von Zeit und Chemotherapie

Der gelbe Fleck auf dem Laken meines Bettes verursacht mir Übelkeit. Das Gelb löst ein Geruchsempfinden aus, das ich mir mit großer Wahrscheinlichkeit einbilde. Die Farbe erinnert mich an die träge glänzende Flüssigkeit, die zur Zeit manchmal von einem Beutel in mich hinein tropft, aber es muss der Überrest einer Mahlzeit sein, Currysauce von gestern vielleicht. Auf den weißen Bezügen ist alles deutlich sichtbar: jedes Haar, jeder Spritzer Blut, jeder Soßenfleck, Schweiß, Erbrochenes. Alles ist sofort zu erkennen. Auf der Decke, auf dem Betttuch, auf dem Kopfkissen entsteht in kleinen Flecken eine Chronologie der letzten Tage. Meine Mutter hat früher gescherzt, man könne auf meiner Kleidung die Speisekarte erkennen, ich kann meine Krankenhausakte auf dem Bettlaken lesen. Weiterlesen

148 Formen des Nichtseins

Auszug aus einem Romanprojekt von Slata Roschal

5.
Es war ein goldener Ohrring mit einem kleinen Brillanten, der irgendwo im Erdgeschoss in der Mensa sein musste, ich schrieb Anzeigen, klebte sie auf Pinnwände, schrieb in einem studentischen Forum, ging zur Information, ob jemand vielleicht einen goldenen Ohrring, den Brillanten sparte ich aus, abgegeben, die Frau wunderte sich und lächelte und ich schämte mich. Und einmal ein Ring, mit einem kleinen, ungemein teuren Rubin (ich hab schon immer gesagt, kauf nichts bei den deutschen Juwelieren, bestell bitte aus dem russischen Katalog, hier, und jetzt hast du es), er wurde mir zu groß und glitt einfach vom Finger, irgendwo zwischen dem 3 und dem 4 Gleis des Ostbahnhofs, in der Nähe des Getränkeautomaten, dort, wo abends Mäuse herausgelaufen kommen, nach Krümeln, vielleicht auch Ringen suchen, und sie in ihren Vorratskammern unterhalb des Getränkeautomaten verstecken. Weiterlesen

Randnotizen

Manchmal stößt man beim Scrollen durch die Timeline auf Texte, die den gewöhnlichen Strom aus Neuigkeiten, Selbstnarrativierungen und Sprachspielen weit hinter sich lassen und Statusmeldungen in Literatur verwandeln – Elisa Asevas Beiträge auf Facebook gehören zu diesem Genre. Wir freuen uns daher, dass wir Texte von Elisa Aseva in der Reihe 54stories präsentieren können.
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Klausur

Eine literarische Erzählung von Kamala Dubrovnik in der Reihe 54stories

Hier kann man den Text auch hören

 

Todmüde liege ich im Halbdunkel und hoffe, dass die Nervenenden meiner Klitoris vielleicht irgendwann auch meine Synapsen entspannen. Nach dem achten Versuch lasse ich den Vibrator lustlos zwischen den Beinen liegen. Bin kurz eingenickt, vielleicht für ’ne Stunde und jetzt beginnt zwischen meinen Lidern etwas zu kriechen. Ich schiebe sie auf wie die Lamellen einer Jalousie und sehe wie sich ein kleiner dunkler Fleck auf dem Bettlaken bewegt. Da ist eine! Drecksviech! Ich schlage zu und wische dann mit abgründig nach unten gezogenen Mundwinkeln den dunklen Schmierfleck vom Boden. Ich bin wirklich, wirklich müde. Eigentlich wollte ich, dass du vorbeikommst, bist wärmer als mein Bett und du vertreibst die unerträglich schlaflosen Naächte durch deine unerträglich nahe Gesellschaft. Ich ertrag dich eben nicht, das, was du sagst. Ich bin müde, ehrlich. Ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen sollte dir meine Welt zu erklären und vor allem – will ich nicht. Ich glaub, ich beende es. Ist einfach zu anstrengend dieser Diplomatiemarathon. Ein Griff zum Handy und bevor ich darüber nachdenken kann, tippe ich „macht feminismus einsam“ bei Google ein. Die ersten Ergebnisse lauten: 1. „Mein Feminismus hat mich beziehungsunfähig gemacht.“ 2. „Je feministischer desto unglücklicher.“ 3. „Diese Angst vor autarken Frauen nimmt bizarre Züge an.“ Wow. Warum kann da nicht stehen: 1. Der Feminismus stärkt Liebe auf Augenhöhe 2. Je feministischer, desto glücklicher 3. Mythos gelüftet. Männer haben gar keine Angst vor starken Frauen, sondern nur vor ihrem eigenen Versagen. Ach, Fuck jetzt fängt’s an zu jucken, eine hat mich erwischt. Ich werfe die Suchergebnisse aus dem Genderdungeon auf das gegenüberliegende Sofa und ganz langsam kriecht das Handy schüchtern blinkend unter meine Decke zurück. Meine Finger tippen auf dem Display herum und copy-pasten halbgare Floskeln aus den letzten Ichwilldichnichtmehrsehen-Situationen zusammen, die ihm hoffentlich verständlich machen, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Irgendwas mit „Lieber Tim“ und „passt nicht“, dann sowas wie „Distanz“ und „Alles Gute“. Gesendet.

Mein leeres Zimmer gähnt mich an und ich reiße meinen Mund weit auf und gähne zurück wie eine abgemagerte, stumme Löwin. Erschöpft und hechelnd liege ich im Schatten meiner Nachttischlampe, während ich gedanklich eine Rechnung an Tim adressiere – für emotionale Leistungen.
Ich will schlafen, ich will nicht mehr drüber reden. Wirklich nicht, ich kann einfach nicht mehr. Nein, ich hab doch gesagt ich bin müde… Mir fallen die geäderten Augen zu, Lider wie schwere Sandsäcke fallen staubig aufeinander. Und dann – kommt die Flut. Es fließt aus den Ecken und tropft von der Decke. Wellen von kleinen, dunkelbraunen Insekten schwappen an den Rand meiner Matratze, spülen über mich hinweg, decken mich zu wie ein dreckiges, braunes Laken, fließen wieder von mir herunter. Ein paar bleiben hängen, saugen sich an mir fest, dunkle Male auf meiner Haut.

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